Nabi Jeschajahu/Prophet Jesaja 9,5. Ein nachhallendes Kneipengespräch

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Jan 072023
 
Mitten im kalten Winter: der Natur-Park Schöneberger Südgelände

Es geschah eines Abends wie zufällig in der an gotischer Straße gelegenen Kneipe Heuberger, als ich gerade einige Hrrgttsbschßrl (wie der Schwabe die Maultaschen mit Fleischfüllung nennt) verspeiste, dass ich in ein Gespräch über einen Bibelvers hineingezogen wurde, der gerade zur jetzigen Weihnachtszeit immer wieder nachhallt, nachklingt, nachschwingt. Nabi Jeschajahu, wie er auf Hebräisch heißt, oder auch Prophet Jesaja, wie er bei den griechischsprachigen Juden der alten Welt und in ihrer Nachfolge bei den Christen der Nachwelt genannt wurde.

Versuchen wir, Licht in das Bedeutungsgefüge dieses für die Herausbildung des Weihnachtsfestes so wichtigen Verses zu werfen, ausgehend von der hebräischen Fassung, die zweifellos die älteste oder auch die sogenannte Urfassung darstellt!

In der hebräischen Bibel lesen wir:

הכִּי־יֶ֣לֶד יֻלַּד־לָ֗נוּ בֵּן נִתַּן־לָ֔נוּ וַתְּהִ֥י הַמִּשְׂרָ֖ה

שַׂר־שָׁלֹֽום׃עַל־שִׁכְמ֑וֹ וַיִּקְרָ֨א שְׁמ֜וֹ פֶּ֠לֶא יוֹעֵץ֙ אֵ֣ל גִּבּ֔וֹר אֲבִי־עַ֖ד

שַׂר־שָׁלֽוֹם:

So übersetzt der Rabbiner Ludwig Philippson diesen oben auf Hebräisch wiedergegebenen Vers des Nabi Jeschajahu 9,5 bzw. des Propheten Jesaja 9,5 (erstmals in Leipzig 1848 erschienen):

Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn gegeben uns, auf seiner Schulter ruht die Herrschaft und seinen Namen nennt man: Wunder, Berater, Gottesheld, beständiger Vater, Friedensfürst.

Dies ist die recht anders ausfallende deutsche Version der Bibel in gerechter Sprache (erstmals in Gütersloh 2006 erschienen):

Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Macht liegt auf seiner Schulter. Sein Rufname ist: ‚Wunder-Rat‘, ‚Gott-ist-stark‘, ‚Mein-Vater-und-meine-Mutter-auf-immer‘.

Und so wiederum lautet dieser Vers in der King James Version, hier wiedergegeben in der Revision durch Benjamin Bleynay von 1769:

For unto us a child is born, unto us a son is given: and the government shall be upon his shoulder: and his name shall be called Wonderful, Counsellor, The mighty God, The everlasting Father, The Prince of Peace.

Und so wiederum übersetzt die weltweit bis heute einflussreichste Bibelübersetzung überhaupt, nämlich die von griechischsprachigen Juden angefertigte Septuaginta diesen Vers:

ὅτι παιδίον ἐγεννήθη ἡμῖν, υἱὸς καὶ ἐδόθη ἡμῖν, οὗ ἡ ἀρχὴ ἐγενήθη ἐπὶ τοῦ ὤμου αὐτοῦ, καὶ καλεῖται τὸ ὄνομα αὐτοῦ Μεγάλης βουλῆς ἄγγελος· ἐγὼ γὰρ ἄξω εἰρήνην ἐπὶ τοὺς ἄρχοντας, εἰρήνην καὶ ὑγίειαν αὐτῷ.

Wiederzugeben wäre diese schon vor der Zeitenwende begonnene griechische Übersetzung in der textnahen Übersetzung des hier Schreibenden aus dem Griechischen etwa so:

Denn ein Kind ist geboren worden uns, und ein Sohn ist gegeben worden uns, dessen Herrschaft (oder auch Anfang?) auf seiner Schulter entstanden ist, und sein Name wird genannt Bote-großen-Rates; ich werde nämlich Frieden zu den Herrschenden treiben, Frieden und Gesundheit ihm (oder durch ihn oder mit ihm.)

Viele Fragen, viele Anfragen an die Sprachen der Bibel sind offen! Fortsetzung folgt.

Quellenangaben:

Hebräisch:

Yeshayahu – Isaiah – Chapter 9 – Tanakh Online – Torah – Bible (chabad.org)

Griechisch:

Lesen im Bibeltext :: bibelwissenschaft.de

Bibel in gerechter Sprache: Bibel in gerechter Sprache. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006

Deutsche Übersetzung des Rabbiners Philippson: Die Propheten (hebräisch-deutsch) in der Übersetzung von Rabbiner Ludwig Philippson. Revidiert und herausgegeben von Walter Homolka, Hanna Liss und Rüdiger Liwak. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 2016

King James Version:

Lesen im Bibeltext :: bibelwissenschaft.de

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Wie heißt du: Hansi, Johannes, Ἰωάννης, יֹוחָנָן, Yahya, يحيى, Ivan, Wanja…?

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Aug 292020
 

Ἰωάννης ἐστὶν ὄνομα αὐτοῦ. καὶ ἐθαύμασαν πάντες. „Sein Name ist Johannes. Und da gerieten alle in Verwunderung.“

So beendet der Evangelist Lukas die äußerst erstaunliche Geschichte der Namensfindung des nach christlichem Glauben letzten Propheten des alten Judentums, Johannes des Täufers. Beachtlich: Der Name wird dem jungen Juden beim Beschneidungsfest nicht durch den Vater, sondern durch seine Mutter Elisabet beigelegt. Sie ist es, die sich dem Wunsch der Verwandten und Nachbarn widersetzt und den vorgeschlagenen Vatersnamen Zacharias ablehnt. Sie ist es, die entgegen dem Drängen der Umstehenden NEIN sagt und anordnet: οὐχί, ἀλλὰ κληθήσεται Ἰωάννης. – „Nein, der wird Johannes heißen!“ Der seit längerem durch Sprachverlust gezeichnete Vater Zacharias stimmt zu – und dank seiner Zustimmung gewinnt er seine Sprechfähigkeit wieder. Und da gerieten alle in Verwunderung.

Die Vorbesichtigung der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin am Freitag, dem 21. August, spätnachmittags bot uns reichlich Anlass, über die gegenstrebigen Verwebungen des Judentums und Christentums nachzudenken. Verwebungen, die sehr tief gehen, die die Sprachgrenzen überschreiten, die enge Verwandtschaften und Nachbarschaften verbunden und zerrissen haben, oft auf schmerzhafte Weise.

Am Beginn der beeindruckenden neuen Dauerausstellung wird man aufgefordert, den eigenen Namen ins Hebräische „übersetzen“ zu lassen – ich gebe meinen Namen ein, und es erscheint mein deutscher Name in hebräischen Buchstaben transliteriert, wie man ihn heute in hebräischen Texten lesen kann: יוהנס

Ins Hebräische zurückübersetzt würde er anders lauten – nämlich   יֹוחָנָן / Jochanan, denn bekanntlich ist ja die griechische Namensform Johannes eine „Übersetzung“ aus dieser hebräischen Namensaussage, die in etwa bedeutet: „Gott tut immer wieder mal aus eigenem Wollen etwas Ungewöhnliches, etwas Großes, etwas Tolles! Gott ist gnädig.“

Der ungewöhnliche Akt der Rebellion der weiblichen Namensfindung – gegen den Mehrheitswillen der Nachbarn und Verwandten – verhalf diesem Namen in der gesamten christlichen Welt zu einer ungeheuren Karriere, denn in allen europäischen Sprachen, aber auch im arabisch-islamischen Kulturraum ist er ein geläufiger Vorname geworden. Im deutschen Mittelalter wurde er etwa jedem zweiten männlichen Deutschen beigelegt. Johann Sebastian Bach und Johann Wolfgang Goethe sind zwei berühmte Träger dieses Namens, denen ich in meinem eigenen Leben seit vielen Jahren einen überragenden Platz gleich hinter jenem jüdischen Propheten, dem Weggefährten, Taufspender, Verwandten und Schicksalsgenossen Jesu zuspreche.

Was liegt an einem Namen? Viel, manchmal alles! Der Cheftrainer des FC Bayern München, Hansi Flick – bürgerlich Hans-Dieter Flick – besteht darauf, dass er mit seinem seit Kindheit vertrauten Rufnamen angesprochen wird. Auch dieses „Hansi“ ist eine späte Verwandlung dieses erstaunlichen Namens Jochanan, der es nun bis auf den beifallumtosten Gipfel der europäischen Champions League gebracht hat. καὶ ἐθαύμασαν πάντες. Beim Triumph des Hansi Flick geriet die gesamte Weltfußballöffentlichkeit in Erstaunen, ja in Verzückung.

Die ungeheure Karriere dieses Namens Johannes geht also weiter. Er ist topaktuell. Und uraltes Erbe des Judentums.

Belege:
Nestle-Aland. Novum Testamentum graece. 28., revidierte Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2012, S. 181-182 (Lc 1,59-66). Übersetzung aus dem Griechischen durch Johannes Hampel

Christian Eichler: Trainer Flick und seine Bayern-Bande. Der Champions-League-Sieger. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.08.2020 (Online-Ausgabe)

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Dieser Ort. Heute. Ein Text und seine Leerstellen

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Dez 082019
 
Stephen Shore: Mar Saba, das Sabas-Kloster in der Wüste Juda. Digitaler Fotoausdruck. Gesehen in der Fotoausstellung המקום זה / Dieser Ort, Jüdisches Museum Berlin. Aufnahme des Verfassers vom 28.11.2019

Stellt euch vor, der folgende Text wäre in dem obenstehenden Kloster gefunden worden. Ein unvollständiger, vielfach lückenhaft überlieferter Text wäre aus einer fernen Zeit in eure Hände gelangt. Ergänzt die fehlenden Textstellen! Was entdeckt ihr? Was legt ihr in den Text hinein? Schreibt den Text weiter!

„[…] Es ging jetzt etwas in ihrem Körper vor. Die Brüste füllten sich, durch die Adern an Armen und Beinen rollte ein dickerer Blutstrom, sie spürte ein unbestimmtes Drängen gegen Blase und Darm. Ihr schmaler Körper wurde nach innen tief, empfindlich, lebendig, fremd, eins nach dem anderen; ein Kind lag licht und lächelnd in ihrem Arm; von ihren Schultern strahlte das Goldkleid der Go[…] zu Boden, und die Gemeinde sang. Es war außer ihr, der H[…] […]en! […]“

Robert Musil: Clarissens geheimnisvolle Kräfte und Aufgaben, in: ders., Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Erstes und Zweites Buch, 4. Aufl., Januar 2018, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, S. 435-445, hier: S. 436

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Worte, die klingen wie fließendes Öl, das sanft über die Schultern rinnt!

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Nov 162019
 

Gutes dankbares Nachsummen und Nachsinnen über die Sprache der Psalmen, die mich seit meiner Kindheit begleitet! Psalmen sind Gedanken, Gefühle, Reden, Bekenntnisse, Gespräche mit dem abwesenden Übersteigenden in poetisch gegliederter Gestalt, verfasst in hebräischer Sprache über Jahrhunderte im alten Israel, hundertfach aufgenommen, weitergesponnen, übersetzt in alle alten und modernen Mundarten. Ich vergleiche die Psalmen gerne mit fließendem Öl, das sanft über die Schultern rinnt.

Die Psalmen 12, 90 und 133 stehen morgen auf dem Programm unserer kleinen französischen Abendandacht.

Hier der Beginn des Psalms 133 in moderner französischer Fassung:

C’est comme l’huile précieuse qui, répandue sur la tête,
Descend sur la barbe, sur la barbe d’Aaron,
Qui descend sur le bord de ses vêtements.

„Es ist wie wertvolles Öl, das, ausgeschüttet über dem Kopf, den Bart hinabrinnt, den Bart Aarons,
Das über den Saum seiner Gewänder hinabläuft […]“

In einer älteren französischen Fassung, die Claude Goudimel 1564 vertont hat, lautet dieser Beginn des Psalms 133:

Cela me fait de l’onguent souvenir
Tant precieux, dont perfumer je voy
Aaron, le Prestre de la Loy.

Hier fällt auf, dass die beglückende Erfahrung des Übersteigenden als Erinnerung an etwas Fließend-Flüchtiges gefasst wird – an etwas Abwesendes!

Sonntag, 17. November 2019, 18 Uhr:
Abendandacht. Mit geistlicher Musik aus Frankreich. Texte und Improvisationen
Claude Goudimel: Genfer Psalter (1565)
Jehan Alain: Messe modale (1923)
Johannes Hampel, Violine
Nadia Boldakowa, Violine
Ursula Hillermann, Viola
Albrecht Kleinlein, Violoncello
Frauenchor – Männerchor
Kathrin Freyburg, Leitung
Joachim Krätschell, Lesungen
Christian Hagitte, Improvisationen
Hochmeisterkirche, Westfälische Straße 70A, 10709 Berlin-Halensee

Bild: feuchte Holzbohlen, alte Farbreste, Schrauben, alter Sportschuh der Größe 47,5, Konzertplakat. Aufgenommen heute im Park vor dem EUREF-Campus


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Du sollst einem Blinden keinen Anstoß in den Weg legen!

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Mai 202019
 
Siehe! Eine Hummel saugt Nektar aus einer Rainfarn-Phacelie. 19.05.2019, 13:21 Uhr, Feldrain an der Allee am Königsgraben von Luckenwalde nach Jänickendorf

13לֹֽא־תַעֲשֹׁ֥ק אֶת־רֵֽעֲךָ֖ וְלֹ֣א תִגְזֹ֑ל לֹֽא־תָלִ֞ין פְּעֻלַּ֥ת שָׂכִ֛יר אִתְּךָ֖ עַד־בֹּֽקֶר׃

14לֹא־תְקַלֵּ֣ל חֵרֵ֔שׁ וְלִפְנֵ֣י עִוֵּ֔ר לֹ֥א תִתֵּ֖ן מִכְשֹׁ֑ל וְיָרֵ֥אתָ מֵּאֱלֹהֶ֖יךָ אֲנִ֥י יְהוָֽה׃

15לֹא־תַעֲשׂ֥וּ עָ֨וֶל֙ בַּמִּשְׁפָּ֔ט לֹא־תִשָּׂ֣א פְנֵי־דָ֔ל וְלֹ֥א תֶהְדַּ֖ר פְּנֵ֣י גָדֹ֑ול בְּצֶ֖דֶק תִּשְׁפֹּ֥ט עֲמִיתֶֽךָ׃

οὐκ ἀδικήσεις τὸν πλησίον καὶ οὐχ ἁρπάσεις, καὶ οὐ μὴ κοιμηθήσεται ὁ μισθὸς τοῦ μισθωτοῦ παρὰ σοὶ ἕως πρωί. οὐ κακῶς ἐρεῖς κωφὸν καὶ ἀπέναντι τυφλοῦ οὐ προσθήσεις σκάνδαλον καὶ φοβηθήσῃ κύριον τὸν θεόν σου· ἐγώ εἰμι κύριος ὁ θεὸς ὑμῶν.

Du sollst deinem Nächsten nichts rauben; du sollst den Lohn des Taglöhners nicht über Nacht bei dir bleiben lassen, bis morgen. Du sollst keinem Tauben fluchen, keinem Blinden Anstoß in den Weg legen, sondern dich vor deinem Gotte fürchten; Ich, der Ewige!“

Du sollst einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen!“ Beim dankbaren Nachsinnen über den gestrigen Tag fiel mir soeben dieser Vers aus dem 3. Buch Mose ein. Eine blinde Frau suchte mühsam tastend den Weg zur Toilette im Regionalzug von Berlin-Südkreuz nach Luckenwalde. Wie beschwerlich war es doch für sie, die komplizierten Türverriegelungen und die Entriegelung zu bedienen. Eine Kette an Missverständnissen und Missgeschicken! Wir halfen, so gut wir konnten. Doch es gelang uns nur unzureichend. Die Blinde ließ sich nicht beirren und meisterte die Klippen in Gestalt einer halbautomatischen Tür mit bewundernswerter Gleichmut und unbeirrbarer Würde.

Wie unendlich wertvoll, weise, beherzigenswert sind doch die mosaischen Vorschriften über die Heiligung des Alltags! Sie können auch heute noch, im Jahr 2019, zuverlässig ein gedeihliches Miteinander in Regionalbahnen, Interregios und ICEs, auf Bahnhöfen, Bürgersteigen und Fußgängerzonen, in Parklets und Parkhäusern erleichtern. Wie anrührend, wie bedachtsam und feinfühlig findet Mendelssohn den richtigen Ton in seiner Übersetzung der Tora! So findet die Hummel den Nektar am Grund der Blüte der Phacelie!

Hier sind die Verse 13-19 aus dem Buch Levitikus, Kap. 19, in Hebräisch (Tora), Griechisch (Septuaginta) und schließlich in der deutschen Übersetzung durch Moses Mendelssohn wiedergegeben.

Übersetzung Mendelssohns hier zitiert nach: Artikel „Mendelssohn“, in: Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Unveränderter Nachdruck der 3. vermehrten und verbesserten Auflage von 1936, erschienen im Philo-Verlag Berlin. Jüdischer Verlag im Athenäum-Verlag, Königstein/Ts. 1982, Spalte 467-468

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„Continual state of being on the way to…“ Zu Joh 1,1

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Jul 052018
 


Zu den erregendsten geistigen Erfahrungen überhaupt gehört es für mich, das Zusammenfließen, das streitige Miteinander-Ringen jüdischen und griechischen Sprachdenkens nachzuzeichnen. Ich könnte ein ganzes imaginäres Kupferstichkabinett mit Blättern aus der Geschichte dieses jahrtausendealten Versuches anhäufen! Einen herausgehobenen Platz nähme in diesem Kabinett zweifellos das vierte Evangelium ein.

Über etwa drei Jahrhunderte hinweg führten griechisches und jüdisches Denken eine besonders intensive Gesprächsbeziehung, und in genau diesen Jahrhunderten bildete sich das nachbiblische Judentum heraus; es entstanden aber auch auch die vier Evangelien, unter denen wiederum dem vierten, dem Johannesevangelium eine einzigartige Scharnierfunktion zukommt.

An einer intensiven Einbettung des Prologs zum Johannesevangelium in den Kontext der zeitgenössischen Midraschim versucht sich der in London und Melbourne lehrende Andrew Benjamin.

Ein genaues Nachlesen pagan-griechischer und geistlich-hebräischer Quellen führt ihn zu dem Schluss, dass insbesondere der erste berühmte einleitende Vers Joh 1,1 – wie mehrfach von dem hier Schreibenden behauptet – in der Tat vorrangig als Gerichtetsein, als Unterwegssein zu deuten und zu übersetzen ist. Eine dynamische, spannungsvolle, nicht ausschöpfbare Beziehung, die jeden dogmatischen Einhegungs- und Festlegungsversuch unterläuft! Benjamin fasst dies in Anlehnung an Franz Rosenzweig in die Wendung: „A continual state of being on the way“.

Beleg:
Andrew Benjamin: Hermeneutics and Judaic Thought, in: The Routledge Companion to Hermeneutics. Edited by Jeff Malpas and Hans-Helmuth Gander. Routledge, Oxon, New York 2015, S. 692-706, hier besonders S. 694

Bild:
Surferin auf stürmischer See. Antoniusaltar. Klosterkirche St. Anna im Lehel

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Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος: יְהִ֣י אֹ֑ור – Am Anfang war das Wort: Es werde Licht

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Jan 132018
 

„Ich habe mir immer gedacht, wäre die alttestamentliche Behauptung Im Anfang war das Wort buchstäblich wahr, dann müßte dieses Wort ein gesungenes Wort gewesen sein… Können Sie sich vorstellen, daß Gott „Es werde Licht“ so ganz einfach vor sich hingesagt hat, so wie man Kaffee bestellt? Selbst in der Originalsprache: יְהִ֣י אֹ֑ור? Ich hatte stets die Phantasievorstellung, daß Gott die beiden flammenden Worte Y’HI-O-O-OR gesungen haben muß. Das mag der tatsächliche Schöpfungsakt gewesen sein. Musik mochte Licht hervorgebracht haben.“

Einer der großen Musik-Erzieher des 20. Jahrhunderts, Leonard Bernstein, ist zugleich auch ein bedeutender Anreger, ein Versöhner und Verbinder der beiden Bundesbücher der christlichen Religion, nämlich der hebräischen Bibel und des christlichen Neuen Testaments.

Das Johannes-Evangelium, der entscheidende, der krönende Abschluss der 27 neutestamentlichen Schriften beginnt bekanntlich mit dem Wort: Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, d.i. zu deutsch: „Im Anfang war das Wort und das Wort war zu Gott.“

Bernstein – dieser Name klingt so typisch deutsch, so typisch aschkenasisch, so typisch jüdisch – schreibt nun diesen Beginn des Johannesevangeliums ohne weitere Erklärung dem Alten Testament zu, also der hebräischen Bibel. Eine kühne Tat, die der amerikanische Dirigent mitteleuropäisch-jüdischer Herkunft hier vollbringt! Er denkt, nein er singt den Anfang der hebräischen Bibel und den Beginn des vierten Evangeliums zusammen. Eine ungeahnte Harmonie erklingt, eine Harmonie des jüdischen und des christlichen Bundesgedankens! Die Alte Bundesbuchsammlung (das AT) und die Neue Bundesbuchsammlung (das NT) werden unlösbar ineinandergeflochten.

Wir dürfen in der Nachfolge Leonard Bernsteins etwas Ähnliches wagen – die Harmonie der hebräischen und der griechischen Bibel, indem wir folgenden zweisprachigen Spruch niederschreiben:

Am Anfang war des gesungene Wort: Es werde Licht!

In der hebräisch-griechischen Fassung mochte der Verfasser des vierten Evangeliums tatsächlich so etwas gesummt und gesungen haben wie dies hier:

Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος יְהִ֣י אֹ֑ור

Und dieses Jahr möge das Jahr des Gesanges der Versöhnung werden!

Zitat:
Leonard Bernstein: Worte wie Musik. Herausgegeben und eingeleitet von Harald Schützeichel. Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien 1992, S. 47

Bild:
Blick von der Krim-Brücke auf den Fluss Moskwa, Bezirk Chamovniki, Moskau, aufgenommen vom hier Schreibenden am 05. Januar 2018

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Leuchtet, ihr strahlenden Nachtkerzen des Gesanges!

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Sep 302017
 

Höre! Hannah Arendt, die 1906 im niedersächsischen Linden geborene große deutsche Philosophin sagt:

Im Deutschen gerade liegt das Volkslied aller Dichtung zugrunde, wenn auch in der eigentlich großen Dichtung so transformiert, daß es kaum noch kenntlich ist. So klingt die Stimme der Dienstbotengesänge durch viele der schönsten deutschen Gedichte.“

Höre! Unwillkürlich kommen dir diese Worte dieser großen jüdischen Philosophin in den Sinn! Denn soeben erreicht dich eine Einladung zu einem verheißungsvollen Konzert, das die 1975 in New York verstorbene große US-amerikanische Philosophin Arendt sicherlich besucht hätte, wenn sie denn noch lebte und zufällig gerade in Berlin weilte:

 

Samstag,  30. September 2017 – 19 Uhr
Gemeindesaal der Jesus-Christus-Kirche Berlin-Dahlem, Thielallee 1-3
Freier Eintritt

Deutsche Volkslieder in Melodie und Geschichte

Projekt-Chor Roland Bader
Mitglieder des früheren Chors der St. Hedwigs-Kathedrale, des Karl-Forster-Chores und Gäste
Leitung und Moderation: Roland Bader
Am Flügel Michael Cohen-Weißert

Die Texte der Lieder liegen offen vor mir. Ich nippe kurz an den Worten wie an einem schäumenden Kelche:

Brüder reicht die Hand zum Bunde Ännchen von Tharau ist’s die mir gefällt rede Mädchen allzu liebes das mir in die Brust die kühle hat geschleudert mit dem Blicke diese wilden Glutgefühle wie sanft sich die Quelle durch die Wiese windet nicht wandle mein Licht dort außen im Flurbereich ich wollt meine Lieb ergösse sich all in ein einzig Wort abends wenn ich schlafen geh in einem kühlen Grunde da steht ein Mühlenrad

Das ist ja jene bunte, abendlich strahlende, wilde und betörende Klanglandschaft, welche einst in deutscher Sprache erklang und erscholl, welche einst Hannah Arendt, Heinrich Heine, der Sänger und Schubert-Herausgeber Max Friedlaender, der Zeichner und Komponist Felix Mendelssohn, der Philosoph Walter Benjamin so beredt priesen und rühmten.  Kehrt doch wieder alle alle! Ihr sollt auferstehen und leben!

Wer kennt die Namen dieser Dichterinnen und Dichter heute noch? Kennst du sie wohl? Adelheid Wette, Wilhelm Ganzhorn, Heinrich Heine, Georg Friedrich Daumer, Adalbert von Chamisso, Fanny Hensel, Johann Gottfried Hientzsch, Joseph von Eichendorff?

Nun, nach dem einen ist immerhin noch (noch!) eine Universität in Düsseldorf benannt, nach einem anderen immerhin noch (noch!) eine Gasse am voll durchkommerzialisierten Potsdamer Platz in Berlin, noch nach einer anderen eine Grundschule in Kreuzberg, und nach einem anderen ein voll im Gentrifizierungswahn lebender Kiez in Kreuzberg.

Aber wer kennt diese Lieder noch? Wer singt sie noch? Seid ihr alle verweht, vergessen, verschollen? Nein! Kehrt doch wieder!

 

Bild: Romantisches Abendlicht im Natur-Park Schöneberger Südgelände, 29.09.2017, 18.30 Uhr

Zitat Hannah Arendts hier wiedergegeben nach:
Beatrix Brockman: Scherben im Bachsand. Der Nachlass der Lyrikerin Eva Strittmatter kommt in die Akademie der Künste nach Berlin. In: Ars pro toto. Das Magazin der Kulturstiftung der Länder, 3-2015, S. 25-29, hier S. 26

 

 

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Apr 052017
 

Gutes, dankbares, weidliches Nachblättern im Sündenbock, den uns René Girard geschenkt hat!  Dieser Autor ist einer der wenigen Kulturwissenschaftler unserer Jahre, die es wirklich auf sich genommen haben, die Evangelien genauestens anzuhören, sie wieder und wieder zu lesen, im griechischen Original ebenso wie in den verschiedenen modernen Sprachen. Er empfiehlt sogar, mithilfe des Sich-Versenkens in den Wortlaut der Evangelien andere Sprachen von innen zu erkunden, wenn er sagt:

Quand on connait les Évangiles, leur traduction dans une lange inconnue est un excellent moyen de pénétrer, à peu de frais, dans l’intimité de cette langue.

Zentral ist bei diesem Bemühen für Girard die Passionserzählung, insbesondere in der Fassung des Johannes, des vierten Evangelisten; ihr widmet er zwei ganze Kapitel seines Büchleins. Die Verurteilung und Hinrichtung Jesu deutet Girard als den Widerhall, die Überbietung, die Zusammenfassung und die Überwindung aller bisherigen Opferungen.

Hart in der Nähe des weltberühmten Mahnmals, mit dem deutsche Erinnerungskultur sich ein Denkmal gesetzt hat, fügen wir noch einige unvorgreifliche Gedanken an, die sich aus einigen Gesprächen mit Holocaustforscherinnen und -forschern meiner Bekanntschaft ergeben haben:

Das übliche, in der judengriechischen Bibel, der Septuaginta hunderte Male vorkommende Wort für die ganzkörperlichen Opfer ist der Holokaust bzw. der Holocaust (meist im Plural ὁλοκαυτώματα / holokautomata verwendet). Wer hätte das gedacht, dass die prophetischen Bücher der jüdisch-griechischen Bibel so oft von den Holokausts sprechen und den ständigen, zunehmend trivialisierten Bezug auf die Holocausts wieder und wieder verwerfen und zurückweisen!

Hier nur ein Beispiel für viele mögliche andere, entnommen  aus Buch Amos 5:

21μεμίσηκα ἀπῶσμαι ἑορτὰς ὑμῶν καὶ οὐ μὴ ὀσφρανθῶ ἐν ταῖς πανηγύρεσιν ὑμῶν·

22διότι καὶ ἐὰν ἐνέγκητέ μοι ὁλοκαυτώματα καὶ θυσίας ὑμῶν, οὐ προσδέξομαι αὐτά, καὶ σωτηρίου ἐπιφανείας ὑμῶν οὐκ ἐπιβλέψομαι.

Wir halten fest: Mehrfach hat er sich in den Schriften des Judentums über den Mund der Propheten (etwa Amos, etwa Jeremias) beschwert, dass die Menschen ihm mit ihren Holocausts in den Ohren lägen. Ich mag eure Holokausts nicht mehr, ich kann sie nicht mehr riechen, spricht er.

Nach diesem Tod Jesu, so die Deutung, die bereits der Brief an die Hebräer vorgeformt hatte, werden vollends nicht nur die ritualisierten Tieropfer entbehrlich, vielmehr wird jedes weitere ganzkörperliche Opfer überflüssig; kein einzelner muss mehr sterben, damit das Volk leben kann. Das Leiden als solches um eines höheren Zieles willen ist nichts, womit man Gott beeindrucken könnte.

All die Opfer, mit denen die Menschen Gott in den Ohren liegen, werden nach Golgatha überflüssig.  Das Geschehen am Golgatha ist das letzthinnige Opfer; danach wird der Opfergedanke entkräftet; kein Mensch soll mehr geopfert werden, kein Mensch soll mehr sterben für ein größeres Ziel; Gott will keine ganzkörperlichen Opfer mehr! Wir werden vom Gedanken der Opferung befreit oder erlöst, wobei Befreiung und Erlösung häufig als Synonyme auftreten.

Nur noch die Erinnerung an das letzthinnige Opfer, der ritualisierte, symbolische Nachvollzug, der bleibt, in der Sprache, in den Sprachen, im Wort, in den Künsten, im Gespräch.

René Girard: Le Bouc émissaire. Grasset, Paris 1982; darin insbesondere: Les maîtres mots de la passion évangélique, S. 151-167; Qu’un seul homme meure…, S. 167-186. Zitat hier: S. 227

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O flaumenleichtes Glück der Frühe

 Augustinus, Europäisches Lesebuch, Griechisches, Hebraica  Kommentare deaktiviert für O flaumenleichtes Glück der Frühe
Feb 022017
 

Vorsichtig ritzte ich heute Linien in das noch weitgehend unbeschriebene Blatt undeutlicher Geschichten. Früh am Morgen ist es. Das Eis trägt am besten in dieser Frühe. Es, das Eis glaubt alles, was ich mit meinen Kufen hineinritze. Klarheit, Wahrheit, Vertrauen, Glauben. Licht! Andere schrieben andere Geschichten als ich! Die – sind zu glauben…

Hier noch zum Abend ein eingeritzter Gedanke:

Sommes-nous des Juifs? Sommes-nous des Grecs? Nous vivons dans la difference entre le Juif et le Grec, qui est peut-être l’unité de ce qu’on appelle l’histoire. So schreibt es Jacques Derrida in L’écriture et la différence (Editions du Seuil, Paris 1967, S. 227).

Dieses Zweierlei von Judentum und Griechentum, dieses Kelajim, wie es auf Hebräisch der Talmud nennt, wird kaum irgendwo deutlicher eingetragen ins Eis der Biographien als bei Augustinus. Er hat dieses unverbundene, vielleicht nie aufzulösende Zweierlei – stellvertretend dafür seien Platon und Moses genannt – in aller Schärfe ausgetragen, und zwar als Römer, als lateinischer, als westlicher Denker. Von daher die alles überragende Bedeutung des Dritten, der Drei. De trinitate ad unitatem, über die Dreiheit zur Einheit, das war für Augustinus offensichtlich die Vermittlung, der Ausweg aus dem schroffen Gegeneinander von Judentum und Griechentum. Und so – aus dieser innigen Verbindung der zwei unverbundenen, entstand ein drittes – das lateinische, das abendländische Christentum – übrigens ganz im Gegensatz zum griechisch-slawischen, östlichen, zum morgenländischen Christentum. „Trinitarische Strukturen des vorthematischen Selbstbewusstseins“, so nennt dies heute zu recht Notger Slecnzka, und er findet sie allenthalben auf den Wegen der westlichen Denker und Geschichtenerzähler, bis hin zu Kant, Hegel, Freud, Max Scheler.

 Posted by at 23:43