Von der heilenden Kraft der Rede

 Freude, Gemeinschaft im Wort  Kommentare deaktiviert für Von der heilenden Kraft der Rede
Mai 312022
 

Die Red‘ ist vns gegeben
Damit wir nicht allein
Vor vns nur sollen leben
Vnd fern von Leuten seyn;
Wir sollen vns befragen
Vnd sehn auff guten Raht,
Das Leid einander klagen
So vns betretten hat.

Soweit Simon Dach, der aus Memel gebürtig ist, dort als Sohn eines Gerichtsdolmetschers für Litauisch aufwächst. Auf Litauisch heißt diese Stadt Memel von alters her übrigens Klaipėda.

Simon Dach hat recht: wieviel hilft es doch schon in Not und Ungemach, wenn man einander klagt, wenn man um guten Rat fragt – selbst wenn man weiß, dass diese Klage noch keine Veränderung der äußeren Welt mit sich bringt.

Was kan die Frewde machen
Die Einsamkeit verheelt?
Das gibt ein duppelt Lachen,
Was Freunden wird erzehlt;
Der kan sein Leid vergessen,
Der es von Hertzen sagt;
Der muß sich selbst aufffressen
Der in geheim sich nagt.

Von geradezu Dantescher Wucht ist hier das Sprachbild des sich selbst auffressenden, menschenabgewandten Sonderlings!

Wir lernen von Simon Dach: Die Rede, die Klage, das Raten – sie alle entfalten heilsame, entlastende Wirkung. Sie tun uns gut!

„Jetzt habe ich Dir meinen schlechten Tag erzählt – und schon geht es mir besser.“

Simon Dach hat recht!

Quelle:
Simon Dach: Perstet semper amicitiae venerabile foedus! Hier zitiert nach: Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hgg. von Wulf Segebrecht. S. Fischer Verlag o.O. 2005, S. 58-59

 Posted by at 20:49
Sep 292021
 

Say something back

How do you think dying thoughts
when finally  the wind
between silence and echo
kisses you with promises of tomorrow?
When suddenly the rose in the front garden
freed from the hollow of winter laughs yellow?
Who thinks about shovels digging black earth
when in the park couples linger
lying on sun warmed grass    not beneath?
When children clap at the sight of a swan
not twisting its neck    not plucking it naked?
By the window overlooking the garden
where you buried a kit fox last summer
you’re thinking of making home
making love    checking his heart beat

*In response to Cardiomyopathy by Denise Riley in Say Something Back

Entnommen aus: Petra Hilgers: The heart neither red nor sweet.
erbacce-press, Liverpool UK 2021, ISBN: 978-1-912455-21-8

Mich erreichte im Juli aus Immenstadt die Anfrage, ob ich wohl einige Gedichte der Autorin Petra Hilgers aus dem Englischen übersetzen möchte. Ich las die beigelegten Texte durch und war auf der Stelle stark beeindruckt von diesen Gedichten! Sie schlugen sofort verschiedene Saiten in mir an. Eine Übersetzung ins Deutsche wäre ein Versuch, diese verschiedenen Saiten in einen Zusammenklang zu bringen und damit auch das englische Original zu stärkerem Schwingen zu bringen. Ich war sofort und ohne Einschränkung bereit, zu dem Vorhaben beizutragen, diese auf Englisch verfassten Gedichte der in Deutschland geborenen Petra Hilgers ins Deutsche zu übersetzen.

Nach einigen Stunden, Tagen, Wochen des Sinnens, Nachsinnens, Singens entstand folgende Übersetzung, die ich der Autorin vorlegte, und der sie mit einigen wenigen Änderungen ihren Segen gab:

Sag etwas zurück

Wie denkst du sterbende Gedanken
wenn schließlich    der Wind
zwischen Stille und Echo
dich küsst mit Verheißungen von morgen?
Wenn die Rose im Vorgarten
befreit von der Höhlung des Winters     plötzlich gelb auflacht?
Wer denkt an Schaufeln die sich in schwarze Erde graben
wenn müßige Paare im Park
auf sonnwarmem Gras liegen      nicht darunter?
Wenn Kinder beim Anblick eines Schwans klatschen
ihm nicht den Hals umdrehen      ihn nicht nackt rupfen?
Am Fenster mit Blick auf den Garten
in dem du letzten Sommer einen Fuchswelpen begraben hast
denkst du daran ein Zuhause zu schaffen
Liebe zu machen    seinen Herzschlag zu prüfen

*Als Antwort auf Cardiomyopathy von Denise Riley in Say Something Back

Das Bild oben zeigt den Hl. Hieronymus in der Schreibstube. Kupferstich entstanden um 1435-1440. Als Urheber gilt der sogenannte Meister des Todes Mariae. Staatliche Museen Berlin, Kupferstichkabinett. Das Blatt ist noch bis 3. Oktober zu sehen in der Ausstellung: Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Berliner Gemäldegalerie

 Posted by at 21:03

Hält letztlich nur noch das Gas den Kontinent zusammen?

 Dante, Gemeinschaft im Wort, Russisches, Ukraine, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Hält letztlich nur noch das Gas den Kontinent zusammen?
Feb 092021
 
Nicht Russland, sondern ein Blick in den Cheruskerpark, 8. Februar 2021

Mitunter wird ja behauptet, Gas und Geld seien doch immerhin noch fast die letzte verbleibende Brücke, die Russland, das größte Land Europas, mit den anderen Ländern Europas verbände. Da man sich auf anderen Ebenen nicht verstehe, müsse eben das durch neue Röhren fließende Gas herhalten, um eine gewisse Verbundenheit zwischen Russland und den anderen Ländern Europas zu bewahren. Ein bedeutender Vertreter unseres Landes wird soeben in der FAZ mit der Aussage zitiert, dass „die Energiebeziehungen fast die letzte verbliebene Brücke zwischen Russland und Europa seien“.

Ist das so? Hat er das so gesagt? Das kann und mag ich nicht glauben! Hier muss ein Fehler der FAZ vorliegen. Steht und fällt wirklich alles mit dem Gas (oder mit dem Geld)? Nun, bei allem Respekt vor deutschen Politikern, ich stimme jener Aussage nicht zu. Ich meine, es gibt neben dem Gas auch noch anderes, was uns verbinden könnte. Es gibt z.B. -… hmmm, Menschen, menschliche Beziehungen. Mehr als 600.000 russische Staatsbürger leben, studieren, arbeiten, lernen alleine in denjenigen europäischen Ländern, die der EU angehören, davon weit mehr als 200.000 im bevölkerungsstärksten Land der EU, in Deutschland. Die sind nicht nichts. Die sind eine lebende, eine quicklebendige Brücke. Viele Deutsche haben darüber hinaus Angehörige, Freunde, Verwandte in Russland, auch der hier Schreibende.

Als zweitwichtigste Brücke – nach den Menschen – sei hier die Kultur genannt. Die europäische Kultur – stellvertretend seien hier die Werke von Michelangelo, Puschkin, Gogol, Dante, Bach, Shakespeare, Fanny Hensel, Cervantes, Petrarca, Homer, Dostojewski, Immanuel Kant genannt, wird überall in den europäischen Ländern – natürlich auch in der Ukraine, in Belgien, auch in Russland, zum Teil sogar auch noch in Deutschland gepflegt, gehegt, weitergegeben.

Zu den erhebenden Erfahrungen im Jahr 2021 gehört es sicherlich, Dante, in meinen Augen den bedeutendsten europäischen Dichter dieser weltgeschichtlichen Stunde, in den unterschiedlichsten europäischen und nicht-europäischen Sprachen zu hören, darunter auch auf Ukrainisch und auf Russisch.

Man klicke auf die untenstehenden Links, und gleich fließt wie belebende, erquickende Luft der unversiegliche Verse-Strom der Göttlichen Komödie durch das Netz, als hätte man ein Ventil geöffnet.

Und das wird auch so bleiben. Die Menschen werden weiter die gleiche Luft atmen, die europäische Kultur, die europäischen, ineinander übersetzbaren Sprachen werden auch weiterhin als Brücke zwischen Menschen, Staaten und deren Politikern dienen. Kultur, das lebendige, in Freiheit gesprochene Wort wird weiterhin unzerstörbare Brücken bauen.

Gas her, Gas hin.

Höre Dante auf Ukrainisch:
Dalla selva oscura al Paradiso – From the dark wood to Paradise – UK – Данте – Божественна комедія (google.com)

Höre Dante auf Russisch:

Dalla selva oscura al Paradiso – From the dark wood to Paradise – RU – Dante – Божественная комедия (google.com)

 Posted by at 14:27

Jeszcze Europa nie zginęła: la consegna del Premio italo-tedesco per la traduzione 2020

 Europäische Union, Europäisches Lesebuch, Gemeinschaft im Wort, Integration durch Kultur?, Sprachenvielfalt  Kommentare deaktiviert für Jeszcze Europa nie zginęła: la consegna del Premio italo-tedesco per la traduzione 2020
Jun 272020
 

„Jeszcze Europa nie zginęła“, dieser polnisch zu singende Weckruf kommt mir in den Sinn, wenn ich an die Verleihung des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises 2020 zurückdenke, der ich am 23. Juni 2020 als stumm lauschender Zuhörer über das Internet in der virtuellen Realität beiwohnte.

Der Mitschnitt der Preisverleihung ist weiterhin online abrufbar:
https://lcb.de/programm/verleihung-des-deutsch-italienischen-uebersetzerpreises-2020/

Willst du wissen, Leser, was ich dazu meine? Nun, ich meine ganz persönlich, zu Zeiten, da andere Stimmen drei- oder gar vierstellige Euro-Milliardenbeträge in hymnischen Tönen aufrufen im festen Glauben, die europäische Einigung mit solchen Mitteln wesentlich zu befördern oder zu erkaufen, haben die Minister Monika Grütters und Dario Franceschini, die Übersetzerinnen Verena von Koskull, Friederike Hausmann und Carola Köhler, die Redner Maike Albath, Ingo Schulze und Claudio Magris alle ihren kaum mehr zu vernehmenden, stillen Gegenglückston gesetzt: die Einigung Europas im Geist, im guten gelingenden Wort, im kulturell gebundenen Austausch, im Sich-Hineinversetzen in die andere und den anderen, in das andere und die anderen: in der Gemeinschaft im Wort!

Ich gebe gerne zu, die weitere europäische Einigung wird sicherlich nicht zum Nulltarif zu haben sein, aber machen wir uns nichts vor: Das große Vorhaben kann nur gelingen, wenn es die Menschen auch wollen und so „sagen und singen“, und wenn es durch ein einigendes symbolisches Band umschlungen und beglaubigt wird – das mag das Möbius-Band sein, welches ab 1. Juli 2020 die deutsche Ratspräsidentschaft überwölbt, das kann und soll aber vor allem, so meine ich, das endlose geflochtene Band des versöhnenden, menschenverändernden Wortes sein. Und dieses Wort kostet nichts …  nichts außer einer inneren, sozusagen menschen-übersetzenden Wandlung! 

 Posted by at 12:25

… als wäre es sein letzter Tag

 Eigene Gedichte, Gemeinschaft im Wort, Natur, Wanderungen  Kommentare deaktiviert für … als wäre es sein letzter Tag
Sep 202018
 

Ich soll euch noch recht festlich grüßen:
Herr Sommer, der den Abschied nimmt,
Winkt uns noch zu, als wäre es sein letzter Tag!
Die Beute legt er sich zu seinen Füßen:
Ein Volleyball, der auf den Wellen schwimmt.
Aus gelbgeflecktem Schnabel noch ein Schrei.
So sehr die Möwe ihr Gefieder spreizen mag,
Herrn Sommer ist es mittlerweile einerlei,
Er hat sich’s überlegt: er geht vorbei.
Zwar war er groß, doch größer ist das Jahr,
Das hinter ihm den dunklen Berg erklimmt.
Die Sonne sinkt, das Licht strahlt hart und klar.
Beim Abschiedsfest erklingt die Melodie: Es war.

 Posted by at 21:24

Flammende Käthchen am Grab meiner Mutter

 Barfuß, Berchtesgaden, Gedächtniskultur, Gemeinschaft im Wort, Latein, Mutterschaft  Kommentare deaktiviert für Flammende Käthchen am Grab meiner Mutter
Jul 282018
 

Augsburg, 24.07.2018
Ich besuche das Grab meiner Mutter im Neuen Ostfriedhof. Nach den heftigen Regengüssen der vergangenen Tage strahlt und blitzt der uralte Baumbestand; die Stieleichen ragen mächtig und stolz in den Himmel. Was würde meine Mutter sagen, wenn ich meine Schuhe im Friedhof auszöge, wenn ich mich – wie es die Alten Israels taten – unbeschuht nahete, als Zeichen der Demut und Ehrfurcht? Ich tue es. Ich löse die Sandalen von meinen Füßen und beschreite den sanften, bis unter die Graswurzeln durchweichten Boden. „Zieh ruhig die Klapperl aus“, würde sie sagen.  (Klapperl, das ist ein bairisches Wort für Sandalen).

Ich verharre lange Augenblicke in der Zwiesprache mit meiner Mutter und beschließe dann, einige Madagaskarglöckchen zu pflanzen. Dann drängen sich mir einige Gedanken auf, erst in deutscher, dann in lateinischer Sprache. Sie besagen folgendes:

Der Schrecken des Todes löset sich, nun darfst
du barfuß den Boden, in dem deine Mutter ruht,
betreten. Die sechs flammenden Käthchen, die du ihr
aufs Grab gepflanzt, werden für sie blühen; zieh
deine Klapperl aus, fühle den weichen Mutterboden!
Entschlag dich deiner Sorgen, singe die Lieder,
die sie einst für euch gesungen: es wird sie erfreuen.

Solvitur acries hiems mortis, nunc pede
libero pulsanda tellus matris, Kalanchoe
blossfeldiana nunc virescit, at tu tolle
calceos, languidas curas dimitte, licet cantare.
In memoriam

Zur Erinnerung an Gerda Hampel
* 28. Juli 1927 in Berchtesgaden +8. Februar 2015 in Berlin-Kreuzberg

 Posted by at 21:13
Jul 052018
 


Удивительная жизнь Адольфа Хампеля, судетского немца, полюбившего Россию, „Das wunderbare Leben Adolf Hampels, eines Sudetendeutschen, der Russland liebgewonnen hat“ –

unter diesem Titel konnten wir am 5. Juli 2018, also vorgestern, eine Radiosendung des russischen Echo Moskaus (Эхо Москвы) verfolgen.

 

 

Adolf Hampel, 1933 in Klein-Herrlitz in der Tschechoslowakei geboren, katholischer Priester und Theologe, der an der Universität Gießen lehrte, hat in seinem Buch „Mein langer Weg nach Moskau“ auf sehr ansprechende  Art einen Rückblick auf einige Stationen seines ereignisreichen, wunderbaren Lebens geworfen. Das Buch ist mittlerweile durch Irina Potapenko ins Russische übersetzt worden und fand so das Interesse des Echos Moskaus. Der Autor kam nun in dieser Interview-Sendung in russischer Sprache zu Wort, und einzelne Abschnitte der russischen Übersetzung wurden vorgelesen. Angesprochen wurden Begegnungen mit Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, die Rückführung einer Ikone nach Kasan, Kapitel aus Kindheit und Jugend, Kriegserfahrungen, die Enteignung und Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei im Jahr 1946, der mühsame Neubeginn der Vertriebenen in den aufnehmenden Ländern. Einen breiten Raum nahmen dann im Gespräch  die unermüdlichen Bemühungen Adolf Hampels um Begegnung, Austausch und Versöhnung mit Menschen in den Gesellschaften des Ostens ein. Er ist einer jener zahlreichen Pioniere der deutsch-tschechischen Aussöhnung, für die beispielhaft der Name Václav Havels stehen mag. Dabei öffnete ihm seine wundersam erwachte Liebe zur russischen Sprache auch das Tor zu allen Völkern der früheren Sowjetunion.

Ich meine: Gerade in der heutigen Zeit, wo – wie damals auch – ethnische Konflikte, Kriege, Flucht, Vertreibungen, der Wiederaufbau, die Versöhnung, das Erzählen, das Erinnern, das Teilen und das Weitergeben der Erinnerungen das Tagesgespräch bestimmen, stellen die lebendigen Erinnerungen Adolf Hampels einen unschätzbaren Denkanstoß dar. Sie verdienen sowohl im deutschen Original wie in der russischen Übersetzung größte Aufmerksamkeit.

Hier kann man die Sendung nachhören, indem man einfach mit der Maus auf den Link klickt und dann ganz oben auf dem Bildschirm das „Abspielen“-Symbol anklickt:

https://echo.msk.ru/sounds/2234122.html

https://echo.msk.ru/programs/diletanti/2234122-echo/

Adolf Hampel: Mein langer Weg nach Moskau. Ausgewählte Erinnerungen. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried, 2012; russisch: A. Hampel: Moi dolgij put v Moskvu, übers. von I. Potapenko, Verlag Pero, Moskwa 2017, ISBN 978-5-90633-76-8

 Posted by at 20:59

Das Geströme der Spree

 Gemeinschaft im Wort  Kommentare deaktiviert für Das Geströme der Spree
Nov 232016
 

dsc_00641

Und du fährst über den Fluß, müde vom Tagwerk, wo du die Pflugschar des Gespräches, das wir sind, so oft hin und her wendetest, daß du nicht weißt, wo der Morgen des Ackerns begann und wo er endete. Schau da! Träge wälzt er, der Fluß, sich von einer Seite auf die andere. Er, das ist eine Sie, die Spree, ein Fluß voller Rätsel, der so oft unentschieden scheint, in welche Richtung die Strömung verläuft. Wie das? Eine Strömung, die sich ganz der Strömung anvertraut – das wäre ein Widerspruch, es wäre eine unfassbare, letztlich geradezu quantenmechanische Unschärferelation!

Und doch, schau einmal ganz ungenau hin! Wenn du nur ungenau genug hinschaust, dann ist es so. Dann musst du es glauben, dass die Spree manches Mal auch rückwärts fließt. Ja, sie weiß es nicht immer, wohin die Strömung sie treibt. Und so lässt sie sich in der Strömung treiben. Weit, weit hinaus ins Land, hinunter zum Horizont, ins havelländische Luch oder ins märkische Oderbruch. Sie möchte schlafen. Sie wartet auf den Winter. Sie wälzt sich hin und her am schilfigen Rohrdamm und sie weiß nicht, wann sie zur Ruhe kommt, wie ein Schlafender, der sich geschäftig umwälzt um fünf Uhr morgens, weil er nicht weiß, ob es sich schon aufzustehen lohnt. Und dann steht er auf, wenn die güldene Sonne den Sims des gegenüberliegenden Hauses bestreift und rötlich färbt für einige wenige kostbare Minuten. Rötlich? Nein, gülden! Dafür gibt es ja extra dieses Wort gülden, wißt ihr, um Leben und Wonne auszudrücken, gülden, das ist mehr als golden, seltener, weniger sichtbar!

Aber sie, die Spree, sie wartet auf das Eis. Sie wünscht sich den Frost.

Bild: Die Spreebrücke am Rohrdamm. Aufnahme von heute

 Posted by at 18:33
Nov 182016
 

img_20160812_153640

Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος.

οὗτος ἦν ἐν ἀρχῇ πρὸς τὸν θεόν.

Für das Verständnis der erasmischen Formel „in principio erat sermo“ als Übersetzung des bekannten Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος scheint mir der Ciceronianische Sprachgebrauch von sermo ganz entscheidend. Denn Cicero und in geringerem Umfang Caesar waren für die Humanisten wie etwa Erasmus die verbindliche Richtschnur des guten, vorbildlichen lateinischen Sprachgebrauchs. Sermo bezeichnet bei Cicero das lockere, fließende, sanfte, gewaltlose Gespräch oder Gerede, die natürliche Sprache, wie wir heute sagen würden.  Während die rhetorisch gebundene Rede, die kunstfertig gedrechselte Oratio, – ob bei Gericht, in der Volksversammlung, im Senat oder bei Feierlichkeiten – Leidenschaften aufstachelt, den Hörer zu beeinflussen und zu überwältigen sucht, pflegt der philosophische Sermo das gesellige Miteinander; der Sermo sucht den Austausch, nicht den Sieg; die Begegnung, nicht die Überwältigung; den Dialog, nicht den Monolog (unius oratoris lucutio); die Gemeinschaft im Wort, nicht die erzwungene Vereinigung in einem kollektiven Willen. Cicero schreibt beispielsweise in seinem Orator ad Brutum:

Mollis est enim oratio philosophorum et umbratilis nec sententiis nec verbis instructa popularibus nec vincta numeris, sed soluta liberius; nihil iratum habet, nihil invidum, nihil atrox, nihil miserabile, nihil astutum; casta, verecunda, virgo incorrupta quodam modo. Itaque sermo potius quam oratio dicitur. Quamquam enim omnis locutio oratio est, tamen unius oratoris locutio hoc proprio signata nomine est.

Der Sermo belässt also dem anderen seine Freiheit der Wahl; die Oratio will fesseln, beeinflussen, berücken und überzeugen – wobei jedes Mittel recht ist, bis hin zur Beschimpfung, zum Lobpreis, zur Hetze, zum flehentlichen Gestammel.

Die genannte Freiheit der Wahl spricht Cicero besonders dem philosophischen Gespräch zu, nicht der öffentlich aufgeschmückten Rede.

Erasmus spricht nun durch seinen Übersetzungsvorschlag für Joh 1 „In principio erat sermo“ diese Freiheit der Wahl auch dem schöpferischen Handeln Gottes zu; umgekehrt gewinnt der Satz im Johannesprolog dadurch einen neuartigen tiefen Sinn, dass auch dem Menschen diese Freiheit des Gesprächs zugesprochen wird. Erasmus, der Cicero kannte und verehrte, überträgt das zwanglose Sprechhandeln des philosophischen Gesprächs auf das Gespräch Gottes mit der Schöpfung, auf das Gespräch des Geschöpfes mit Gott, auf das Gespräch der Menschen untereinander.

Ein derartiger umfassender Freiheitsbegriff nun hebt Erasmus eindeutig von Luther ab. Luther hat die Freiheit in diesem großen, überragenden Sinne nicht erkannt und nicht anerkannt. Servum Arbitrium, lautet Luthers Formel dafür; das Liberum Arbitrium, die Freiheit der Willensentscheidung, schreibt sich dagegen Erasmus auf die Fahne. Das ist der erasmische Freiheitsglaube, der ihn von Luther, mit seiner absoluten, seiner schicksalhaften Abhängigkeit des Menschen vom Willen Gottes, meilenweit absetzt.

Aber noch weiter gehen wir: Erasmus verwirft mit seiner Formel „In principio erat sermo“ die Schicksalsabhängigkeit des Menschen. Aus der Schicksalsgemeinschaft wird eine Gesprächsgemeinschaft. Das göttliche Gespräch, aus dem die Welt hervorgeht, ist nicht schon zwar bei Gott als vielmehr zu Gott hin (πρὸς τὸν θεόν), und deshalb macht es frei. Es befreit von der Knechtschaft der Schuld. Es ebnet den himmelweiten Unterschied zwischen Gott und den Menschen ein. „Macht gerade alle Pfade“, dieser frühere, auf Christus verweisende Vers des Jesaias bedeutet: Es gibt eine Gesprächsbeziehung zwischen Gott und dem Menschen, und der Wege-Ebner zu Gott hin, das kann für den erasmischen Freiheitsglauben nur Jesus sein. In ihm und durch ihn und mit ihm ereignet sich diese Heraufkunft eines neuartigen Freiheitsdenkens, das es in dieser Radikalität vor dem Johannesevangelium nicht gegeben hat und hinter das seither immer wieder zurückgefallen wird.

Zitate:
Cicero, Orator ad M. Brutum, 64
Johannesevangelium, Novum testamentum graece, ed. Erasmiana, 1,1-13
Jesaias 40,3

Foto:

Ein Gespräch. Fresko in Schloß Runkelstein bei Bozen, Aufnahme vom 12.08.2016

 Posted by at 20:10
Jun 222016
 

Waldhörner 20160618_161840

 

Mancher Wortklauber hat schon die harte Nuss zu knacken versucht, wie man das neue deutsche Modewort Empowerment älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit älteren deutschen Worten erklären könne, die schon vor dem Jahr 2000 in Gebrauch waren.

Stets geht es bei Empowerment darum, Menschen, die in einer gewissen Lage sich nicht selbst zu helfen wissen oder nicht mehr weiter wissen, zu befähigen, selbständiger zu werden und mehr für sich in eigener Verantwortung zu bewirken.

Empowerment, das bedeutet die Stärkung der Eigenverantwortung, das heißt Stärken stärken, Selbstbewusstsein verleihen, Eigenkräfte fördern, Perspektiven öffnen, schlummernde Kräfte wecken, Selbstlähmung aufsprengen durch das lösende, befreiende, ermunternde Wort. Selbstfesselungen heilen!

„Hey Alter, nimm dein Bett, steh auf und geh!“ Wer mag, der kann dabei, bei diesem Empowerment, an die Heilung des Gelähmten am Sabbat in Jerusalem denken.

Johannes, dessen höchst eigenwilliges, ja eigenmächtiges Evangelium, das sogenannte „Vierte Evangelium“ wahrscheinlich das wichtigste Meister-Narrativ überhaupt, mutmaßlich die wichtigste Großerzählung, den bedeutendsten Grand récit  der gesamten europäischen Literaturgeschichte darstellt, erzählt die Geschichte in seinem Buch in Kap. 5, 1-18.  Der Evangelist Markus wiederum, der Mann mit dem Löwen, der Meister der Kleinerzählung, erzählt die Geschichte so ähnlich in seinem alltagsnäheren Jesus-Narrativ, dem sogenannten Markusevangelium, in deutlich bescheidenerer Form, nicht so gespannt, nicht so hochfliegend wie dies Johannes, der Mann mit dem Adler, später tun wird.

Markus 2,1-12 und Johannes 5,1-18 sind herrlich tönende Weckrufe. Sie erinnern – bildlich gesprochen – an Weckrufe von edlen Waldhörnern in der Halle der schlafenden Lokomotiven: „Auf auf, ihr schlafenden Lokomotiven, bewegt euch! Ihr habt noch was vor!“  Die Erzählungen von Markus und Johannes sind eine gute Erläuterung dessen, was das neue deutsche Wort Empowerment meint. Und diese Geschichte von der Heilung eines Gelähmten wurde schon vor 2000 Jahren erzählt, und sie wird auch noch in 2000 Jahren erzählt werden, wie ich zuversichtlich hoffe und fest glaube.

Bild: Vier Musiker der Staatskapelle Berlin, vier Waldhörner spielen mit fröhlichem Schall in der „Halle der schlafenden Lokomotiven“. Lokhalle, Natur-Park Südgelände, Schöneberg. Festliche Eröffnung des Langen Tages der Stadtnatur. Berlin, Samstag, 18. Juni 2016, 16 Uhr

 

 Posted by at 10:48

Göttin Sprache

 Deutschstunde, Europäisches Lesebuch, Gemeinschaft im Wort  Kommentare deaktiviert für Göttin Sprache
Feb 232016
 

DIE SPRACHE

An Carl Friedrich Cramer

Des Gedankens Zwilling, das Wort scheint Hall nur,
Der in die Luft hinfließt: heiliges Band
Des Sterblichen ist es, erhebt
Die Vernunft ihm, und das Herz ihm!

Und er weiß es; denn er erfand, durch Zeichen
Fest, wie den Fels, hinzuzaubern den Hall!
Da ruht er; doch kaum, dass der Blick
Sich ihm senket, so erwacht er.

Es erreicht die Farbe dich nicht, des Marmors
Feilbare Last, Göttin Sprache, dich nicht!
Nur weniges bilden sie uns:
Und es zeigt sich uns auf Einmal.

[…]

Diese ersten drei von insgesamt zwölf Strophen bezeugen den tiefen Glauben an die Kraft des Wortes, an den gleichsam göttlichen Rang der Sprache. Geschrieben hat dieses Gedicht Friedrich Gottlieb Klopstock. „Klopstock!“, wie es in Goethes Werther so vielsagend heißt! Das Wort Klopstocks lebt, es ist lebendig, es schafft, es bindet, es urteilt, verurteilt. Das Wort, es verzeiht, es löst, es erlöst. Schon die ältesten Zeugnisse der Kulturen der Welt, für uns faßbar etwa im Buch Genesis, bezeugen die gleichsam göttliche Macht des Wortes, dieses ewige „ES WERDE“ der zeitenumspannend verwandelnden Sprache. Das gesprochene, schaffende, gewissermaßen göttliche Wort trieb Dichter wie Klopstock und Goethe an, ihre Huldigung an die Sprache in unendlich viele Rätsel und Verse zu gießen.

Nur zwei dieser Gedichte und Rätsel davon nahmen wir uns gestern und heute vor. Aber es gibt deren noch Tausende, in tausend anderen Sprachen! Von tausend anderen Dichtern!

Beleg:
„Die Sprache“, in: Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Karl August Schleiden. Nachwort von Friedrich Georg Jünger. Band I. Carl Hanser Verlag München. Lizenzausgabe für Fourier Verlag Wiesbaden, o.J., S. 131-132

 Posted by at 12:25

Das lösende Wort: Sprache

 Gemeinschaft im Wort, Goethe  Kommentare deaktiviert für Das lösende Wort: Sprache
Feb 232016
 

Niemand soll unnötig leiden, kein Mensch, kein Tier, kein Mückchen und kein Bienchen! Deshalb sei’s Euch verraten, des Rätsels Lösung. Niemand soll sich unnötig den Kopf über des Rätsels Lösung zerbrechen!

„Sprache“ lautet der Titel und zugleich das Lösungswort des gestrigen Rätsels. Goethes Gedicht „Sprache“ erschien erstmals 1773 im Göttinger „Musen-Almanach 1774“.

Noch einmal sei es hier vollständig eingefügt:

SPRACHE

Was reich und arm! Was stark und schwach!
Ist reich vergrabner Urne Bauch?
Ist stark das Schwert im Arsenal?
Greif milde drein, und freundlich Glück,
Fließt Gottheit von dir aus!
Faß an zum Siege, Macht, das Schwert,
Und über Nachbarn Ruhm!

Die Lösung steht hier:
Johann Wolfgang Goethe, Gedichte. 1756-1799. Herausgegeben von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1998, S. 178

 Posted by at 12:22

Sigurdssons Signale, oder: Was sind die Grundnahrungsmittel einer glückenden Gemeinschaft?

 Gemeinschaft im Wort  Kommentare deaktiviert für Sigurdssons Signale, oder: Was sind die Grundnahrungsmittel einer glückenden Gemeinschaft?
Feb 032016
 

Was liegt an Worten? Ich meine: sehr viel. An richtigen Worten kann Bestand oder Nichtbestand einer Gemeinschaft hängen. Bestand oder Nichtbestand einer Gemeinschaft offenbaren sich untrüglich in den Worten, die gesagt oder nicht gesagt werden.

„Einigkeit und Recht und Freiheit“, so sangen es am Sonntagabend lauthals und ungehemmt in die Fernsehkameras hinein die Spieler, etwa Andreas Wolff, Finn Lemke, Steffen Fäth und all die anderen, der Trainer Dagur Sigurdsson, die Betreuer Axel Kromer und die anderen Männer der deutschen Handballnationalmannnschaft. Sie bezeugten damit singend ihren Glauben an die Gedanken der Einigkeit, des Rechts, der Freiheit.

Freiheit, Einigkeit, Recht – ohne diese Grundgedanken ist kein vernünftiges Handballspiel möglich, geschweige denn das Finale einer Europameisterschaft.

Einigkeit – ein Grundbaustein des Erfolgs! Der Sieg der Handballmanschaft erklärte sich dem Zuschauer auch durch die laute Frage, die Trainer Sigurdsson seinen Spielern während der Auszeiten entgegenrief: „SEID IHR EINVERSTANDEN?“

Er signalisierte den Spielern damit gewissermaßen den Raum für Einwände. Allerdings hatte sich im Laufe des Turniers das ohnehin vorhandene Vertrauen zwischen Spielern und Trainer so gefestigt, dass keine Widersprüche zu erwarten waren. Dennoch: Die Spieler hätten auch widersprechen dürfen!

„Seid ihr einverstanden?“ Der Trainer Dagur Sigurdsson fragte nach dem Einverständnis der Spieler. Er verlangte also weder blinden Gehorsam noch Unterwerfung. Er bat um Zustimmung für seinen strategischen Plan. Die Spieler erklärten ausdrücklich ihre Zustimmung; sie verstärkten durch Rufen, durch Umarmungen, durch anfeuernde Gebärden ihre Einigkeit.

Im Handball werden wie im Basketball sehr viele Spielzüge abgesprochen; es gibt in jeder Mannschaft gewisse Übereinkünfte, die jeder Spieler – egal ob er wie etwa Niclas Pieczkowski im Rückraum, im Tor wie Carsten Lichtlein, als Rechts- oder Linksaußen (wie etwa Tobias Reichmann oder Rune Dahmke) oder als Kreisläufer wie Jannik Kohlbacher spielt – verinnerlicht haben muss.

Innerhalb dieser Verabredungen gibt es einen gewissen Spielraum; die Spieler – etwa Johannes Sellin, Fabian Wiede, Hendrik Pekeler – sind keine Strategie-Ausführungsautomaten, sondern im wahrsten Sinne SPIELER: sie können in jedem Moment im Rahmen der vereinbarten Strategie Entscheidungen treffen. Etwas Zufälliges haftet jedem Ballspiel unweigerlich an.

Das Absingen der Hymne „Einigkeit und Recht und Freiheit“ durch Spieler (Martin Strobel, Kai Häfner, Julius Kühn und die anderen), Betreuer und Trainer bei der Siegerehrung lädt dazu ein, diese drei Pfeiler einer jeden echten, funktionsfähigen Gemeinschaft zu sehen:
a) Streben nach Einigkeit. Die Beteiligten wollen dazugehören. Sie erkennen an, dass sie nach Einigkeit streben. Sie gehören der Mannschaft aus freien Stücken an. Sie wollen zu dieser Gemeinschaft dazugehören und haben sich entschieden mitzumachen. Sie vertrauen dieser Gemeinschaft.
b) Recht. Alle Beteiligten – Spieler, Trainer, Funktionäre – unterwerfen sich der Herrschaft des Rechts, in diesem Fall also dem Reglement des Handballspiels und den Entscheidungen der Unparteiischen. Es gab kein Gezänke und keine Maulereien angesichts der Entscheidungen der Schiedsrichter.
c) Freiheit. Die Spieler verschmelzen nicht zu einem „einzigen Mann“, jeder Spieler, auch Simon Ernst, Steffen Weinhold und Christian Dissinger, behält seine Freiheit, das strategische Konzept, dem er zugestimmt hat, nach besten Kräften, nach eigenem Ermessen, nach bestem Wissen und Gewissen in die Tat umzusetzen.

Nicht Zwang: sondern Freiheit, nicht Herrschaft des Stärkeren: sondern Herrschaft des Rechts, nicht Zwangsverschmelzung zu einer nicht gewollten zentralistischen Einheit: sondern stetes Streben nach freiwilliger Einigkeit sind die Grundnahrungsmittel einer jeden gelingenden Gemeinschaft.

Wo Einigkeit in Freiheit fehlt, wo kein Wille zur Zugehörigkeit da ist, scheitert die Gemeinschaft. Eine sprachlose Gemeinschaft hat keinen Bestand.

Scheitert die Freiheit, scheitert die Europäische Union.

Wenn das Recht missachtet wird, wenn eingegangene Verpflichtungen nicht eingehalten werden, geht die Gemeinschaft zugrunde.

 Posted by at 19:41