Die Schrift ein Knaul

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Jan 132024
 

„Dasjenige, was von meinen Bemühungen im Drucke erschienen, sind nur Einzelnheiten, die auf einem Lebensboden wurzelten und wuchsen, wo Thun und Lernen, Reden und Schreiben unablässig wirkend einen schwer zu entwirrenden Knaul bildeten.“

Eine höchst merkwürdige Selbstaussage Goethes ist dies, die mir seit einigen Wochen nachschleicht und beschäftigt hält! Hatten wir uns nicht angewöhnt, in Goethe einen Zögling und Meister der Form zu erblicken? Wie konnte er so spät, nämlich im Jahr 1816, rückblickend auf sein eigenes Leben jede Form, jedes literarische Gestalten als vorläufigen, als tastenden Versuch des Ordnungsschaffens in der Wirrnis erklären?

Ist es nicht so: Allzu oft erwarten wir vom gedruckten Wort, vom wohlgeformten Werk eines Dichters oder Schriftstellers eine Botschaft über das, was das Leben ist und meint, was der Sinn ist oder sein könnte: und doch werden wir immer wieder enttäuscht! Ja, der Dichter selbst wird immer wieder enttäuscht. Die Schrift ist nichts Endgültiges: sie ist etwas Abgeleitetes, etwas aus dem unklaren Erfahren und Erleben buchstäblich Herausgesponnenes. Sie ist also kein Abbild dessen, was ist oder sein könnte, sondern ein Versuch, sich einen „Reim auf das Ungereimte“ zu machen. Die Literatur, die Schrift ist nichts Letztes, ist nicht der Weisheit letzter Schluss und wird es nie sein.

Möglicherweise waren es solche Gedanken, die Goethe im letzten Drittel seines Lebens wieder und wieder beschäftigten, die ihn dazu führten, sich selbst, sein ganzes vielbändiges Werk als einen Versuch zu sehen, Licht ins Dunkel zu werfen, Unerklärliches zu erklären und dann wieder im Dunklen, im Unerklärlichen stehen zu lassen – oder besser: verschwinden zu lassen.

Zitat:

Johann Wolfgang Goethe: Summarische Jahresfolge Goethe’scher Schriften. Über die Ausgabe der Goethe’schen Werke. Morgenblatt 1816. Nr. 101. Zitiert nach: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 42. Band, Erste Abtheilung. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1904, Seite 81

Foto:

Blick vom Goetheturm am Sachsenhäuser Landwehrweg auf die Stadt Frankfurt. Foto mit Skizzenbuch des Verfassers, 20. Oktober 2023

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„Drum greife zu, Wanderer!“ Goethe in Mittenwald

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Aug 282022
 

„Goethe auf dem Weg nach Italien“. Fassadenmalerei, Goethestraße, Mittenwald

Deutlich älter, wohl an die 60 Jahre alt, wirkt Goethe (geb. am 28.08.1749) hier auf dieser Fassade als er damals am 7. September 1786 war, eben erst der drückenden Enge des Hofes entkommen.

Tatsächlich war er bei seinem Eintreffen in Mittenwald erst 37 Jahre alt, also eher so alt, wie das Mannerleit, das da eben so eindeutig mit mit dem Madl anbandeln tut. Auf dieser in der heute vorherrschenden Al-secco-Technik ausgeführten Lüftlmalerei beugt sich also der nach Weimar zurückgekehrte, statuarisch auf den Stock gestützte Alte vom Frauenplan noch einmal über seine schäumende Mannesjugend. Ein abschiednehmende, fast entsagende Geste liegt in diesem Bild, bekräftigt durch den auf die alte römische Meilensäule zeigenden Finger:

„Wandrer, gedenke, dass die Zeit vergeht, sie wird verrinnen,
drum greife herzhaft zu, dann wirst du Lust und Freud gewinnen.“

Wir hielten kurz inne in diesen Betrachtungen in Mittenwald am 18. August 2022 bei einer Führung mit der bestens vorbereiteten, munter plaudernden Regine Ronge. Dank an Goethe, Dank an den Maler, Dank an Regine!

Beleg zum Datum von Goethes Aufenthalt in Mittenwald:

Johann Wolfgang von Goethe: „Reise-Tagebuch erstes Stück. von Carlsbad auf den Brenner in Tyrol. 1786.“ In: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 78, Weimar 1887, S. 145-170, hier S. 146

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Du bist der erste nicht!

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Okt 062021
 
Blick vom Steubenplatz auf ein Brachfeld, Potsdamer Stadtschloss, Nikolaikirche, Wohngebäude mit Mittelbrandenburgischer Sparkasse, Bauzaun vor Bauplatz, 4 Baukräne. Aufnahme vom 4. Oktober 2021

Unaufhörlich bauet die Zeit, reißt wieder ein,
Was sie gebaut mit mächtigem Arm – es gilt ihr als nichtig.
Was du im großen entstehen hast sehn, nicht sinnst du es aus.
Merke dir, Wanderer, das und tue im kleinen desgleichen!

Diese Verse kamen mir unwillkürlich in den Sinn, als ich vorgestern mittags in Gedanken versonnen über den Steubenplatz meinen Weg zurück zu meinem Dienstort suchte. Wer mochte diese Hexameter wohl gedrechselt haben? Mir war es so, als kämen sie von weit weit her.

„Merke dir Wanderer, das …“, richtig: Goethe hatte diese Wendung in einem seiner Venezianischen Epigramme gefunden. Und in der Tat, es gibt kaum eine italienischer geplante, italienischer gebaute Stadt in Deutschland als es Potsdam vor seiner Zerstörung im zweiten Weltkrieg war. Das hier nicht zu sehende Museum Barberini, überhaupt der Alte Markt vermag heute wieder einen Eindruck davon zu geben.

Doch das Ganze drumherum, diese Einsicht in das notwendigerweise Unabgeschlossene jedes städtebaulichen Strebens und Wollens? Städte sind teils geplant, teils wuchern sie weiter, ergreifen Brachfelder, teils werden sie zerstört… Endgültiges ist nicht. Diese Erkenntnisse – ich war der erste nicht, der sie hatte – flossen schließlich zusammen in diese vier harmlosen Zeilen. So, und da stehen sie nun hier. Sie sind einfach so gekommen – gekommen um zu bleiben.

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Gesang zu Goethes Geburtstag

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Aug 282021
 
Am Ursprung der Isar, 3. August 2021

„Seht den Felsenquell,
Freudehell,
Wie ein Sternenblick;
Über Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.“

Wie ein Sternenblick so hell
Wardst du geboren,
Genährt durch gute Geister,
Guter Geist Goethe,
Am heutigen Tage des Jahrs 1749.

Deiner gedacht ich
Dankbar
Bei unsrer Fahrt zu den Isarquellen
Am 3. August dieses Jahres 2021.
Deiner gedenk ich
Auch heute.

Die Politik verspricht „sichere Jobs“,
„Sichere Arbeit“,
„Die gut ist auch fürs Klima“.

Ströme du weiter im Zeitenstrom,
Im ruhigen Fluten der Zeit,

Tanze, Geist Goethes,
Jünglingsfrisch
Aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder!

Zitatnachweise:

Goethe, Mahomets Gesang. Zitiert nach: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abteilung, 2. Band. Weimar 1888. Fotomechanischer Nachdruck im Deutschen Taschenbuch Verlag, München 1987, S. 53

„Sichere Jobs“: Versprechen auf Wahlplakat der CDU, Berlin, Luisenstraße/Invalidenstraße, 28.08.2021
„Sichere Arbeit“: Versprechen auf Wahlplakat der SPD, Berlin, Luisenstraße/Invalidenstraße, 28.08.2021
„die gut ist auch fürs Klima“: Versprechen auf Wahlplakat der Grünen, Berlin, Luisenstraße/Invalidenstraße, 28.08.2021

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An Goethes Todestag

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Mrz 222020
 
„Reiß mich, ein Feuermeer mir im schäumenden Aug, in der Hölle nächtliches Tor“. Am Alten St.-Matthäus-Kirchhof, Monumentenstraße, Berlin-Schöneberg

Am 22. März 1832 starb Goethe, also heute vor 188 Jahren. Anlass, sich seine Vorstellung des eigenen Sterbens vor Augen zu führen, wie er es im Alter von 25 Jahren in seinem Gedicht „An Schwager Kronos“ zu Papier brachte. Dort heißt es am Ende:

Ab denn frischer hinab
Sieh die Sonne sinkt!
Eh sie sinkt, eh mich faßt
Greisen im Moore Nebelduft,
Entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlockernde Gebein.

Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich geblendeten Taumelnden
In der Hölle nächtliches Tor.

Töne Schwager dein Horn,
Raßle den schallenden Trab
Daß der Orkus vernehme: ein Fürst kommt,
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.

Mir kamen die Verse gestern – ich summte sie in Schuberts unsterblicher Liedvertonung – in den Sinn, als mich mein stählernes Rösslein durch die Monumentenstraße führte, hart an dem Kirchhof vorbei, in dem die Gebrüder Grimm ruhen. Die Sonne versank, ein glühender Feuerball, über der Langenscheidtbrücke, der Tag stand gestern und steht auch heute und morgen im Zeichen und im Bann des königlichen Sensenmannes, der, mit einer neuartigen Corona geschmückt, erbarmungslos seine Opfer weltweit dahinmäht. Die Welt erzittert, die Welt erbebt, die Welt sieht sich einer – wie sie glaubt – nie dagewesenen Herausforderung gegenüber: dem unvermutet hereinbrechenden massenhaften Sterben ohne Sinn, ohne Rettung, ohne Trost.

Demgegenüber speist sich Goethes Umgang mit dem eigenen Sterben als äußerst tatkräftig, selbstbewusst, kühn, trotzig. Dem Tod wohnt in diesen Versen nichts Schreckliches inne! So unausweichlich er sein mag – denn die Reise geht ja abwärts, immer abwärts – das Ich wird sich, vorlaufend zum Tode, seiner Gestaltungsmacht bewusst, und in diesem Bewusstsein setzt es sich den Göttern gleich, die es dort in der Unterwelt als ihresgleichen ehrend empfangen sollen. Der Tod wird nicht erlitten, er wird erlebt, gestaltet, begrüßt und schließlich entthront!

Goethe scheint zu fragen: „Krankheit, Seuche, Tod, Hölle – wo ist euer Schrecken? Ihr seid nur Bilder, ihr seid — “

Schubert hat diese Depotenzierung der Sterblichkeit durch seine Musik noch in vollem Feuerglanz verstärkt und überhöht.

Anmerkung: Die Wiedergabe des Gedichtschlusses erfolgt hier buchstaben-, zeilen- und zeichengetreu in der Fassung der “Ersten Weimarer Gedichtsammlung”, welche Goethe eigenhändig im Jahr 1778 schrieb (Handschrift H2).

Zitiert nach:
Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos. In der Postchaise d 10 Oktbr 1774. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 201-203

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Trennen, sondern, ordnen. Räum auf in deinem Leben. Mit Goethe und Inga Scheidt

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Dez 272019
 
Johann Wolfgang von Goethe: Lebendmaske. Gips, schellackiert. Mastermodell gefertigt vor 1950. Staatliche Museen zu Berlin, Gipsformerei (Original am Gesicht Goethes gefertigt im Oktober 1807 durch Carl Gottlieb Weißer). Fotografische Aufnahme gefertigt am 26.12.2019 durch den hier schreibenden Vf. in der Ausstellung „Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei“ in der James-Simon-Galerie Berlin

Zu den nützlichen, gefälligen, aber leider auch notwendigen Geschenken, die uns an Heiligabend überreicht wurden, zählen wir „Das magische Aufräumbuch“ von Inga Scheidt. Durch fleißiges Lesen dieser Hinweise, die sich zwanglos in den Fächern „Loslassen, Ordnung schaffen, durchatmen“ rubrizieren lassen, hoffen wir gleichsam magisch, wie im Handumdrehen eine noch bessere Ordnung in Schreibstube, Küche, Schlafgemach und Keller herbeizuführen! „Richten Sie sich ein Regal mit Ordnern für die wichtigsten Unterlagen ein“, lautet eine der durchaus beherzigenswerten Einsichten der Autorin.

Neben dem Lesen des magischen Aufräumbuches fanden wir gestern zum ersten Mal auch Zeit, die neue James-Simon-Galerie ausführlich zu erkunden, und zwar nicht als Durchgang oder Übergang zu den fünf verschiedenen Museen der Museumsinsel, sondern um ihrer selbst willen! Ein derartiger Besuch lohnt sich! Uns überraschte zunächst der freie herrliche Ausblick, den man vom Kolonnadengang aus auf den Lustgarten und den Kupfergraben genießt. Hier der Beleg:

Hervorheben möchten wir heute die Ausstellung „Nah am Leben“, in welcher die Gipsformerei ihr gesamtes Handwerk und ihre Kunstfertigkeit an ausgewählten Beispielen zeigt. Besonders tat es mir gestern unter allen ausgestellten Stücken die Lebendmaske Goethes an, die der Alte vom Frauenplan im Jahr 1807 von seinem Gesicht abnehmen ließ. Es waren genau die Monate, in denen Goethe seine Wahlverwandtschaften verfasste! Und siehe da, auch hier spricht er das Thema des Ordnens, Aufräumens und Loslassens an. Er schreibt im vierten Kapitel des ersten Teils über den reichen Baron Eduard:

Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen, seine Papiere nach Fächern abzutheilen. Das, was er mit Andern abzuthun hatte, was bloß von ihm selbst abhieng, es war nicht geschieden, so wie er auch Geschäfte und Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam von einander absonderte. Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemühung übernahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag.

Sie errichteten auf dem Flügel des Hauptmanns eine Repositur für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene, schafften alle Dokumente, Papiere, Nachrichten aus verschiedenen Behältnissen, Kammern, Schränken und Kisten herbei, und auf das Geschwindeste war der Wust in eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubricirt in bezeichneten Fächern. Was man wünschte, ward vollständiger gefunden, als man gehofft hatte. Hierbei gieng ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag über, ja einen Theil der Nacht nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard bisher immer unzufrieden gewesen war.

Ich kenne ihn nicht mehr, sagte Eduard zu seinem Freund, wie tätig und brauchbar der Mensch ist. Das macht, versetzte der Hauptmann, wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat, und so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stört, vermag er gar nichts.

Ein Vergleich zwischen den beiden Autoren Scheidt und Goethe ergibt: Scheidt setzt beim Bewußtseinswandel im einzelnen Menschen an. Sie verlangt vom Aufräumenden „einen Entschluss, den entscheidenden Klick im Kopf“. In Scheidts Weltsicht soll das Ich gewissermaßen endlich Herr im eigenen Hause werden; die äußere Ordnung spiegelt dann eine innere seelische Gestimmtheit, spiegelt Einklang mit sich und der Welt wider.

Goethe dagegen erzählt zu Beginn der Wahlverwandtschaften die Herstellung der Ordnung als Gemeinschaftsleistung mehrerer tätiger Individuen; nur im Zusammenwirken gelingt wie im Handumdrehen die wohltuende, entlastende, zeitsparende Ordnung, die neben dem Seelenfrieden auch Muße und Gelassenheit für das gemeinsame Erleben des Schönen schafft. Der einzelne Mensch allein schafft es nicht!

Wer hat nun recht, Goethe oder Scheidt? Die Entscheidung hierüber ist nicht abstrakt zu treffen. Sie ruht letztlich beim tätigen Erleben, beim Handeln und Anpacken, bei der Veränderung! Ein unbestreitbares Moment des Wahren steckt zweifellos in beiden Ansätzen, das erst im verändernden Zugriff auf Welt und Umwelt seine Wirklichkeit erweisen wird.

Quellenangaben:
Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. in: Goethes Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in zehn Bänden. Fünfter Band. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1885, S. 316-499, hier S. 334

Inga Scheidt: Das magische Aufräumbuch. Loslassen, Ordnung schaffen, durchatmen. Naumann & Göbel Köln, ohne Jahresangabe, hier bsd. S. 16 und S. 91

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Ich aber will dem Kaukasus zu!

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Sep 042018
 

Ungläubiges Erstaunen ergriff mich jeden Tag von neuem, wenn ich den Blick auf den 5033 m hohen Berg Kasbek schweifen ließ. „Ich kann das nicht glauben, dass dieser herrlich schimmernde Berg, den ganzjährig eine schneebedeckte Spitze krönt, nun Tag um Tag zum Greifen nahe liegt! Hier im Kaukasus glaubte die Alte Welt das Bußgebirge des Prometheus zu erkennen. An diesen steil abschüssigen Hängen schmiedeten Kratos und Bia zusammen mit Hephaistos den gefallenen Titanen an!“

Und dann des Morgens, wenn ich hinaustrat aus dem Alpenhaus in den jugendlich erfrischten dämmrigen Morgen, dann stellten sich beim Blick auf die vor mir liegende Hauptkette des Großen Kaukasus wie von leichter Götterhand gerufen die folgenden Verse aus dem Faust ein:

Hinaufgeschaut! – Der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde,
Sie dürfen früh des ewigen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.

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An Gevatter Prometheus

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Sep 022018
 

 

 

 

 

Hier am Kasbek muss es gewesen sein
Hinter Wolkendunst saßest du
Auf Bergeshöhn spottend und höhnend
Des im Donner grollenden Alten
Den sie Vater nannten
Der dich nie ernst genommen
Der dein Aufbauwerk auftrumpfend wegwischte:
„Das ist keine Welt
Das ist bestenfalls eine Märklin-Modelleisenbahn
Lächerlich, stümperhaft, kw!“, so seine Worte
Das haben alle gehört!

Zank, Hader, Widerworte ohne Ende
Bis es endlich zu spät ward
Ihr verloret beide die Geduld
Die Verhandlung gegen Dich war eine einzige Farce
Die Zeugen wider Dich bestochen
Der Richter war befangen in Liebeshändeln
Das Urteil – 30 000 Jahre – deutlich zu hart

Er schickte dir den Adler
Du schicktest ihm deine Reden, deinen Hohn
„Übe Knabengleich
Der Disteln köpft
An Eichen dich und Bergeshöhn!“

Du warfest grimmige Blicke hinauf
Er schwieg, er verbarg sich in Wolken
Er äffte Karl Marx nach,
Dem er zunehmend glich im Profil
Er zertrümmerte ein paar der Hütten
Die du gebaut
Und kippte danach seinen schäumenden Pokal auf Dich
Rülpste, wurde unflätig, ausfällig
Sobald nur Dein Name fiel

Viele von uns Sterblichen fielen vom Glauben ab
Dies damals miterleben zu müssen
War die härteste Versuchung
Wer jetzt noch an den Wolkensammler glaubte
Der wurde zum Eiferer
Der radikalisierte sich
Fing an die bunte Flockenblume auszurupfen
Centauria triumfettii heißt sie heute
Die Alpen-Distel – cardus defloratus –
Früher eine der zierlichsten Maiden
Verlor damals ihre Unschuld
Beweis: Ihr lateinischer Name heute

Nein es war nicht schön damals
Es war ein Gemetzel der Seelen
Eine Verhackstückung der schönen Welt
Die doch unsere gemeinsame Welt war

Doch liegt das Ganze nun 6000 Jahre zurück
6000 Jahre in denen die Erinnerung
Und das Vergessen vieles beschönigen konnten
Selbst Schüler in der Sekundarstufe II
Werden heut mit diesem schlimmsten Unglück konfrontiert
Das bis dahin  geschehen war
Schlimmeres sollte folgen
Das wissen wir

Von allem dem
Was damals geschah
Schwebt nur noch ein Erinnern um uns
Die Szenerie hat sich gelichtet
Man könnte dieses Bild
Des Kasbek oberhalb von Stepanzminda
Aufgenommen am späten Nachmittag des 20.08.2018
Auf Bergeshöhn sogar schön nennen
Wenn man nicht wüsste
Dass Dir noch 24000 Jahre Buße verbleiben
VIERUNDZWANZIGTAUSEND
Und keines weniger
Für dich!

 

 

 

 

 

 

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Rede zum Goethes Tag.

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Aug 292018
 

Brussel, 28 augustus 2018

Goethe, mijn lieve Goethe, het is ons een waar genoegen u in de hoofdstaad van Europa to mogen verwelkomen, und ich erlaube mir, ohne Umstände ins Du und in dein geliebtes Deutsch überzuwechseln. Ich feiere dich heut an deinem Geburtstag mit besonderer Freude hier auf dem Grooten Markt, den ich vor Jahr und Tag zuerst durch die große Eingangsszene aus deinem Egmont kennenlernte. Sie spielt genau hier, auf der Gran Place, wo wir uns, deiner dankbar denkend, versammelt haben.

Beethovens Egmont-Ouvertüre – wir danken dem Concertgebouw Orkest für seinen unentgeltlich geleisteten musikalischen Beitrag! – ist soeben verklungen, ihr beide, du und Beethoven, erblicktet im unbedingten Freiheitswillen der Niederländer, den Egmont so widerwillig-freiwillig und doch wirksam in Fleisch und Blut verkörpert,  ein Vorbild für Freiheitswillen, Gemeinsinn und Tüchtigkeit auch in deutschen Landen! Möchte doch der Gedanke der Freiheit, des Bürgersinns, der Tüchtigkeit auch im heutigen Europa wieder erwachen. Ich sage dies gerne, gerade hier in der Hoofstadt van Europa.

Ich weiß noch, wie ich dich kennenlernte als Bub aus deinen  Gedichten, wie sehr ich mir wünschte dein Freund zu werden, wie ängstlich ich versuchte, dich einmal anzusprechen. Noch verstand ich dich nur halb, aber das wußt ich doch schon, daß du mich ein Leben lang würdest begleiten sollen, und bis jetzt bist du nicht gewichen von meiner Seite, aus meinem Innern. Und dafür dank ich dir.

Hören wir doch nach Beethovens Musik auch einmal in deine Musik hinein, in deine Musik aus Worten! Tönen! Gesten! Lassen wir doch unseren geachteten acteur  *** die erste Fassung des 1775 verfassten, deines seither vielfach abgedruckten Gedichtes „Im Herbst 1775“ vortragen:

Fetter grüne du Laub
Am Rebengeländer
Hier mein Fenster herauf
Gedrängter quillet
Zwillingsbeeren, und reifet
Schneller und glänzend voller
Euch brütet der Mutter Sonne
Scheideblick, euch umsäuselt
Des holden Himmels
Fruchtende Fülle.
Euch kühlet des Monds
Freundlicher Zauberhauch
Und euch betauen, Ach!
Aus diesen Augen
Der ewig belebenden Liebe
Vollschwellende Tränen.

O das ist schön! Das ergreift uns – auch wenn wir es nicht in jedem Sinne begreifen. Und müssen wir es in jedem Sinne begreifen? Nein! Wir müssen weder deinen Egmont noch Beethovens Egmont-Ouvertüre noch auch das fette grüne, dein Fenster heraufquellende Laub in jedem Sinne begreifen.

Wir hören zu! Wir greifen zu! Wir denken nicht daran, was das uns sagen will. Wir denken dein!  Mijn lieve Goethe, wir danken dir!

Zitiert nach:
Im Herbst 1775. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 174-175

Vgl. auch Goethes Rede „Zum Shäkespears Tag.“ vom 14. Oktober 1771:
https://de.wikisource.org/wiki/Zum_Schäkespears_Tag

 

 

 

 

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Und durch’s Auge schleicht die Kühle sänftigend in’s Herz hinein

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Aug 152018
 

Heiß ist es dieser Tage in ganz Europa gewesen, heiß war es auch in Villnöß, in Ridnaun, in Gröden, in all diesen Tälern  im lieblichen Südtirol, wo wir zwei Wochen mit Wandern, Schauen, Plaudern, Staunen, Singen und Geigen verbrachten! Wenn  wir dann ermüdet von langen Touren über hale Gupfe wieder in unserem Bauernhof voller strotzend vollhängender Apfelbäume eintrafen, dann war es da immer heiß, so heiß, dass fast nur noch aus Fanny Hensels Lied „Dämmrung senkte sich von oben“ Kühlung zu erreichen war! Summend die Klänge dieses Liedes erwartete ich dann den Abend. Es half mir oft, wenn auch nicht immer!

Hier zunächst der Text aus den Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten, wie ihn Karl Eibl 1998 in seiner Gesamtausgabe der Gedichte bietet:

 

Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt in’s Ungewisse
Nebel schleichen in die Höh;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Wiederspiegelnd ruht der See.

Nun im östlichen Bereiche
Ahnd‘ ich Mondenglanz und Glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Luna’s Zauberschein,
Und durch’s Auge schleicht die Kühle
Sänftigend in’s Herz hinein.

Was macht die Komponistin Fanny Hensel mit diesen rätselhaft schillernden Versen? Mein Ohr sagt mir: Sie macht nichts damit, sie hört in sie hinein, sie scheint sie nur auf sich wirken zu lassen. Das Lied – nur scheinbar einfach hingesetzt mit seiner chromatisch abwärts schreitenden, seiner abgeschatteten Melodie, seinen gebrochenen Akkorden in der Begleitung, in Wahrheit  ein kunstvoll gespiegeltes Halbes, in dem Goethes Verse sich als Ganzes zitternd widerspiegeln – wirkt selber wie das, was es darstellt: eine glatte, spiegelnde Fläche, in der fast unmerkliche Schiebungen, Regungen verzittern, hinstreichen, schleichen, vibrierende Erregungen, ein liebliches dunkles Tal, eine farbenprächtige Düsternis… das ist unvergleichlich, das ist einzigartig, das hat verwandelnde Kraft!

Zitiert nach:
Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten.  In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1800-1832. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 695-699, hier S. 698 [Nr. VIII]

Bild:

Fernes Wetterleuchten am Abend im Eisacktal, hinter Brixen, August 2018

 

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An Schwager Kronos: Freude, Goethe, Musik, Singen

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Okt 082017
 

Schöneberg, d 7 Oktbr 2017. Geselliges, gutes Musizieren im kleinen Kreis guter Menschen! Ich wage mich, auf ausdrückliches Bitten, am Klavier meiner Mutter selig sitzend, gelegentlich aufspringend, erstmals an den Vortrag von Schuberts An Schwager Kronos, freilich nicht im originalen d-moll, sondern in c-moll, wobei ich die Klavierbegleitung eher andeute als getreulich ausführe. Was für ein hochmodernes Gedicht hat Goethe hier geschrieben, hart gefügt, sprunghaft, kraftvoll rasselnd, zwischendrin zärtlich-behutsam innehaltend! Und Schubert drängt das noch einmal deutlich über Goethe hinauslangend ins Tiefste und Höchste hinein. Größte Erschütterung. Glück und Dankbarkeit am Abend.

 

Nachstehend der Text der ältesten überlieferten Fassung aus dem Jahr 1778 in Goethes Handschrift. Schubert hat allerdings den deutlich geglätteten Text der späteren Ausgaben verwendet.

 

AN SCHWAGER KRONOS

In der Postchaise d 10 Oktbr 1774

Spude dich Kronos
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Haudern
Frisch, den holpernden
Stock, Wurzeln, Steine den Trott
Rasch in’s Leben hinein!

Nun, schon wieder?
Den eratmenden Schritt
Mühsam Berg hinauf.
Auf denn! nicht träge denn!
Strebend und hoffend an.

Weit hoch herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein
Vom Gebürg zum Gebürg
Über der ewige Geist
Ewigen Lebens ahndevoll.

Seitwärts des Überdachs Schatten
Zieht dich an
Und der Frischung verheißende Blick
Auf der Schwelle des Mädgens da.
Labe dich – mir auch Mädgen
Diesen schäumenden Trunk
Und den freundlichen Gesundheits Blick.

Ab dann frischer hinab
Sieh die Sonne sinkt!
Eh sie sinkt, eh mich faßt
Greisen im Moore Nebelduft,
Entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlockernde Gebein.

Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich Geblendeten, Taumelnden,
In der Hölle nächtliches Tor

Töne Schwager dein Horn
Raßle den schallenden Trab
Daß der Orkus vernehme: ein Fürst kommt,
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.

Die Wiedergabe des Gedichtes erfolgt hier buchstaben-, zeilen- und zeichengetreu in der Fassung der „Ersten Weimarer Gedichtsammlung“, welche Goethe eigenhändig im Jahr 1778 schrieb (Handschrift H2).

Zitiert nach:
Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos. In der Postchaise d 10 Oktbr 1774. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 201-203

Bild: Goethes Arbeitszimmer, Weimar. Im Spiegel Goethes: der hier Schreibende

 

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„… und wen würdest Du wählen, mein liebes Kind?“

 Bundestagswahlen, Goethe, Soziale Marktwirtschaft, Wagenknecht  Kommentare deaktiviert für „… und wen würdest Du wählen, mein liebes Kind?“
Sep 222017
 

Der rheinhessische Hausfreund erzählt:

Einige fröhliche Bürgerinnen und Bürger saßen einmal in ausgelassener Heiterkeit am Vorabend von Goethes Geburtstag zusammen in einem Weingarten und pichelten so manchen süffigen Tropfen.  Natürlich wurden auch die anstehenden Bundestagswahlen erörtert. Wen sollte man wählen? Die Auswahl war so riesig! Die Qual der Wahl, das war der richtige Ausdruck dafür!

Der eine Zecher, einer der älteren Herren, brach eine Lanze für Sahra Wagenknecht: „Wagenknecht! Die hat einen Stein bei mir im Brett, denn sie schätzt und verehrt Goethe. Sie hat Kant, Marx und den Faust II gelesen und beherzigt; sie wendet die Erkenntnisse Goethes in ihrer politischen Praxis an. Sie kennt und schätzt Begriff und Wesen des Ordoliberalismus der Freiburger Schule. Sie kennt Rüstow und Röpke sogar! Hab ich doch einmal einen Artikel aus ihrer Feder in der FAZ über die betrügerische Papiergeldwirtschaft im Faust II gelesen, die sie mit der EZB-Politik vergleicht!“

Gelächter, Staunen! Stimmte das wirklich? Ging es da mit rechten Dingen zu? Was tischte der Zecher da auf? Und schon rezitierte der alte Zecher aus dem Gedächtnis in leicht singendem Tonfall:

Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt,
Ist so bequem, man weiß doch, was man hat;
Man braucht nicht erst zu markten noch zu tauschen,
Kann sich nach Lust in Lieb und Wein berauschen.
Will man Metall: ein Wechsler ist bereit,
Und fehlt es da, so gräbt man eine Zeit.
Pokal und Kette wird verauktioniert,
Und das Papier, sogleich amortisiert,
Beschämt den Zweifler, der uns frech verhöhnt.
Man will nicht anders, ist daran gewöhnt.
So bleibt von nun an allen Kaiserlanden
An Kleinod, Gold, Papier genug vorhanden.

Gelächter, Applaus, Schulterklopfen!

So ging es weiter, jede Zecherin und jeder Zecher durfte sein oder ihr Loblied auf eine der zahlreichen guten Kandidatinnen oder Parteien anstimmen.

Schließlich fragten sie den einzigen komplett Nüchternen am Tisch, ein neunjähriges Kind: „… und wen würdest du wählen, liebes Kind?“

Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort des Jungen: „Die SPD natürlich! Die schenkt mir Schokolade und manchmal sogar einen roten Luftballon!“

Das lobt der hessische Hausfreund, beweist es doch die alte Weisheit: Das Hemd ist näher als der Rock. Schokolade macht Kinder froh, und ein Geschenk zur rechten Zeit bewirkt mehr als tausend gute Worte.

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Goethe unplugged. Zum 28. August 2017

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Aug 282017
 

Ansprache am Rheinhessischen Weinbrunnen auf dem Rüdesheimer Platz. An Goethes Geburtstag

Goethes Geburtstag ist heute! Wir ehren heute das Andenken dieses größten Wandrers, dieses besten Begleiters und Reisegefährten, den die deutsche Literatur je erlebt hat, und wir brechen damit ein Bröckchen von dieser Ehre für uns selbst ab.

Goethe unplugged, so möchte ich meine erlesenen Abenteuer mit dem unbekannten, dem weniger gerühmten Goethe einführen; und dabei denke ich insbesondere an die Aufzeichnungen des Kanzlers Friedrich von Müller, der häufig vertrauliche Unterredungen mit Goethe pflegte und gleich anschließend ungefiltert Protokolle darüber führte, ohne sie doch, wie dies etwa Eckermann getan, noch erneut zur Gegenprobe vorzulegen. Goethe erscheint hier bereits mitten in dem großen, furchtbaren  Zerwürfnis mit der deutschen Gesellschaft, das sich bis heute fortgesetzt hat. Er benennt die Missachtung, ja den Haß, den ihm viele Frauen und Männer in Deutschland aus Unkenntnis, Bequemlichkeit oder Missgunst entgegenbringen.

Eine weitere, weniger bekannte Seite Goethes ist seine Ablehnung des nationalen Überschwangs, des romantischen Taumels, die im Zuge der antinapoleonischen Kriege die deutsche akademische Jugend erfasst hatte. Auch den entstehenden Sozialismus der Saint-Simonisten lehnte er ab.  Und schließlich widerstrebte ihm jeder gewaltsame utopische Zugriff auf die bestehenden Verhältnisse, jedes selbstgewisse Schwärmertum, das etwa unsere 68er Bewegung  prägte, die eine offenbar unersättliche Gier nach Diktaturen und Gewaltherrschern mitschlepppte.  In seinen Venezianischen Eprigrammen geißelt er die Selbstgerechtigkeit der selbsternannten Revolutionäre:

Jeglichen Schwärmer schlagt mir an’s Kreuz im dreißigsten Jahre;
Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogne der Schelm.

Die Gespräche mit Eckermann wiederum – eins der besten Bücher, die Goethe uns vermacht hat – beweisen, dass Goethe die politische Landschaft der europäischen Staaten mit wachem, nie nachlassendem Interesse verfolgte. Es unterliegt keinem Zweifel und muss wohl nicht eigens erwähnt werden, dass Goethe die Verbindung aus Nationalismus, Sozialismus und Rassismus, die im deutschen Nationalsozialismus und im sowjetischen Bolschewismus so furchtbar gewütet hat, aufs schärfste abgelehnt hätte. Die Deutschen sind Goethes Grundeinsichten in all jenen Jahren mehrheitlich nicht gefolgt. Zu ihrem, zu unserem  Schaden und zum Schaden der ganzen Welt!

Und gerade bei der vielbeschworenen Integration, bei der in Europa so qualvoll unfruchtbaren Migrationsdiskussion hätte Goethe, der Wanderer zwischen allen Welten, zwischen Antike und Moderne, zwischen Ost und West, zwischen Islam und Christentum, ein kräftiges Wörtlein mitzureden, wenn man ihn denn nur ließe. Wenn man ihm denn in Deutschland nur ein Ohr liehe! Wenn man doch wenigstens die Kinder und die Jugendlichen Schritt für Schritt heranführte an diesen reichen Schatz an Bildern, Geschichten und Versen, die Goethe uns und allen Menschen auf diesem Globus ausbreitet.  Man brauchte sich um mangelnde kulturelle Integration keine Sorgen zu machen!

Ich komme zum Lobgesang auf die prachtvollste, strahlendste, überwältigendste Sprachmusik, die je ein sterblich Ohr in deutscher Sprache vernommen hat: die metrisch gebundene Sprache Goethes, seine Gedichte, seine Epen, seine in rhythmischer Bindung verfassten Dramen.

Ich darf nur eines sagen: Der Tag, an dem ich erstmals die Gedichte Goethes in einer schönen Gesamtausgabe des Birkhäuser-Verlags in die Hand nahm und sie dann Seite um Seite wendete, da mein Durst, immer mehr von diesem Mann zu lesen, immer unstillbarer wurde, dieser Tag hat mich verwandelt; und seither suche ich wieder und wieder diese Quelle auf. Ich dürste nach Goethes Versen, wenn der getrocknete Staub des Kulturgeredes sich über die Feuilletons ausbreitet, ich verlange nach Goethe, wenn unsere heutigen deutschen Schriftsteller, denen es an nichts Materiellem gebricht, endlose Klagen über sich selbst und über den beklagenswerten Zustand der Welt und ihres eigenen Ichs führen; wenn sie im Dauerlazarett ihrer Neurosen nach dem Psychiater schreien und doch jede Möglichkeit der Heilung ausschlagen; ich sehne mich nach Goethe, wenn jeder Sinn für Schönheit, jedes Gefühl für Klang, Rhythmus, Metrum in der erbarmungslosen Darre des Aktualitätengewitters ausgedroschen wird und erstirbt.

Ich spreche Verse Goethes laut aus, wenn ich den Gipfelschnee auf den Dreitausendern der Dolomiten in der Ferne erahne, ja ich habe mich erst vor wenigen Tagen wieder einmal mit leicht abgewandelten Goetheschen Versen in ein Südtiroler Gipfelbuch eingetragen:

Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß,
Betret‘ ich wohlbedächtig dieser Gipfel Saum,
Entlassend meiner Wolke Tragewerk, die mich sanft
An klaren Tagen über Land und Meer geführt.
Sie löst sich langsam, nicht zerstiebend, von mir ab.
Nach Osten strebt die Masse mit geballtem Zug,
Ihr strebt das Auge staunend in Bewundrung nach.
Sie teilt sich wandelnd, wogenhaft, veränderlich.

Wandelnd! Wogenhaft! Veränderlich! Ja, so mag er uns weitergeleiten. Goethe, er wird auch die gegenwärtige Geringschätzung, Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit, die ihm an deutschen Schulen und Hochschulen, in den Medien und Kultureinrichtungen Deutschlands widerfährt, gekräftigt überdauern und schöner als vorher zu uns zurückkehren.

Er ist der beste, der größte Schriftsteller, den wir im deutschen Sprachraum haben, er ist der unerreichte Meister der deutschen Sprache, jeder nach ihm kommende Schriftsteller bezieht sich, ob er will oder nicht, bewusst oder unbewusst auf ihn.

Ich schließe mit einem Seitenblick auf Shakespeare, der für den jungen Goethe ein nachtvolles Erweckungserlebnis bedeutete. In seiner Rede „Zum Shäkespeare Tag“ tritt er 1771 ins Zwiegespräch mit dem großen Engländer ein – er spricht ihn an und spricht zugleich auch über sich selbst:

Das was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch von Shaekspearen [also von Goethen], das was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so nothwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen, und Lapland einfrieren muss, dass es einen gemäsigten Himmelsstrich gebe. Er führt uns durch die ganze Welt, aber wir verzärtelte unerfahrne Menschen schreien bey ieder fremden Heuschrecke die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.

Auf, Zecherinnen und Zecher! Goethe wird uns nicht fressen! Goethe, du Pate, Unterstützer, Ermuntrer! Wie es auch sei, das Leben, es ist gut! Wir rufen dir zu mit Versen aus deinem Lied an Schwager Kronos, das Franz Schubert so großartig-brüderlich vertont hat:

Weit hoch herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein
Vom Gebürg zum Gebürg
Über der ewige Geist
Ewigen Lebens ahndevoll

Labe dich und uns auch mit diesem schäumenden Trunk
Und dem freundlichen Gesundheits Blick.

 

Erheben wir das Glas auf die berauschende Schönheit der Goetheschen Sprache, auf die leuchtende Vernünftigkeit seiner Prosa, auf den Gesundheitsblick Goethes und auf seine Wiederkehr! Bleibe bei uns!

Und jetzt Musik! Es singt für uns Goethes Lied „An Schwager Kronos“ der Sänger Heinrich Schlusnus.

Verzeichnis trinkbarer sowie gedruckter Quellen:

Rheingauer Weinbrunnen am Rüdesheimer Platz, Wilmersdorf. Täglich 15.00-21.30 Uhr. Nur noch bis 04. September!

Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos. In der Postchaise d 10 Oktbr 1774. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 201-203

Weingut Ferdinand Abel, Oestrich

Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller. Herausgegeben von C. A. H. Burkhardt. Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgart 1870

Weingut Adam Basting, Winkel

An Schwager Kronos. Goethe. Nicht zu schnell. Orig. D moll. In: Schubert-Album. Sammlung der Lieder für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung von Franz Schubert kritisch revidirt von Max Friedländer. Ausgabe für tiefe Stimme. Band II, Edition Peters 7610, Verlag C.F. Peters, Leipzig o.J., S. 44-46

Weingut Wilhelm Nikolai, Erbach

Johann Wolfgang Goethe: Epigramme. Venedig 1790. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1800-1832. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 208-236, hier S. 220 [Nr. 52]

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