„Wo sind die Radfahrer …?“

 Radfahren in Russland, Tolstoi  Kommentare deaktiviert für „Wo sind die Radfahrer …?“
Jan 122009
 

Wo sind die Radfahrer? So fragte ich mich in Moskau. Denn trotz allen Spähens vermochte ich auf den breiten, oft acht- bis zwölfspurig ausgebauten Hauptstraßen der russischen Hauptstadt in 14 Tagen keinen einzigen Fahrradfahrer zu entdecken. Lag es nur am Wetter und den Grenzen der menschlichen Widerstandskraft? Wohl kaum, denn dann dürfte es ja in Berlin ebenfalls in diesen Frosttagen keinen Radfahrer geben:  in Moskau war es wärmer als es jetzt in Berlin ist. Diese unermüdlichen Berliner Radfahrer erbringen den Beweis: Rund um den Jahreskreis taugt das Fahrrad in der großen Stadt. Allerdings muss das Fahrrad auch in Moskau etwas bereits Bekanntes sein, denn bei meinem Besuch des Hauses von Leo Tolstoi entdeckte ich folgendes Bild:

Da Tolstoi auf handwerkliche Geschicklichkeit so großen Wert legte und ja auch Schuhe selber geschustert hat, fragte ich die Aufseherin: „Hat er das Fahrrad selber gemacht?“ Sie antwortete: „Nein, im Alter von über 60 kaufte er sich ein Fahrrad und lernte dann durch Probefahrten in der Manege, wie man Fahrrad fährt. Und dann fuhr er mit großem Vergnügen durch die ganze Stadt. Allerdings nur auf den Straßen, in denen es keinen Pferdekutschenverkehr gab. Denn die Pferde scheuten beim Anblick dieses modernen Verkehrsmittels.“ „Tolstoi fuhr also wirklich mit dem Fahrrad durch die ganze Stadt?“, fragte ich zurück. „Er fuhr mit dem Fahrrad oder er ging zu Fuß … so lernte er seine Stadt kennen“, erzählte die Frau, die von Tolstoi sprach, als wäre es ihr eigner Ohm.

War dies alles nur eine Schrulle des großen Schriftstellers? Ich glaube kaum – denn als überzeugter Christ versuchte er, die Ideale der Nächstenliebe, der Begegnung mit dem Nächsten, vor allem sein unverrückbares Ziel der Bescheidenheit in allen Lebensbereichen zu verwirklichen. Dazu gehörte offenbar auch der Verzicht auf pompöse Kutschen und auf herrschaftliches Gebaren im Straßenverkehr.

Lebte er heute, er würde sicherlich auf jene massigen Geländewagen vom Typ eines VW Touareg verzichten, die heute das Straßenbild in Moskau prägen. Das ständige Zugehen auf alle Schichten des Volkes, das Sich-Öffnen gegenüber allem, was auf Straßen und Plätzen geschieht – all dies war für ihn am besten durch das Zu-Fuß-Gehen und das Radfahren umzusetzen. Bei jedem Wetter, sommers wie winters.

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