Die weihnachtliche Abendmeditation nimmt ihren Ausgang von einer zufällig aufgelesenen Frage im Interview (Südeutsche Zeitung heute, S. 2):
Erzbischof Zollitsch – „Manches wird uns noch weh tun“ – Politik – sueddeutsche.de
SZ: Der Psychologe und Theologe Manfred Lütz hat von einem kollektiven Vaterproblem gesprochen
So lautet eine Frage im Interview mit Erzbischof Robert Zollitzsch.
Ein kollektives Vaterproblem? Sind wir eine vaterkranke Gesellschaft?
Ja. Ich halte dieses kollektive Vaterproblem, das allerdings eher ein Vater-Sohn-Problem ist, für eins der bestgehüteten, aber doch offenbaren Geheimisse. Es steht an der Wurzel einer Vielzahl an gesellschaftlichen und politischen Notlagen.
Nur ein, ebenfalls zufällig herausgegriffener Beleg: Berlin diskutiert derzeit intensiv über Intensivtäter, also jene Kinder und Jugendlichen oder auch jungen erwachsenen Männer, die dutzendfach oder auch hundertfach Straftaten begehen, immer wieder eingefangen und milde bestraft werden, dann wieder holterdipolter entlaufen, oder einfach losgelassen werden.
Jetzt soll ein geschlossenes Heim für Intensivtäter in Berlin entstehen (vgl. etwa taz vom 22.12.2010):
„Das neue Heim soll bis Sommer 2011 eröffnet und von der Stiftung soziale Dienste (FSD) und dem Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) betrieben werden. Der genaue Standort werde noch geprüft. Vorgesehen sind sechs Krisenplätze, die pro Kind und Tag rund 300 Euro kosten werden. Es sei gewährleistet, dass die delinquenten Kinder „nicht einfach wieder weglaufen können“, versicherte Zöllner. Die Unterbringung sei aber nur vorübergehend. Spätestens nach sechs Monaten in dem Heim soll eine langfristige Unterkunft für die Kinder gefunden sein.“
Was ist Problem dieser Intensivtäter?
Persönlich kenne ich zwar nur eine Intensivtäter-Familie, aber durch behutsames Eingehen und durch Nachfragen, auch bei Fachkräften der psychosozialen Versorgung meines weiteren Bekanntenkreises ergibt sich mir folgendes Bild, das mehr oder minder auf die meisten (vermutlich aber alle) Intensivtäter zutreffen dürfte:
Die Jungen kommen aus Familien, in denen es an nichts so sehr fehlt wie an einem guten Vater. Es fehlt der gute Vater als Erzieher der Söhne. Die Mütter sind heillos überfordert, zumal sie häufig viele Kinder haben. Bleiben sie sich selbst überlassen? Nein! Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Amtsmitarbeiterinnen werden meist recht früh aufmerksam, ordnen kleinere erzieherische Maßnahmen oder Betreuung an.
Recht oft ergibt sich ein dichtgewebtes Netz an Hilfe, an Fürsorge, „aufsuchender Sozialarbeit“, Terminen und Gesprächen beim Amt oder beim Familiengericht. Zuletzt auch beim Jugendrichter oder beim Strafrichter.
Die Jungen werden meist sehr früh auffällig, etwa durch ständige Regelverstöße ab dem Kita-Alter, durch kleinere Frechheiten und Regelverstöße, die in der Summe ungeahndet bleiben. Nach und nach bauen sich die Jungen etwas auf: ein superstarkes Ego. Kontakte, ältere Brüder dienen als negatives Vorbild. Und der gute Vater fehlt. Es fehlt die grenzensetzende Autorität der Väter. Die Mütter und überhaupt Frauen werden als Grenzzieherinnen nicht akzeptiert.
Der mütterliche, der fürsorgliche Staat versucht es nun im Guten: Die Jungen werden mit einer ganzen Latte an Maßnahmen „bespielt“. Die Jungen machen es gerne mit. Aber das Verhalten wird sich dadurch nur in seltenen Fällen ändern. In den meisten Fällen schleift sich eine kriminelle Karriere nach und nach ein, völlig unabhängig von der Bespielung durch fürsorgerische und weiblich-pflegerische Maßnahmen.
Als Endstation wird nunmehr in der Berliner Landespolitik das geschlossene Heim diskutiert. Ein für die Gemeinschaft extrem teurer Schlusspunkt unter eine Kette von für sich ebenfalls teuren Einzelfallmaßnahmen!
Geht es anders? Ich meine: ja!
Ich bin numehr zur Überzeugung gelangt, dass den Jungen nur durch den vorübergehenden oder längerdauernden Anschluss an einen festen, unbedingt an einen männlichen Vater-Ersatz oder Ersatz-Vater zu helfen ist. Es muss ein Mann sein, und es muss ein gleichbleibender, mit Autorität und Strenge begabter Erzieher sein. Der Erzieher muss fest im Leben des Jungen verankert sein. Bei Auswahl und Leitung kann der Staat helfen. Der russische Pädagoge Makarenko hat ähnliches für schwerstkriminelle Jugendliche vorgeschlagen und erfolgreich umgesetzt.
Ideallösung in meinen Augen ist weder das geschlossene Heim noch das geschlossene Erziehungslager etwa eines Makarenko („Boot-Camp“), sondern die amtliche Zuweisung einer Art „Adoptiv-Familie“, in die die Jungen nach und nach zusätzlich zu ihrer Herkunftsfamilie integriert werden. Im Gegensatz zu den „Stadtteilmüttern“ oder freiwilligen „Patenschaften“, wie sie etwa Neukölln praktiziert, wäre dieses neuartige Modell der Adoptiv-Familie verpflichtend durch das Jugendamt oder das Jugendgericht vorzuschreiben. Die Adoptiv-Familie müsste unbedingt aus Mutter und Vater bestehen. Sie sollte, muss aber nicht derselben Religion oder Volksgruppe angehören wie der Intensivtäter.
Die Adoptivfamilie müsste im Laufe der Wochen, Monate und Jahre recht weitgehend in das Leben der Familie des Intensivtäters hineinreichen. Das verlangt Vertrauen, das erst allmählich gebildet werden kann. Hauptaufgabe: Zeit sinnvoll gliedern, Zeit anfüllen, nach und nach Identifikation mit dem Vater-Ich herstellen.
Idealerweise wird der Ersatzvater solche Autorität gewinnen, dass sein Wort, sein Verbot gilt: „HANDLE NICHT MIT DROGEN! HALTE DICH AN DIE GESETZE!“
Es liegt auf der Hand: Wenn das Wort, das Verbot des Vaters solches Gewicht hätte, dass der Junge es befolgte, wird er das Schattenreich der Staftaten verlassen und ins Reich der Gesetzestreue, ins symbolische „Reich des Vaters“ hinüberwandern.
Ich wage folgende Behauptung: Nur über die bewusst herbeigeführte Identifikation mit einem als vorbildlich empfundenen Mann wird es dem Intensivtäter gelingen, seine Karriere als Intensivtäter beizeiten zu unterbrechen.
Wer kann dieses Vorbild sein? Viele! Es kann auch ein Lehrer sein, ein Sozialarbeiter, ein Imam, ein Fußballtrainer – oder eben, wenn es nicht anders geht, der Vater einer „Adoptiv-Familie“.
Wichtig ist: es muss über einen längeren Zeitraum ein und derselbe Mann sein, an dem sich der Jugendliche „abarbeitet“. Nur durch diese Konstanz kann der Jugendliche nach und nach ein stabiles männliches Ich aufbauen.
Das Adoptiv-Familienmodell unter Beibehaltung und Einbeziehung der Herkunftsfamilie gibt es meines Wissen nach deutschem Recht derzeit noch nicht. Ich kenne jedoch die SOS-Kinderdörfer, bei denen etwas Verwandtes versucht wird. Deren Erfahrungen gilt es abzurufen.
Systematische, extrem zeitnah erfolgende Repression durch Polizei und Justiz werden nicht überflüssig, aber sie sind nur ein Baustein in einer dichtgeknüpften wachsamen Kette, deren früher Beginn – wie gesagt – das bewusste Heranführen, das bewusste Einführen einer väterlichen Autorität in den Alltag des gefährdeten und gefährdenden Jungendlichen ist. Sind die Väter der Straftäter noch da, dann müssen sie in jedem Fall mit einbezogen werden!
Aber, wie gesagt, die Väter sind häufig nicht da, haben sich abgesetzt oder sitzen selbst im Gefängnis.
Wenn es nicht gelingt, die Jungen durch väterliche Autorität gewissermaßen umzupolen, besteht die Gefahr der Verfestigung krimineller Strukturen. Dann bilden sich stabile Netzwerke, die letztlich vor unseren Augen zu einer Art selbsterzeugter, einer Berliner „Homegrown-Mafia“ nach süditalienischem Typ führen können. Eine derartige weitverzweigte, über viele Generationen sich erstreckende Mafia gibt es derzeit in unseren heimischen Berliner Sippen wohl noch nicht, aber sie droht zu entstehen.
Das kollektive Vaterproblem unserer Gesellschaft, von dem Menschen wie Manfred Lütz, Kirsten Heisig, Wolfgang Schenk, Ahmet Toprak, Necla Kelek, Wassilios Fthenakis und viele andere gesprochen haben, spiegelt sich als individuelles, tragisches Vaterproblem einzelner junger Männer. Sie sollen hier die Vaterkranken genannt werden.
Wir sind aufgerufen, diesen Menschen durch starke Ersatz-Väter den Ausstieg aus kriminellen Karrieren zu ermöglichen. Das hier vorgeschlagene Modell der „Adoptiv-Familie“ versteht sich als erster Baustein dazu.