Vom „Ecce homo“ zum „Homo sacer“. Denkwege Giorgio Agambens

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Mai 282019
 

„Nuda vita“. Detail aus dem Gemälde „Abstieg Christi in die Vorhölle“ von Andrea Mantegna. Eitempera und Gold auf Holz. Z.Zt. in der Ausstellung „Mantegna und Bellini“, Gemäldegalerie, Staatliche Museen Berlin

Vor einigen Tagen habe ich mir Giorgio Agambens Buch „Homo sacer“ in der überarbeiteten italienischen Fassung aus dem Jahr 2018 (Verlag Quodlibet, Macerata) beschafft. Gute, mutig vorgetragene Geschichten und Ansichten zu einigen zentralen Begriffspaarungen der europäischen Geistesgeschichte, wie etwa: Macht und Recht, Leben und Politik, Lebensform und Volk!

Erster auffälliger Befund für den Leser, der viel liest oder zu lesen gezwungen ist, der also wissenschaftliche Bücher von hinten, vom Literaturverzeichnis und vom Register her liest: aus dem Register der Namen und aus erster kursorischer Lektüre geht hervor, dass Jesus von Nazaret und der Philosoph Aristoteles die wichtigsten Bezugsgrößen für Agamben sein dürften, wobei Jesus, der europäische Inbegriff des homo sacer, sogar noch etwas häufiger genannt wird, mehr Platz einnimmt und wichtiger zu sein scheint als Aristoteles, den Agamben antikem und mittelalterlichem Brauch folgend gelegentlich auch schlicht il filosofo nennt. Jesus von Nazaret (Gesù di Nazaret, wie er italienisch genannt wird) scheint mir hier bei Agamben wichtiger jedenfalls als der sich weltweit so großer Beliebtheit erfreuende Walter Benjamin, der in Deutschland nicht mehr ganz so freudebringende Martin Heidegger, der ungebrochen allseits beliebte Michel Foucault … e tutti quanti. 

Auch der sehr beredte, sehr stumme Bildteil, bestehend aus 16 Farbtafeln, weist eindeutig in diese Richtung, zeigt er doch nicht weniger als 10 Mal die Hetoimasia (gr.ἑτοιμασία), also die Zurüstung des leeren Thrones Gottes mit dem Kreuz Jesu Christi, ein Bildmotiv, das an Offb 22,1-4 anschließt.

(wird fortgesetzt)

Bibliographische Angaben:
Giorgio Agamben. Homo sacer. Edizione integrale. 1995-2015. Quodlibet: Macerata 2018; hierin besonders: Tafelteil (nach S. 576); Riferimenti bibliografici, S. 1283-1341; Indice dei nomi, S. 1345-1360, hier bsd. S. 1346 und S. 1351

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Du sollst einem Blinden keinen Anstoß in den Weg legen!

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Mai 202019
 
Siehe! Eine Hummel saugt Nektar aus einer Rainfarn-Phacelie. 19.05.2019, 13:21 Uhr, Feldrain an der Allee am Königsgraben von Luckenwalde nach Jänickendorf

13לֹֽא־תַעֲשֹׁ֥ק אֶת־רֵֽעֲךָ֖ וְלֹ֣א תִגְזֹ֑ל לֹֽא־תָלִ֞ין פְּעֻלַּ֥ת שָׂכִ֛יר אִתְּךָ֖ עַד־בֹּֽקֶר׃

14לֹא־תְקַלֵּ֣ל חֵרֵ֔שׁ וְלִפְנֵ֣י עִוֵּ֔ר לֹ֥א תִתֵּ֖ן מִכְשֹׁ֑ל וְיָרֵ֥אתָ מֵּאֱלֹהֶ֖יךָ אֲנִ֥י יְהוָֽה׃

15לֹא־תַעֲשׂ֥וּ עָ֨וֶל֙ בַּמִּשְׁפָּ֔ט לֹא־תִשָּׂ֣א פְנֵי־דָ֔ל וְלֹ֥א תֶהְדַּ֖ר פְּנֵ֣י גָדֹ֑ול בְּצֶ֖דֶק תִּשְׁפֹּ֥ט עֲמִיתֶֽךָ׃

οὐκ ἀδικήσεις τὸν πλησίον καὶ οὐχ ἁρπάσεις, καὶ οὐ μὴ κοιμηθήσεται ὁ μισθὸς τοῦ μισθωτοῦ παρὰ σοὶ ἕως πρωί. οὐ κακῶς ἐρεῖς κωφὸν καὶ ἀπέναντι τυφλοῦ οὐ προσθήσεις σκάνδαλον καὶ φοβηθήσῃ κύριον τὸν θεόν σου· ἐγώ εἰμι κύριος ὁ θεὸς ὑμῶν.

Du sollst deinem Nächsten nichts rauben; du sollst den Lohn des Taglöhners nicht über Nacht bei dir bleiben lassen, bis morgen. Du sollst keinem Tauben fluchen, keinem Blinden Anstoß in den Weg legen, sondern dich vor deinem Gotte fürchten; Ich, der Ewige!“

Du sollst einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen!“ Beim dankbaren Nachsinnen über den gestrigen Tag fiel mir soeben dieser Vers aus dem 3. Buch Mose ein. Eine blinde Frau suchte mühsam tastend den Weg zur Toilette im Regionalzug von Berlin-Südkreuz nach Luckenwalde. Wie beschwerlich war es doch für sie, die komplizierten Türverriegelungen und die Entriegelung zu bedienen. Eine Kette an Missverständnissen und Missgeschicken! Wir halfen, so gut wir konnten. Doch es gelang uns nur unzureichend. Die Blinde ließ sich nicht beirren und meisterte die Klippen in Gestalt einer halbautomatischen Tür mit bewundernswerter Gleichmut und unbeirrbarer Würde.

Wie unendlich wertvoll, weise, beherzigenswert sind doch die mosaischen Vorschriften über die Heiligung des Alltags! Sie können auch heute noch, im Jahr 2019, zuverlässig ein gedeihliches Miteinander in Regionalbahnen, Interregios und ICEs, auf Bahnhöfen, Bürgersteigen und Fußgängerzonen, in Parklets und Parkhäusern erleichtern. Wie anrührend, wie bedachtsam und feinfühlig findet Mendelssohn den richtigen Ton in seiner Übersetzung der Tora! So findet die Hummel den Nektar am Grund der Blüte der Phacelie!

Hier sind die Verse 13-19 aus dem Buch Levitikus, Kap. 19, in Hebräisch (Tora), Griechisch (Septuaginta) und schließlich in der deutschen Übersetzung durch Moses Mendelssohn wiedergegeben.

Übersetzung Mendelssohns hier zitiert nach: Artikel „Mendelssohn“, in: Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Unveränderter Nachdruck der 3. vermehrten und verbesserten Auflage von 1936, erschienen im Philo-Verlag Berlin. Jüdischer Verlag im Athenäum-Verlag, Königstein/Ts. 1982, Spalte 467-468

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Vielfach gestaffelte Räume, wimmelndes Leben im Nuthe-Urstromtal

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Mai 192019
 

Ab von dem längs der Gottower Chaussee verlaufenden Radweg, etwa 2 km von Gottow und von Luckenwalde entfernt, lockte uns heute der Waldweg in den urwaldartigen Baumbestand des Nuthe-Urstromtales. Wir bogen ab in den Waldlehrpfad, der zum Eiserbach führt. An der Kranichwiese stießen wir auf einen übermannsgroßen Ameisenbau. Die Waldameisen wimmelten zu Tausenden auf dem mächtigen Haufen umher. Das geschärfte Ohr des Waldgängers vernahm ein feines Rascheln und Knistern, ein Knacken und Zirpen in vielen Frequenzen aus dem Haufen heraus.

Der Ameisenbau an der Kranichwiese

Der Wald in diesem Abschnitt des Nuthe-Urstromtales erinnert in wesentlichen Zügen an einen Urwald, wie er sich früher über die Jahrhunderte ohne tiefgreifende Eingriffe der Menschen an Bächen und Flüssen herausgebildet hat und jetzt allmählich durch gezielte Renaturierung wieder zurückbildet. Kennzeichen der naturnahen, urwaldähnlichen Pflanzenverbundgesellschaft im Nuthetal sind: ein erstaunlicher Artenreichtum, hoch aufwachsende Laubhölzer, insbesondere Esche, Buche, Erle, einige wenige Eichen und Birken. Keine Nadelbäume! Immer wieder kreuz und quer liegend alte, hochaufgeschossene Baumriesen, die durch Windbruch, Schädlingsbefall, Pilze oder altersbedingte Schwäche umgestürzt worden sind und dadurch eine Lichtung für nachwachsende Gehölz schaffen: raschwachsende Büsche, Moose, Gräser. Das Leben schießt unverwüstlich wieder auf, das Leben im Wald überlebt!

„Verkammerte“ Lebensräume: man blickt immer wieder in Abschnitte der Pflanzengesellschaft hinein, die eine Art Binnen-Räumlichkeit schaffen, mit eigenem Licht, eigenen Farben, eigenen Geräuschen. So insbesondere auch am Eiserbach selbst, einem nicht begradigten schmalen Bach, der hier zu sehen ist:

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Bald sind wir aber Gesang

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Mai 112019
 

Com’è immediatamente evidente quando si fa o si ascolta musica, il canto celebra o lamenta innanzitutto una impossibilità di dire, l’impossibilità – dolorosa o gioiosa, innica o elegiaca – di accedere all’evento di parola che costituisce gli uomini come umani.

Als besten Einstieg in das vielfach verzweigte Denken Giorgio Agambens möchte ich heute, an diesem strahlend reinen, erfrischend kühlen Maimorgen, seine tastend-lauschenden, versuchend-anfänglichen Suchbewegungen in dem schmalen Bändchen „Was ist Philosophie?“ empfehlen. Hier tritt, so meine ich, eine jugendliche Neugier hervor, ein mühselig errungener Verzicht auf das bewältigende Denken, das mithilfe eines begrifflichen Gerüstes versuchte, „der Dinge ein für allemal Herr zu werden“.

Die 13 Seiten des hier angezeigten, 2016 in den Marken (und „die Marken“, das sind bekanntlich, wörtlich genommen, „die Grenzgebiete“) erschienenen Versuches über die „Geburt des eigentlich Menschlichen aus dem Geist des Gesanges“ sind kurz, mehr noch: sie sind kurzweilig. Sie dauern nicht länger als die 13 Strophen eines elegischen Liedes.

Zitatnachweis: Giorgio Agamben: Appendice. La musica suprema. Musica e politica. In: ders., Che cos’è la filosofia? Quodlibet, Macerata 2016, S. 133-146, hier S. 135

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„Oh, diese Zedern, die kenne ich doch…

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Mai 062019
 

… denn sind nicht sie es, von denen es in den Psalmen heißt,

… daß die Bewme des Herrn voller Saft strotzen,
die Zedern, die Er gepflanzt hat, sie recken sich in den Himmel!“

Und hat nicht aus diesem Holz von den schneebedeckten Bergen Libanons Salomon den Jerusalemer Tempel gebaut?

Die Pracht der kunstvoll geschnitzten Zedern überraschte und überwältigte uns gestern beim Besuch in den „Gärten der Welt“ in den fernen östlichen Gefilden Berlins, in Marzahn.

Das Besondere an diesem Orientalischen Garten, der ursprünglich Islamischer Garten heißen sollte und aus politischen Gründen dann 2004 als Orientalischer Garten eröffnet wurde, ist, dass er nicht nur das Abbild eines muslimischen Andachtsraums darstellt, sondern tatsächlich ein echter Andachtsraum ist.

Um jeden „Orientalismus“ – also den westlichen, außengesteuerten Blick auf den Orient – zu vermeiden, wurde 2002 der Garten- und Landschaftsarchitekt Kamel Louafi mit der Planung des Gartenhofes (Riyâd) beauftragt.

Hier in diesem Riyâd fließen die vier Urströme, von denen die Bibel bereits berichtet, zu einem Kreuz des Lebens zusammen. Das Ergebnis des Zusammenfließens ist – ein Andachtsraum, nein: ein Andachtstraum, wie man ihn als Mensch des Jahres 2019 in Marzahn nicht sofort vermuten würde. Ein Abglanz höherer Sphären! Ein großes Glück!

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Besuch der Bachstelze

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Mai 012019
 

Emsig wippt der Schwanz der hochbeinigen Bachstelze, die sich mutig voranschreitend unserem Strandkorb am Wannsee nähert. In taktmäßig geregeltem Schreiten sucht sie die Uferzone vor unseren Füßen nach Fliegen, Larven, Köcherfliegen und anderen Dipteren, nach kleineren Schnecken und nach Arthropoden ab. Unermüdlich, unverdrossen, fleißig, unablässig, unausgesetzt hackt sie und pickt sie im angefeuchteten Sand nach der für uns unsichtbaren winzigen Beute. Völlig vertieft in ihr Hacken und Gucken scheint sie. Der Wannsee hat sich nach heftigem Wellengang mittlerweile beruhigt und leckt nur noch am flachen Sandstrand entlang. Die Sonne sinkt. Der Tag der Arbeit neigt sich. Es war ein guter Tag für die Bachstelze.

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