Apr 212009
 

Den obigen Ausruf mögen die älteren unter den Leserinnen noch kennen. Ich hörte ihn in höchster Erregung vorgetragen als Sechstklässler, als wir bildungsfernen Rabauken mal wieder Rabatz schlugen, ehe der erwartete Lehrer endlich erschien, um mit dem Lateinunterricht zu beginnen. Er schalt uns tüchtig: „IST hier jetzt gleich Ruhe, hier geht’s ja zu wie in der JUDENSCHUL!“

Was steckt hinter dieser Redewendung? „Schul“, das ist im Jiddischen der Ausdruck für Synagoge, also für das Versammlungshaus der jüdischen Gemeinde. Das jiddische Wort kommt aus dem deutschen Wort „Schule“, weil die Synagoge selbstverständlich nicht nur Versammlungshaus, sondern auch auch Lernort, eine Stätte der Wissensweitergabe war. Die Judenschul, das war die Synagoge. Unser deutsches Wort Schule wiederum stammt von lateinisch schola, die Schule, ab, welches seinerseits wiederum aus dem griechischen σχολή, die Muße, die freie Zeit stammt.

Die Juden lehren und lernen ihre grundlegenden Schriften bis zum heutigen Tage durch individuelles, halblautes Lesen, durch ständiges wechselseitiges Befragen, es wird häufig in einem vielstimmigen Stimmengewirr rezitiert, geredet,  gestritten. In Rede und Gegenrede wird um die rechte Auslegung gerungen. Der Lehrer schreitet durch die Lernenden hindurch, wird selbst zum beständig Lernenden. Für den draußen Vorbeigehenden ergab sich ein unerträgliches, chaotisches Durcheinander – die Judenschul ist ein vielstimmiges Klanggebilde, aus dem allerlei Unverständliches herausdringt.

Was ist das Ergebnis der Judenschul, dieser Art des vielstimmigen Lernens in einem gemeinsamen Lernort? Man werfe einen Blick auf die Statistik der Nobelpreisträger, der Schriftsteller, Musiker und Wissenschaftler, und man wird erkennen: In allen Bereichen, wo es besonders stark auf die Weitergabe, Vermittlung und produktive Anwendung von Wissen und Erkenntnis geht, sind Juden seit Jahrhunderten weit überdurchschnittlich vertreten.  Ich führe das vor allem darauf zurück, dass bei den Juden seit der Antike höchst effiziente, selbstgesteuerte Formen des gemeinschaftlichen Lernens und Lehrens gehegt werden. Ein besonders beeindruckendes Monument dieses Lernens-Lehrens ist übrigens der Talmud. Und Talmud heißt auf hebräisch nichts anderes als Lernend-Lehren oder auch Lehrend-Lernen.

Neben der Akademie Platons halte ich die Judenschul für eines der großen wegweisenden Modelle des selbstgesteuerten, in Rede und Gegenrede sich entfaltenden Lernens, wie es neuerdings seit einigen Jahrzehnten wieder vermehrt gefordert wird. Zwischenfrage: Wieso sagt das Blog hier „neuerdings, seit einigen Jahrzehnten“? Antwort: Wir denken hier selbstverständlich in Jahrtausenden, nicht in Legislaturperioden. Selbst 30 Jahre taz sind noch nicht so arg viel. Wodurch wir zum gestern erwähnten taz-Forum über das heilige deutsche Gymnasium zurückkommen. Immer wieder wurde dort verlangt, die Schülerinnen sollten einander lehren, die Stärkeren sollten die Schwächeren mitnehmen und ähnliches mehr.

Mehrere Lernvorgänge sollen gleichzeitig ablaufen: Binnendifferenzierter Unterricht, so lautet das Gebot der Stunde. Der binnendifferenzierte, auf den indivduellen Lernfortschritt abgestimmte Unterricht wird unabweisbar, wenn Kinder aus verschiedenen Milieus aufeinandertreffen: der Schüler, der stundenlang an der Video-Konsole Ego-Shooter spielt, der deutsche Jugendliche mit seinen statistisch nachgewiesenen 213 Minuten täglichem Fernsehkonsum trifft auf die Schülerin, die mit 7 Jahren selbständig ganze Bücher in den beiden Erstsprachen Polnisch und Deutsch flüssig vorlesen kann.

Genau das scheint auch der Autor und Journalist Christian Füller, der sich gestern zu meiner großen Freude in diesem Blog zu Wort meldete, mit seinem Buch Die Gute Schule im Sinn zu haben. Denn es gibt gute Schulen! Füller schreibt:

Leseprobe Die Gute Schule
Die guten Schulen haben ihr Kerngeschäft reformiert: das Lernen der Schüler. Ihr großes Ziel ist es, die Machtverhältnisse des Lernens zu verändern. Sie versuchen, ihre Schüler aus der Rolle von Objekten der Beschulung zu befreien – und zu Subjekten ihres Lernens werden zu lassen. Schüler werden dort als kleine Forscher gesehen, die ihren Wissenserwerb, ihre Kompetenzfortschritte und ihre Lernprojekte selbst mitsteuern sollen. Dieser neue Lernstil hat einen Namen, er heißt individuelles und selbständiges Lernen. …

Da haben wir’s! Unabhängig davon, ob wir diesen Lernstil neu oder uralt nennen, ob wir ihn binnendifferenzierten Unterricht nennen oder in die alte Spruchweisheit Docendo discimusDurch Lehren lernen wir – kleiden: Immer geht es darum, dass die Lernenden in die Freiheit des selbstständigen Fragens, Redens und Widerredens hinein entlassen werden.

Letzte Frage: Was kostet das? Antwort: Diese neue, uralte Art des Lernens ist viel billiger als der einseitige Frontalunterricht, weil sie weniger Räumlichkeiten erfordert, weil die Lernenden weniger Betreuung brauchen, weil insgesamt weniger „angeboten“ und mehr „verlangt“ wird. Ein üppiges Medienangebot ist ebenfalls nicht nötig.

Die entscheidenden Arbeitsmittel sind: geschriebene Texte, also Bücher und Hefte. Ferner: der eigene Kopf. Weitere Arbeitsmittel: Schreibwerkzeuge, also Papier und Stift. Wichtigste Techniken des Arbeitens: Vorlesen, Lesen, Einprägen, Erinnern, Schreiben, Zuhören, Sprechen, Fragen, Antworten. Wichtigste Grundhaltung: Aufmerken – Mitmachen – Selbermachen. Die neue Schule ist nicht teuer. Sie ist arm und sie soll arm sein. Mindestens in den Augen der heute allesamt sehr reichen Schüler mit ihrem vielfältigen Zerstreuungsangebot: Handys, Internet, I-Pod. Die heutigen deutschen Schulen sind unvorstellbar reich und teuer im Vergleich zu den Schulen anderer Länder und anderer Zeiten, die mit wesentlich weniger Geld bessere Lern-Erfolge erzielten (etwa in der multiethnischen Sowjetunion).

Also – ja zur Judenschul, ja zur Akademie, ja zum binnendifferenzierten Unterricht! Meinem Lateinlehrer aus der sechsten Klasse, einem Benediktinerpater, danke ich noch heute. Denn er hat meine Neugierde für Latein geweckt und gepflegt – und auch für die Judenschul. Er hätte nicht in Zorn geraten müssen ob unseres Rabaukentums. Denn es steht geschrieben in Psalm 112: Wenn Schlimmes gehört wird, so braucht er sich nicht davor zu fürchten. 

 Posted by at 12:44

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