Wir wollen heute nicht über den Frieden sprechen, denn im Augenblick bedroht uns unmittelbar kein Krieg. Aber sage mir doch, du, ja, du da, der du dies liest, sage mir doch: Was ist dir, neben dem Frieden, der wichtigste Wert, der dein persönliches Streben, der dein politisches Handeln leiten sollte?
Ist es Sicherheit, ist es Gleichheit aller, ist es die Gerechtigkeit, ist es der Umweltschutz, der Kampf gegen den Klimawandel, ist es das Erreichen niedriger Inzidenzwerte, ist es die größtmögliche Gesundheit möglichst vieler, ist es die Abwehr von schweren lebensbedrohlichen Krankheiten, ist es das Erreichen des höchstmöglichen Lebensalters für möglichst alle?
Ist es das Funktionieren unserer Gesundheitssysteme, ist es der Schutz vor Krankheit, ist es der Schutz vor dem Sterben, ist es der Schutz vor der Angst vor dem Sterben?
Kürzlich holte ich meinen von Moskau anreisenden Sohn vom Flughafen Willy Brandt ab. Wartend, war ich versunken in das Nachdenken über die oberen Leitwerte, welche derzeit unsere politische Debatte bestimmen. Mal wird da Sicherheit vor schwerer Krankheit als oberster Wert ausgegeben, mal das Funktionieren unserer Gesundheitssysteme, mal auch wiederum der Bestand der systemrelevanten Berufszweige, dann wiederum die Vernichtung aller Viren, die dem Menschen je bedrohlich werden könnten, dann die Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten durch die Gesundheitsämter. Dann ein emissionsfreies Wirtschaften. Die Politik will oder soll machen, dass die Menschen keine Angst vor Unglück, vor schwerer Krankheit zu haben brauchen. Das Verfolgen dieser, solcher oder ähnlicher obersten Ziele allen politischen Handelns rechtfertigt tiefe Eingriffe in die verfassungsmäßigen Grundrechte des einzelnen.
Wie fremd, wie merkwürdig, wie zutiefst unzeitgemäß muss hingegen die Antwort Willy Brandts erscheinen, die er für sich ganz persönlich und als öffentliches Bekenntnis an einem entscheidenden Endpunkt seines gesamten politischen Lebens gab, nämlich bei seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender am 14. Juni 1987, beim außerordentlichen Parteitag der SPD in der Bonner Beethovenhalle. Was für eine Zumutung ist dieses Bekenntnis doch! Willy Brandt sagte damals:
„Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung.„
Bilder: Innenaufnahmen aus dem Willy-Brandt-Flughafen, 26. November 2020
Leseempfehlung:
Rede Willy Brandts in der Bonner Beethovenhalle beim Außerordentlichen Parteitag der SPD, 14. Juni 1987
https://www.willy-brandt-biografie.de/wp-content/uploads/2019/09/WB_Abschiedsrede_1987.pdf