Auch du in Arkadien, Kain?

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Jun 042014
 

Wölbt sich des bunten Bogens Wechsel-Dauer
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend

So schreibt es Goethe im Faust, Vers 4722f.

Wir erinnern uns: Faust hat ein schweres Verbrechen begangen, das ihn niederdrückt. Seine Schuld ist zu schwer, als dass er sie tragen könnte, „zu groß als das sie mir müge vergeben werden“, wie es im Buch Genesis in Luthers Übersetzung über Kains Fehl heißt.

Geht es weiter? Wie geht es weiter?

Die Gestalt Kains begegnet mehrfach im irdischen Paradies Arkadien. Warum ist das so? Gibt es nach schwerster Schuld einen Neuanfang?
Wir werden diesen Fragen nachgehen, genießen an Pfingsten den flammenden Wohllaut der vielen Sprachen und die zarte Augenlust einiger früher Drucke aus Italien.

Woher kam die Anregung? Sie kam aus dieser Ausstellung:

Arkadien. Paradies auf Papier. Landschaft und Mythos in Italien
Kupferstichkabinett, Kulturforum Berlin-Tiergarten
Hier sind einige wichtige Aussagen zu Kain aus der jüdischen, christlichen und islamischen Überlieferung:
1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers 1-16
Talmud: Traktat Sanhedrin 91 b
Koran: Sure 5, Der Tisch, Vers 27-35

Gibt es Vergessen der Schuld, gibt es einen Neuanfang, gibt es eine tabula rasa?

Dante und Goethe schicken uns an den Fluß Lethe, den Fluß des Vergessens:

ed ecco più andar mi tolse un rio
che ’nver sinistra con sue picciole onde
piegava l’erba che’n sua ripa uscio
Dante Alighieri: Divina Commedia, Purgatorio, canto XXVIII, 25-27

Wir betrachten einige Drucke in der Ausstellung, vor allem:
– Agostino Veneziano: Allegorie der Vertreibung aus dem Paradies und das Opfer Abels
– Cristofano di Michele, genannt Robetta: Adam und Eva mit Kain und Abel
– Sandro Botticelli: Das irdische Paradies. Dante und Matelda
– Giulio Campagnola: Die Buße des hl. Chrysostomus

Katalog: Arkadien. Paradies auf Papier. Landschaft und Mythos in Italien. Hgg. von Dagmar Korbacher. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014

 Posted by at 10:18
Apr 132013
 

2013-03-25 14.01.41

„Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!

Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen; höher noch als die Liebe zu Menschen ist die Liebe zu Sachen und Gespenstern.“

Also sang und summte einst Nietzsches Zarathustra. Ein klarer, schlagender Gegenentwurf zum Gebot der mosaischen Nächstenliebe, welches mehr oder minder abgewandelt dann auch im Christentum und im Islam weitergeführt wird!

Szenenwechsel!

„Wir steigen ALLE am Bahnhof Blissestraße aus! Jeder kümmert sich um sich selbst und seinen Nebenmann!“ So hörte ich mit lauter, angestrengter Stimme eine Lehrerin vor wenigen Wochen in der U7 zwischen Kleistpark und Berliner Straße ansagen. Die U7 war auch sehr voll, wie sonst hätte man sichern können, dass alle Schüler rechtzeitig ausstiegen? Mich brachte diese Ansage zum Nachdenken.

Jeder kümmert sich um sich selbst und seinen zufälligen Nebenmann!“ Diese Ansage der Berliner Grundschullehrerin, deren Zeuge ich zufällig wurde, scheint mir eine vollkommen alltagstaugliche Erklärung dessen, was zunächst und zumeist unter „Nächstenliebe“ gemeint ist. Die erste Hilfe, die der barmherzige Samariter leistet, ist nur ein mögliches Beispiel der Nächstenliebe. Nächstenliebe ist zunächst einmal etwas scheinbar Alltägliches, Triviales.

Die biblische Nächstenliebe ist im engeren Sinne keine „Liebe“ zu einem bestimmten einzelnen, sondern eine Grundhaltung der wechselseitigen Anteilnahme und Anerkennung, der wechselseitigen Solidarität und Fürsorge. Nächstenliebe ist kein Ding der Unmöglichkeit, sondern ein „leichtes Joch“ der Sorge für den Menschen und des Für-andere-Sorgens.

Von einer engeren persönlichen Beziehung zwischen dem Samariter und dem Verbrechensopfer ist bei Lukas keine Rede. Die Nächstenliebe beweist und bekräftigt sich in Handlungen, nicht in Bekenntnissen und nicht in Gefühlsausbrüchen.

Eine grandiose Verkennung, eine fulminante Missdeutung der biblischen Nächstenliebe liefert übrigens mein wirklich hochverehrter Sigmund Freud, den ich als einen der besten deutschen Schriftsteller und Geschichtenerzähler fast ebenso stark verehre und liebe wie den Autor des unsterblichen Romans „Josef und seine Brüder“.

Im Kapitel V seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ drückt Freud sein tiefes Befremden über die Forderung „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“ aus.

Warum sollen wird das? Was soll es uns helfen? Vor allem, wie bringen wir das zustande?“

So schüttelt Freud den Kopf. Das Gebot der Nächstenliebe erscheint ihm als etwas nahezu Übermenschliches, etwas der Menschennatur Zuwiderlaufendes, etwas im Grunde nicht Leistbares. Warum? „Wenn  ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen.“

Freud nimmt Anstoß am Gebot der Nächstenliebe, weil er es missversteht. Er hält das Gebot für unerfüllbar. Warum? Er setzt die „Nächstenliebe“, also das Sich-Kümmern um den Nächsten, mit der exklusiv wählenden Liebe zwischen Erwachsenen oder mit der natürlich sich einstellenden Liebe zwischen Eltern und Kind, zwischen Verwandten gleich. Doch genau das ist meines Erachtens nicht gemeint.

Die biblische Nächstenliebe Jesu ist nicht wählerisch, nicht auf Verwandtschaft, Leidenschaft oder Zugehörigkeit begründet, sie erstreckt sich gleichermaßen auf Gut wie auf Böse, auf Fremde wie auf die „eigenen Leute“.

Eine Spielart der Nächstenliebe ist übrigens, so meine ich, die gleichschwebende Aufmerksamkeit des zuhörenden Psychologen, das bedingungslose Annehmen des Nächsten, der eben in diesem Fall der Patient oder Klient ist. Auch wird der Psychoanalytiker nicht davon ausgehen, dass der Klient sich die Zuwendung oder „Nächstenliebe“ des Analytikers verdienen müsse. Und ebenso wenig wird der Analytiker unterscheiden zwischen den „guten“ und „bösen“ Anteilen der Erzählung.

Drei Beispiel für Nächstenliebe haben sich unserem Auge dargeboten:

1) Die Hilfe des zufällig vorbeikommenden barmerzigen Samariters für das Opfer der Straßenräuber
2) Das gegenseitige Aufeinander-Achten der Grundschüler in der U7 beim Aussteigen in der Blissestraße
3) Das bedingungslose Zuhören des Therapeuten in der Gesprächstherapie

Der Nächstenliebe haftet also im Gegensatz zur leidenschaftlichen Liebe zu Einzelnen stets etwas Zufälliges an, sie wird ohne Vorbedingungen geleistet, sie bedeutet keine Selbstaufopferung, sie fordert keinerlei emotionale Vorleistung, die der Gebende nicht zu geben bereit ist.

Niemand muss um der Erreichung eines höheren Ideals willen im Namen der Nächstenliebe ein übergroßes Opfer bringen. Sie ist kein Ding der Unmöglichkeit.

Sie ist das „leichte Joch“, das zu tragen durchaus zumutbar ist.

Zitate:

Friedrich Nietzsche: „Von der Nächstenliebe“, in: Also sprach Zarathustra: Die Reden Zarathustras, hier zitiert nach Projekt Gutenberg online:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/3248/27

Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Sigmund Freud: Werkausgabe in zwei Bänden. Band 2: Anwendungen der Psychoanalyse. Herausgegeben und mit Kommentaren versehen von Anna Freud und Ilse Grubrich-Simitis. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1978, S. 367-424, hier v.a. S. 398-399

„Das leichte Joch“: Matthäus-Evangelium Kapitel 11, 30
„Gleichnis vom barmherzigen Samariter“: Lukas-Evangelium Kapitel 10, 25-37

 Posted by at 23:44
Aug 302010
 

Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst.“ Wo steht denn das? Hebräische Bibel, Koran, Adenauer, Neues Testament?

Einen Heidenspaß bereitet es mir, immer wieder in Gespräche und in Texte dieses Blogs wörtliche Zitate aus Talmud und Hadithen, aus hebräischer Bibel und Faust, aus Aristoteles, Konrad Adenauer, Neuem Testament  oder Platon einzuweben.

Der Mediengestalter Oliver Wurm meint: In der Bibel steht eigentlich gutes Zeug drin. Deshalb druckt er die ihn anrührenden Stellen groß in einer Zeitschrift ab. Was ihn kalt lässt, druckt er klein. So berichtet es der aktuelle SPIEGEL auf S. 53. Genau so geschieht Kanonbildung. Genau so haben es die Kirchen zu allen Zeiten gemacht. Das Wichtige wird tausendfach wiederholt, ausgewählt, ausgemalt. Das weniger Wichtige wird nicht verkündet oder murmelnd überhuscht.

Selbst der Koran muss wohl so entstanden sein.  Kennt man hebräische Bibel und Neues Testament nicht, wird man den Koran und die Hadithe nicht verstehen können. Der Koran ist für uns nur verständlich als eine Fortschreibung älterer Traditionen, in die er hineingeschrieben ist.

Kennt man aber hebräische Bibel und Neues Testament nicht, wird man auch Karl Marx oder die Partei Die Grünen nicht verstehen können. Denn in der hebräischen Bibel (dem Alten Testament) wird erstmals klar und eindeutig der Gedanke der Nachhaltigkeit, der Gedanke der Schonung natürlicher Ressourcen, der Gedanken des Klima-, Boden- und Naturschutzes dargelegt.

Wem dieser Gedanke neu ist, dem empfehle ich Lamya Kaddors Kinderkoran. Da kann man dies alles leicht fassbar nachlernen.

Und das eingangs zitierte Gebot der Fremdenliebe? Steht in der hebräischen Bibel, dem Alten Testament der Christen. Moses.

 Posted by at 10:02
Jul 202010
 

Ein harter Brocken, was hier in der Überschrift steht! Dennoch gefällt mir dieser philosophisch-theologische Brocken. Immer wenn ich, der sehr schwach praktizierende, der sehr schlechte Knecht des Christentums mit Muslimen spreche oder mit ihnen bildhaft gesprochen zusammenrumple, wird mir das sofort klar, ebenso auch beim Studium der Hadithe, des Talmud oder der paulinischen Briefe.

Mehr oder minder zufällig finde ich daneben immer wieder Bundesgenossen in dieser Sicht, so etwa seit Jahren in Jacques Attali, oder neuerdings (?) auch in Angelika Neuwirth.

Angelika Neuwirth (FU Berlin) hat sich nämlich aufsehenerregend bei der Tagung „Beyond tradition“ in Münster hervorgetan.  Thema „Aufgeklärte islamische Theologie möglich in Deutschland?“ (FAZ, 16.07.2010, S. 34). Sie sagt,

der Koran sei sowohl in seiner überlieferten Textform als auch in seiner mündlichen Vorform vor allem als „europäisches Vermächtnis, als Auslegung und Neuformulierung bereits bekannter biblischer und nachbiblischer Traditionen zu betrachten. Inhaltlich handle es sich um eine ergebnisoffene Mitschrift von Diskussionen zwischen dem Propheten Mohammed und seinen Hörern. Es gelte demnach, den Koran als europäischen Grundtext in die (westliche) Spätantike-Vorstellung aufzunehmen.

Wow! Das entspricht genau meinem Empfinden, das entspricht genau meinem bildungspolitischen Programm für Berlins Grundschüler. Koran ist also Bestandteil der europäischen Überlieferung ebenso wie frühchristliche Literatur, da sowohl Christentum wie später Islam aus der
Verschmelzung von „Jerusalem“ und „Athen“ hervorgehen.

Welch ungeheure Chance böte sich den Berliner Grundschulen, wenn sie altgriechische, jüdische, islamische und christliche Geschichten in ihren Lesestoff aufnähmen! Ulysses meets Mohammed. THAT is IT. Sie, die Berliner Stadtgesellschaft, erwürbe sich nahezu ewigen Ruhm, wenn sie die unselige Spaltung zwischen muslimischen und nichtmuslimischen („christlichen“) Kindern überwände.

Aber sie tut es nicht. Sie scheut die Grundtexte der europäischen Überlieferung wie der Teufel das Weihwasser.

Koran kann gelesen werden wie die Vorlesungsmitschriften etwa des Aristoteles. Und in der Tat gab es im 11. bis 12. Jahrhundert eine Hochblüte arabischer Gelehrsamkeit, die genau das versuchte – die Synthese koranischen und aristotelischen Wissens.

Spannend, spannend … aber noch nicht Allgemeingut.

Bild: Sowjetisches Ehrenmal für den „Ewigen Ruhm“ in russischer Sprache, Ort: Erkner, Neu-Zittauer Straße.

 Posted by at 11:35
Apr 212009
 

Den obigen Ausruf mögen die älteren unter den Leserinnen noch kennen. Ich hörte ihn in höchster Erregung vorgetragen als Sechstklässler, als wir bildungsfernen Rabauken mal wieder Rabatz schlugen, ehe der erwartete Lehrer endlich erschien, um mit dem Lateinunterricht zu beginnen. Er schalt uns tüchtig: „IST hier jetzt gleich Ruhe, hier geht’s ja zu wie in der JUDENSCHUL!“

Was steckt hinter dieser Redewendung? „Schul“, das ist im Jiddischen der Ausdruck für Synagoge, also für das Versammlungshaus der jüdischen Gemeinde. Das jiddische Wort kommt aus dem deutschen Wort „Schule“, weil die Synagoge selbstverständlich nicht nur Versammlungshaus, sondern auch auch Lernort, eine Stätte der Wissensweitergabe war. Die Judenschul, das war die Synagoge. Unser deutsches Wort Schule wiederum stammt von lateinisch schola, die Schule, ab, welches seinerseits wiederum aus dem griechischen σχολή, die Muße, die freie Zeit stammt.

Die Juden lehren und lernen ihre grundlegenden Schriften bis zum heutigen Tage durch individuelles, halblautes Lesen, durch ständiges wechselseitiges Befragen, es wird häufig in einem vielstimmigen Stimmengewirr rezitiert, geredet,  gestritten. In Rede und Gegenrede wird um die rechte Auslegung gerungen. Der Lehrer schreitet durch die Lernenden hindurch, wird selbst zum beständig Lernenden. Für den draußen Vorbeigehenden ergab sich ein unerträgliches, chaotisches Durcheinander – die Judenschul ist ein vielstimmiges Klanggebilde, aus dem allerlei Unverständliches herausdringt.

Was ist das Ergebnis der Judenschul, dieser Art des vielstimmigen Lernens in einem gemeinsamen Lernort? Man werfe einen Blick auf die Statistik der Nobelpreisträger, der Schriftsteller, Musiker und Wissenschaftler, und man wird erkennen: In allen Bereichen, wo es besonders stark auf die Weitergabe, Vermittlung und produktive Anwendung von Wissen und Erkenntnis geht, sind Juden seit Jahrhunderten weit überdurchschnittlich vertreten.  Ich führe das vor allem darauf zurück, dass bei den Juden seit der Antike höchst effiziente, selbstgesteuerte Formen des gemeinschaftlichen Lernens und Lehrens gehegt werden. Ein besonders beeindruckendes Monument dieses Lernens-Lehrens ist übrigens der Talmud. Und Talmud heißt auf hebräisch nichts anderes als Lernend-Lehren oder auch Lehrend-Lernen.

Neben der Akademie Platons halte ich die Judenschul für eines der großen wegweisenden Modelle des selbstgesteuerten, in Rede und Gegenrede sich entfaltenden Lernens, wie es neuerdings seit einigen Jahrzehnten wieder vermehrt gefordert wird. Zwischenfrage: Wieso sagt das Blog hier „neuerdings, seit einigen Jahrzehnten“? Antwort: Wir denken hier selbstverständlich in Jahrtausenden, nicht in Legislaturperioden. Selbst 30 Jahre taz sind noch nicht so arg viel. Wodurch wir zum gestern erwähnten taz-Forum über das heilige deutsche Gymnasium zurückkommen. Immer wieder wurde dort verlangt, die Schülerinnen sollten einander lehren, die Stärkeren sollten die Schwächeren mitnehmen und ähnliches mehr.

Mehrere Lernvorgänge sollen gleichzeitig ablaufen: Binnendifferenzierter Unterricht, so lautet das Gebot der Stunde. Der binnendifferenzierte, auf den indivduellen Lernfortschritt abgestimmte Unterricht wird unabweisbar, wenn Kinder aus verschiedenen Milieus aufeinandertreffen: der Schüler, der stundenlang an der Video-Konsole Ego-Shooter spielt, der deutsche Jugendliche mit seinen statistisch nachgewiesenen 213 Minuten täglichem Fernsehkonsum trifft auf die Schülerin, die mit 7 Jahren selbständig ganze Bücher in den beiden Erstsprachen Polnisch und Deutsch flüssig vorlesen kann.

Genau das scheint auch der Autor und Journalist Christian Füller, der sich gestern zu meiner großen Freude in diesem Blog zu Wort meldete, mit seinem Buch Die Gute Schule im Sinn zu haben. Denn es gibt gute Schulen! Füller schreibt:

Leseprobe Die Gute Schule
Die guten Schulen haben ihr Kerngeschäft reformiert: das Lernen der Schüler. Ihr großes Ziel ist es, die Machtverhältnisse des Lernens zu verändern. Sie versuchen, ihre Schüler aus der Rolle von Objekten der Beschulung zu befreien – und zu Subjekten ihres Lernens werden zu lassen. Schüler werden dort als kleine Forscher gesehen, die ihren Wissenserwerb, ihre Kompetenzfortschritte und ihre Lernprojekte selbst mitsteuern sollen. Dieser neue Lernstil hat einen Namen, er heißt individuelles und selbständiges Lernen. …

Da haben wir’s! Unabhängig davon, ob wir diesen Lernstil neu oder uralt nennen, ob wir ihn binnendifferenzierten Unterricht nennen oder in die alte Spruchweisheit Docendo discimusDurch Lehren lernen wir – kleiden: Immer geht es darum, dass die Lernenden in die Freiheit des selbstständigen Fragens, Redens und Widerredens hinein entlassen werden.

Letzte Frage: Was kostet das? Antwort: Diese neue, uralte Art des Lernens ist viel billiger als der einseitige Frontalunterricht, weil sie weniger Räumlichkeiten erfordert, weil die Lernenden weniger Betreuung brauchen, weil insgesamt weniger „angeboten“ und mehr „verlangt“ wird. Ein üppiges Medienangebot ist ebenfalls nicht nötig.

Die entscheidenden Arbeitsmittel sind: geschriebene Texte, also Bücher und Hefte. Ferner: der eigene Kopf. Weitere Arbeitsmittel: Schreibwerkzeuge, also Papier und Stift. Wichtigste Techniken des Arbeitens: Vorlesen, Lesen, Einprägen, Erinnern, Schreiben, Zuhören, Sprechen, Fragen, Antworten. Wichtigste Grundhaltung: Aufmerken – Mitmachen – Selbermachen. Die neue Schule ist nicht teuer. Sie ist arm und sie soll arm sein. Mindestens in den Augen der heute allesamt sehr reichen Schüler mit ihrem vielfältigen Zerstreuungsangebot: Handys, Internet, I-Pod. Die heutigen deutschen Schulen sind unvorstellbar reich und teuer im Vergleich zu den Schulen anderer Länder und anderer Zeiten, die mit wesentlich weniger Geld bessere Lern-Erfolge erzielten (etwa in der multiethnischen Sowjetunion).

Also – ja zur Judenschul, ja zur Akademie, ja zum binnendifferenzierten Unterricht! Meinem Lateinlehrer aus der sechsten Klasse, einem Benediktinerpater, danke ich noch heute. Denn er hat meine Neugierde für Latein geweckt und gepflegt – und auch für die Judenschul. Er hätte nicht in Zorn geraten müssen ob unseres Rabaukentums. Denn es steht geschrieben in Psalm 112: Wenn Schlimmes gehört wird, so braucht er sich nicht davor zu fürchten. 

 Posted by at 12:44
Sep 262007
 

Gestern besuchte ich die Vorführung des Films „Hamburger Lektionen“ von Romuald Karmakar. Manfred Zapatka liest mit einer betörend eindringlichen Stimme und sprechendem Mienenspiel die deutsche Übersetzung von zwei Predigten des Hamburger Imams Mohammed Fazazi. Eine großartig-einprägsame Darstellung eines bestürzenden Texts! Die deutsche Übersetzung arbeitet immer wieder den gemeinsamen Wortschatz und die ähnlichen Redehaltungen bei Christentum, Islam und Judentum heraus. Ich fühle mich anheimelnd berührt durch die Anreden und die hin und her erwägenden Antworten, die ich so aus den paulinischen Briefen und aus dem Talmud kenne. „Soll ich, wenn ich den Ramadan in Marokko beginne und dann nach Deutschland fliege, den marokkanischen Ramadan-Kalender befolgen oder den deutschen? – Antwort: Befolge den deutschen. Denn es heißt: Fastet, wenn die Leute fasten. Brecht das Fasten, wenn die Leute das Fasten brechen.“

In der anschließenden Diskussion werden Gemeinsamkeiten zwischen dem geschlossenen Weltbild dieses islamistischen Predigers und den europäischen Hexenverfolgungen oder Kreuzzugspredigten herausgehoben. Zapatka gesteht, dass er manches auch gut finde an den Reden des Predigers, etwa seine sorgfältige Erörterung der ihm vorgelegten Fragen. Mehrere Menschen im Publikum hoben das Dialogische, Unabgeschlossene der Predigt-Situation hervor.

Leider fehlte in der Volksbühne völlig die Stimme der deutschen Muslime. Kein einziger Berliner Moslem erhob sich um zu sagen: „Das ist nicht unser Islam.“ Hätte man eine Kamera auf die Debatte gehalten und dann einem Islamisten vorgeführt, hätte er sich wohl ebenso befremdet gefühlt wie das Volksbühnen-Publikum. „Das sind die Ungläubigen in ihrem geschlossenen Weltbild“, würde er wohl sagen. Die beiden Welten reden also viel übereinander, aber sehr selten miteinander. Schade. Berlin ist doch eine durch Muslime mitgeprägte Stadt. Trotz der erschütternden fanatischen Haltung des Predigers ein großer Abend, der noch lange in mir nachklingt! Ein mutiger, bewundernswerter Film. Kam erst um Mitternacht nachhause.

 Posted by at 21:46