Am heutigen Dante-Tag, dem Dantedì, den eines meiner europäischen Vaterländer heute, am 25. März, zum ersten Mal ausgerufen hat, stolperte ich mehr oder minder zufällig im 17. Gesang des Purgatorio hinein in sechs Verse, in denen Dantes Vergil die Möglichkeit des Selbsthasses bestreitet:
Or, perché mai non può da la salute
amor del suo subietto volger viso,
da l’odio proprio son le cose tute;
e perché intender non si può diviso,
e per sé stante, alcuno esser dal primo,
da quello odiare ogne effetto è deciso.
Streckfuß übersetzt die Stelle (V. 106-111) einigermaßen sinngetreu:
Nun, weil ob ihres Gegenstands sich freu’n
Die Liebe muß, an dessen Heil sich weiden,
Drum hat kein Ding den Selbsthaß je zu scheu’n!
Und weil kein Sein sich kann vom Ursein scheiden
Und ohne dieses für sich selbst bestehn,
Muß dies zu hassen jeder Trieb vermeiden.
In groben Umrissen ist der – mit Thomas von Aquin zu deutende – Gedankengang Dantes also folgender: Eine Art wohlwollende Befürwortung des Seins, ein Drang zueinander, in einem Wort: Liebe, deren letzter Ursprung Gott ist, treibt die Welt an, nur durch die Liebe hat alles Geschaffene Gestalt und Gehalt. Geschaffenes, das sich selbst hasst, sich selbst ablehnt oder verwirft, ist eine logische Unmöglichkeit, da eben alles Geschaffene aus der Liebe Gottes entspringt.
Muss man so denken, ist dies logisch zwingend?
Ricordatevi lettori, ihr seid unterrichtet, dass es über die Jahrtausende hin durchaus eine breite Spur an Denkern, Theologen, Psychologen und Sozialpsychologen gibt, die ganz im Gegensatz zu Thomas von Aquin und Dante dem Selbsthass, der Selbstverwerfung, der Selbstablehnung nicht nur die logische Möglichkeit, sondern sogar eine geradezu unvermeidliche Stufe des Selbstverhältnisses zuschreiben.
Aurelius Augustinus, Martin Luther, die Jesus-Worte in Lukas 14,26 oder auch Johannes 12,25 – (Belege sind reichlich in diesem Blog unter der Rubrik Selbsthaß angeführt) – fallen einem sofort in diesem Zusammenhang ein; auch der heute stark ausgeprägte, teilweise suizidale Selbsthass in Teilen der deutschen Kultur ist ein nicht wegzuleugnendes Phänomen, das der Erklärung bedarf!
Dante würde zweifellos gegenüber solchen erstarrten Selbstverwerfungen stets seine Idee der „Läuterung“, also der verwandelnden Erhellung des Seelendunkels in Anschlag bringen. Er würde nachweisen – und er erbringt ja auch den poetischen Beweis in seiner Commedia -, dass der Selbsthaß keinen Bestand hat. Der Hass, auch der Selbsthass, dessen Möglichkeit Dante bestreitet, ist eine vorübergehende Selbsttäuschung. Er schmilzt vor der Sonne weg. Das Seelendunkel wird sich aufhellen.
Nicht zufällig beginnt der 17. Gesang des Läuterungsberges mit einem grandiosen Chiaroscuro-Spiel, einem Ineinanderfließen von Verschattung, von maulwurfshaft verschlossenem, dunkel waberndem Sumpfhauch und mählich durchdringendem Sonnenlicht:
Ricorditi, lettor, se mai ne l’alpe
ti colse nebbia per la qual vedessi
non altrimenti che per pelle talpe,
come, quando i vapori umidi e spessi
a diradar cominciansi, la spera
del sol debilemente entra per essi;
e fia la tua imagine leggera
in giugnere a veder com’io rividi
lo sole in pria, che già nel corcar era.
Die Aufhellung dieser seelischen Verdunkelung, als die Dante den Hass wie jede Sünde begreift, ist das große Geschehen in diesem 17. Gesang. Mit diesem tröstlichen Gedanken beenden wir den heutigen Dantedì und erwarten das Chiaroscuro der nächtlichen Träume.
Quellentexte:
https://divinacommedia.weebly.com/purgatorio-canto-xvii.html
https://de.wikisource.org/wiki/Göttliche_Komödie_(Streckfuß_1876)/Purgatorio