Jan 132024
 

„Dasjenige, was von meinen Bemühungen im Drucke erschienen, sind nur Einzelnheiten, die auf einem Lebensboden wurzelten und wuchsen, wo Thun und Lernen, Reden und Schreiben unablässig wirkend einen schwer zu entwirrenden Knaul bildeten.“

Eine höchst merkwürdige Selbstaussage Goethes ist dies, die mir seit einigen Wochen nachschleicht und beschäftigt hält! Hatten wir uns nicht angewöhnt, in Goethe einen Zögling und Meister der Form zu erblicken? Wie konnte er so spät, nämlich im Jahr 1816, rückblickend auf sein eigenes Leben jede Form, jedes literarische Gestalten als vorläufigen, als tastenden Versuch des Ordnungsschaffens in der Wirrnis erklären?

Ist es nicht so: Allzu oft erwarten wir vom gedruckten Wort, vom wohlgeformten Werk eines Dichters oder Schriftstellers eine Botschaft über das, was das Leben ist und meint, was der Sinn ist oder sein könnte: und doch werden wir immer wieder enttäuscht! Ja, der Dichter selbst wird immer wieder enttäuscht. Die Schrift ist nichts Endgültiges: sie ist etwas Abgeleitetes, etwas aus dem unklaren Erfahren und Erleben buchstäblich Herausgesponnenes. Sie ist also kein Abbild dessen, was ist oder sein könnte, sondern ein Versuch, sich einen „Reim auf das Ungereimte“ zu machen. Die Literatur, die Schrift ist nichts Letztes, ist nicht der Weisheit letzter Schluss und wird es nie sein.

Möglicherweise waren es solche Gedanken, die Goethe im letzten Drittel seines Lebens wieder und wieder beschäftigten, die ihn dazu führten, sich selbst, sein ganzes vielbändiges Werk als einen Versuch zu sehen, Licht ins Dunkel zu werfen, Unerklärliches zu erklären und dann wieder im Dunklen, im Unerklärlichen stehen zu lassen – oder besser: verschwinden zu lassen.

Zitat:

Johann Wolfgang Goethe: Summarische Jahresfolge Goethe’scher Schriften. Über die Ausgabe der Goethe’schen Werke. Morgenblatt 1816. Nr. 101. Zitiert nach: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 42. Band, Erste Abtheilung. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1904, Seite 81

Foto:

Blick vom Goetheturm am Sachsenhäuser Landwehrweg auf die Stadt Frankfurt. Foto mit Skizzenbuch des Verfassers, 20. Oktober 2023

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