„Da l’odio proprio son le cose tute“. Ist Selbsthaß möglich?

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Mrz 252020
 
Aufwärts strebt der Baum, der Sonne entgegen; sie ist hier nicht sichtbar, aber sie IST; von ihr rührt alles pflanzliche Sein. Auch die Mistel hat ihre Berechtigung; sie ist nicht böse, ist kein Schädling, denn sie IST.

Am heutigen Dante-Tag, dem Dantedì, den eines meiner europäischen Vaterländer heute, am 25. März, zum ersten Mal ausgerufen hat, stolperte ich mehr oder minder zufällig im 17. Gesang des Purgatorio hinein in sechs Verse, in denen Dantes Vergil die Möglichkeit des Selbsthasses bestreitet:

Or, perché mai non può da la salute 
amor del suo subietto volger viso, 
da l’odio proprio son le cose tute;                                

e perché intender non si può diviso, 
e per sé stante, alcuno esser dal primo, 
da quello odiare ogne effetto è deciso.  

Streckfuß übersetzt die Stelle (V. 106-111) einigermaßen sinngetreu:

Nun, weil ob ihres Gegenstands sich freu’n
Die Liebe muß, an dessen Heil sich weiden,
Drum hat kein Ding den Selbsthaß je zu scheu’n!
Und weil kein Sein sich kann vom Ursein scheiden
Und ohne dieses für sich selbst bestehn,
Muß dies zu hassen jeder Trieb vermeiden.

In groben Umrissen ist der – mit Thomas von Aquin zu deutende – Gedankengang Dantes also folgender: Eine Art wohlwollende Befürwortung des Seins, ein Drang zueinander, in einem Wort: Liebe, deren letzter Ursprung Gott ist, treibt die Welt an, nur durch die Liebe hat alles Geschaffene Gestalt und Gehalt. Geschaffenes, das sich selbst hasst, sich selbst ablehnt oder verwirft, ist eine logische Unmöglichkeit, da eben alles Geschaffene aus der Liebe Gottes entspringt.

Muss man so denken, ist dies logisch zwingend?

Ricordatevi lettori, ihr seid unterrichtet, dass es über die Jahrtausende hin durchaus eine breite Spur an Denkern, Theologen, Psychologen und Sozialpsychologen gibt, die ganz im Gegensatz zu Thomas von Aquin und Dante dem Selbsthass, der Selbstverwerfung, der Selbstablehnung nicht nur die logische Möglichkeit, sondern sogar eine geradezu unvermeidliche Stufe des Selbstverhältnisses zuschreiben.

Aurelius Augustinus, Martin Luther, die Jesus-Worte in Lukas 14,26 oder auch Johannes 12,25 – (Belege sind reichlich in diesem Blog unter der Rubrik Selbsthaß angeführt) – fallen einem sofort in diesem Zusammenhang ein; auch der heute stark ausgeprägte, teilweise suizidale Selbsthass in Teilen der deutschen Kultur ist ein nicht wegzuleugnendes Phänomen, das der Erklärung bedarf!

Dante würde zweifellos gegenüber solchen erstarrten Selbstverwerfungen stets seine Idee der „Läuterung“, also der verwandelnden Erhellung des Seelendunkels in Anschlag bringen. Er würde nachweisen – und er erbringt ja auch den poetischen Beweis in seiner Commedia -, dass der Selbsthaß keinen Bestand hat. Der Hass, auch der Selbsthass, dessen Möglichkeit Dante bestreitet, ist eine vorübergehende Selbsttäuschung. Er schmilzt vor der Sonne weg. Das Seelendunkel wird sich aufhellen.

Nicht zufällig beginnt der 17. Gesang des Läuterungsberges mit einem grandiosen Chiaroscuro-Spiel, einem Ineinanderfließen von Verschattung, von maulwurfshaft verschlossenem, dunkel waberndem Sumpfhauch und mählich durchdringendem Sonnenlicht:

Ricorditi, lettor, se mai ne l’alpe 
ti colse nebbia per la qual vedessi 
non altrimenti che per pelle talpe,                               

come, quando i vapori umidi e spessi 
a diradar cominciansi, la spera 
del sol debilemente entra per essi;                               

e fia la tua imagine leggera 
in giugnere a veder com’io rividi 
lo sole in pria, che già nel corcar era.

Die Aufhellung dieser seelischen Verdunkelung, als die Dante den Hass wie jede Sünde begreift, ist das große Geschehen in diesem 17. Gesang. Mit diesem tröstlichen Gedanken beenden wir den heutigen Dantedì und erwarten das Chiaroscuro der nächtlichen Träume.

Quellentexte:

https://divinacommedia.weebly.com/purgatorio-canto-xvii.html

https://de.wikisource.org/wiki/Göttliche_Komödie_(Streckfuß_1876)/Purgatorio

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Lettera augustana, ossia: „odio tutti gli dei“

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Sep 292018
 


Augusta, a Michele a. d. MMXVIII

Caro Francesco,

grazie mille per le due lettere spedite da Lucca e Genova nel mese di agosto 18, che mi sono state consegnate poche settimane dopo che le avevi scritte. Ti scrivo oggi da Augusta, città sontuosa nel sud della Germania, la città dove ti sentiresti sicuramente a tuo agio. Underm drebbele, Sotto le scale, è così che si chiama in lingua l’ostello dove ho trovato un letto per la notte e ti sto rivolgendo la parola. Fino a pochi anni fa, questo albergo era considerato il nido dei Gesuiti, qui nella città della Confessio Augustana!

A proposito, Martin Lutero si è incontrato in questa città 500 anni fa per avviare un ultimo tentativo di riconciliazione con il legato pontificio Caetano. Probabilmente ha visto esattamente la stessa vista del portico del municipio di Augusta che ho goduto ieri a mezzanotte. Ti allego un disegno eseguito propria manu.

Ieri ho parlato a lungo con i compagni di una volta. Ci siamo riuniti alla Cassetta (in lingua: la Kiste), ovvero il teatro delle marionette di Augusta. Ho intrattenuto vere conversazioni alla scietamtiscia con i compagni bavaresi, che goduria spirituale! Il nostro bilancio: Non tutto era meglio in passato, ma era meglio di quanto pensassimo all’epoca.

Come sai, mi pasco di quel cibo che sento tutto mio; uso sempre la sera per dialogare con i poeti e pensatori dei tempi antichi, dove io non mi vergogno parlare con loro e domandarli della ragione delle loro azioni; e quelli per loro umanità mi rispondono. Quando sono tornato all’ostello, ho letto di nuovo il Prometeo incatenato di Eschilo.

Ieri sera era diverso da tutte le sere precedenti: come un colpo di martello, il verso 975 mi ha letteralmente incatenato. Prometeo dice ad Ermes, in un tono non da pace, ma da guerra:

„Per farla breve: io odio tutti gli dei, proprio tutti.“

Odio di Dio, odio dell’uomo verso Dio, odio di Dio verso l’uomo! Un tema antico della teologia cristiana! Anche il monaco agostiniano Lutero a volte odiava Dio, come tu sai e come egli stesso ammette nelle sue lettere. In questi momenti lui odiava se stesso, senza l’ombra di dubbio, e credeva che Dio lo odiasse. L’odio, tema antico della tragedia attica, tema antico della Bibbia! Anche Dio a volte odiava gli uomini. Come tu sai benissimo, Mosè dovette intervenire presso Dio con buone parole a favore del popolo, altrimenti Dio avrebbe distrutto l’umanità dope quelle esecrabili feste celebrate al vitello d’oro.

Caro amico, è un’esperienza a dir poco ispiratrice, si chiude così il cerchio di 500 anni intorno a noi, 500 anni da quando Lutero e Caetan intrapresero quel tentativo di riconciliazione. Devo chiudere in fretta.

Ti terrò aggiornato sui fattti del mio viaggio. Speriamo di fare un passo in avanti, verso l’alto, qui, proprio sotto le scale del municipio di Augusta!

Salutami i compagni di allora, in particolare Pino, Vito e Beppe.

Semper tuus

Nico

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Appetitus dedecoris, oder: Augustins Lust auf das Böse

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Jul 202017
 

Wie konnte es dazu kommen? Warum hast du das getan? Warum habe ich das getan? Diese Frage legtest du, Augustin, dir selbst vor, und du legst sie auch uns vor. Im zweiten Buch deiner Bekenntnisse erzählst du, wie du einmal im Alter von sechzehn Jahren mit anderen halbwüchsigen Jungs, cum nequissimis adulescentulis, in einen Nachbargarten einbrachest. Du hattest eigentlich keinen Hunger, du hättest jederzeit etwas anderes essen können, keinerlei Zwang trieb dich. Du hattest Lust auf das Verbotene. Das Böse war dein Ziel. Du wolltest das Böse um seiner selbst willen, nicht zur Erreichung eines Vorteiles. Die meisten Äpfel warfet ihr weg oder warfet sie den Schweinen vor die Schnauzen.

Für deine Ehrlichkeit kann ich dir gar nicht hoch genug danken, Augustinus. Ich glaube, du hast uns auch heute noch etwas zu sagen. Wir fragen uns oft, ich frage mich oft: warum? Sie – also zum Beispiel Rodolfo Graziani oder Émile Hennequin, Leo „Trotzki“ Dawidowitsch Bronstein oder Feliks Dzierżyński (um nur einige wenige der zahlreichen politischen Massenverbrecher des 20. Jahrhunderts zu nennen) – waren nicht gezwungen dies zu tun. Niemand gab ihnen den Befehl, Befehle zum Massenmord an unbeteiligten Zivilisten zu erteilen. Sie gaben gewissermaßen Aufträge zum Massenmord aus freien Stücken, ohne daraus einen persönlichen Vorteil zu ziehen. Es überkam sie nicht. Es war keine Tat der anderen. Sie haben ihre Verbrechen gewollt, geplant und ausgeführt.

Doch, sie haben es getan. Sie waren nicht gezwungen dies zu tun.

Augustin, du zeigst uns, dass der Wille zum Bösen auch offenkundig unmotiviert in uns aufsteigen kann. Das Böse ist in uns angelegt, es ist gewissermaßen in uns hineingelegt. Goethe sagt oder schreibt es irgendwo einmal, soweit ich mich erinnern kann: Ich spüre in mir die Anlage zu jedem Verbrechen.

In deinen Erinnerungen an deine kleineren und größeren Vergehen oder Verbrechen, zeigst du uns, Augustin, dass es häufig nicht des Anstoßes von außen bedarf, um das Böse zu tun. Der Anstoß, der Haß kommt scheinbar grundlos von innen. Und diese Grundlosigkeit, das ist die Erfahrung des Abgrundes: mein Herz war im tiefsten Abgrund, cor meum in imo abyssi, schreibst du.

So beschreibst du es in deinem eigenen feurig lodernden Latein – und ich zitiere dich ohne deine Erlaubnis:

Et ego furtum facere volui, et feci, nulla compulsus egestate, nisi penuria et fastidio iustitiae et sagina iniquitatis. nam id furatus sum, quod mihi abundabat et multa melius; nec ea re volebam frui, quam furto appetebam, sed ipso furto et peccato. arbor erat pirus in vicinia nostrae vineae, pomis onusta, nec forma nec sapore inlecebrosis. ad hanc excutiendam atque asportandam nequissimi adulescentuli perreximus nocte intempesta, quousque ludum de pestilentiae more in areis produxeramus, et abstulimus inde onera ingentia non ad nostras epulas, sed vel proicienda porcis, etiamsi aliquid inde comedimus, dum tamen fieret a nobis quod eo liberet, quo non liceret. Ecce cor meum, deus, ecce cor meum, quod miseratus es in imo abyssi. dicat tibi nunc ecce cor meum, quid ibi quaerebat, ut essem gratis malus et malitiae meae causa nulla esset nisi malitia. foeda erat, et amavi eam; amavi perire, amavi defectum meum, non illud, ad quod deficiebam, sed defectum meum ipsum amavi, turpis anima et dissiliens a firmamento tuo in exterminium, non dedecore aliquid, sed dedecus appetens.

S. Aurelii Augustini Confessiones, ed. Car. Herm. Buder, Lipsiae 1837, p. 24 [=Liber II, c. IV], litteris pinguibus ipse scripsi

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Mai 112017
 

Augustinus schreibt in seinen Confessiones, Buch VIII: […] quanto ardentius amabam illos de quibus audiebam  salubres affectus, quod se totos tibi sanandos dederunt, tanto  exsecrabilius me comparatum eis oderam, also zu deutsch: Je glühender ich jene [beiden Männer] liebte, über deren heilsame Gefühle ich erfuhrweil sie sich dir völlig zu ihrer eigenen Gesundung geschenkt hatten, desto verfluchter haßte ich mich, wenn ich mich mit ihnen verglich Odium sui, Selbsthaß! Lyndal Roper schreibt über den jungen Erfurter Augustinermönch Martin Luther: „Luther scheint geradezu in Schuldgefühlen geschwelgt zu haben, als könnte er, wenn er es zum Äußersten trieb, eine höhere Stufe des frommen Selbsthasses erleben, der ihn Gott so nahe wie möglich bringen würde.“ Martin Luther schreibt noch in seinen letzten Lebensjahren immer wieder in aller Offenheit von seinem Haß auf sich selbst, von dieser Selbstverwerfung, die ihn ins Äußerste, in den hellen Zorn hineintreibt, in die Verwerfung Gottes, ja in den Haß auf Gott führt: Hierfür ein besonders machtvolles Beispiel, entnommen der Vorrede zum ersten Bande der Gesamtausgaben seiner lateinischen Schriften, in Luthers hell loderndem, an den Afrikaner Augustinus erinnerndem Latein originalgetreu wiedergegeben (Hervorhebung durch uns): [21] Ego autem, qui me, utcunque irreprehensibilis monachus vivebam, sentirem [22] coram Deo esse peccatorem inquietissimae conscientiae, nec mea satisfactione [23] placatum confidere possem, non amabam, imo odiebam iustum et [24] punientem peccatores Deum, tacitaque si non blasphemia, certe ingenti murmuratione [25] indignabar Deo, dicens: quasi vero non satis sit, miseros peccatores [26] et aeternaliter perditos peccato originali omni genere calamitatis oppressos [27] esse per legem decalogi, nisi Deus per euangelium dolorem dolori adderet, [28] et etiam per euangelium nobis iustitiam et iram suam intentaret. Ein erschütterndes Dokument für den Selbst- und Gotteshaß Martin Luthers, auf das ich vorderhand in Erinnerung an Goethe nur mit einigen kunstlos hingeworfenen Knittelversen antworten kann:
Ich höre, Martin, wie’s dich umtreibt:
S’ist Lieb, s’ist Haß, die glühend dich umwinden:
Aus jenen fernsten Gründen,
Wo ganz zuletzt der Mensch nur noch sich selbst erkennt;
Und sich nicht mehr bei seinem eignen Namen nennt,
Bricht über dich ein ungeheures Flammenübermaß!
So viel an dir ist Selbsthaß, Menschenleid,
So viel in dir ist Gotteshaß! O Martin, Martin, hör die Frage:
Wie findet Gott zu dir, Wie findet Gott ein gnädig Ich,
Das ihm verzeiht, ihn aufnimmt, nährt und stärkt,
Und nicht in hellem Zorn auf seine Fehler merkt?
Lass dir verzeihen, lösche aus die Fackel, die in dein Herz gesenkt,
Des Vorwurfs grimme Pfeile zieh aus deiner Brust,
Blick um Dich – das Leben fließt mit Lust
Und wird dir weiter Tag um Tag geschenkt.
Laß Tag es werden. Nimm das Leben heiter, wie es ist.
Laß es gut sein, Martin. Steh auf und geh. …

Und siehe – es war gut, sehr gut war es.

Foto: So schön, so südlich, so heiter ist es heute im Natur-Park Schöneberger Südgelände. Belegstellen: Lyndal Roper: Der Mensch Martin Luther. Die Biographie. Aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016, S. 81 WA = D. Martin Luthers Werke: Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1903 ff., hier WA Band 54, S. 185, zitiert nach: http://www.lutherdansk.dk/WA%2054/WA%2054%20-%20web.htm

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Selbsthaß

 Augustinus, Deutschstunde, Einzigartigkeiten, Gedächtniskultur, Kinder, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Selbsthaß
Feb 092017
 

Selbsthaß ist auch das Grundgefühl, welches in diesen Jahren die deutsche Nation zu durchziehen scheint; mit unglaublicher Wonne zeigen sie der Welt immer wieder, wie schlimm sie gesündigt haben, wie unübertroffen sie die Meister des Bösen gewesen sind. „Von unserem Land aus [=Deutschland] sind alle europäischen Werte zerstört worden“, „an diesem einzigartigen Verbrechen, diesem schlimmsten Menschheitsverbrechen der gesamten Weltgeschichte trägt Deutschland Schuld und Verantwortung“, „wir Deutsche haben zwei Mal ganz Europa zerstört“, dergleichen superlativische Wendungen tauchen unzählige Male immer wieder in den Schuldbekenntnissen der Spitzen von Staat, Regierung und Parlament auf.

Eine durch und durch negative Sicht auf die deutsche Geschichte wird heute stärker denn je den Kindern schon in den deutschen Schulen beigebracht. So erzählte mir erst kürzlich ein Geschichtslehrer stolz, er wolle die Kinder nicht gleich mit dem von uns verübten Holocaust belasten, sondern sie erst einmal behutsam an das größte Menschheitsverbrechen heranführen, indem er sie erst einmal selbständig  The Kaiser’s Holocaust erarbeiten lasse, also den deutschen Völkermord an den Herero und Nama ab dem Jahr 1904. So könnten die Schülerinnen und Schüler  sich allmählich mit dem Gedanken des deutschen Völkermordes anfreunden. Der Holocaust sei dann als Krönung das große Thema im darauffolgenden Jahr, ein Völkermord wachse in der deutschen Geschichte organisch aus dem vorhergehenden Völkermord hervor. Deutschen Völkermord erkennen, deutschen Völkermord benennen, das sei ein wesentliches Lernziel des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts!

Ich war verblüfft. Ist es wirklich sinnvoll, den Gedanken des Völkermordes als Sinnkern der deutschen Nationalgeschichte darzustellen? Soll wirklich der Holocaust den innersten Kern der Gedächtniskultur ausmachen, wie dies etwa Claus Leggewie vorgeschlagen hat? Ich meine: Man kann dies tun, beginnend vom Tag von Verden an der Aller im Jahr 782.

Ich meine aber auch: Die heutigen Kinder werden überfordert mit diesen ewig lastenden Schuldvorwürfen an alle Deutschen, eine Zugehörigkeit zur deutschen Nation erscheint ihnen zunehmend als moralische Belastung, zumal ja die deutsche Geschichte vorwiegend als Geschichte deutscher Verbrechen dargestellt wird.  Warum sollten sie sich zu einem Land bekennen, das das Land der Täter ist, also im Grunde ein Verbrecherland ist?

Keinen Augenblick darf man die Niedertracht der Deutschen vergessen. Man geht kaum aus dem Haus, schon wird man wieder aufgefordert, sich all der unsäglichen Schrecken zu erinnern, die die Deutschen überall vollbracht haben.  „In mir ist nichts Gutes!“, so sagt derjenige, der sich selbst hasst. Das Böse in dir, Deutscher, das darfst du nie vergessen.

Und damit kommen wir auch schon zum Unterschied zwischen dem Augustinischen Selbsthaß und dem heutigen politisch korrekten deutschen Selbsthaß! Für Augustinus war der Selbsthaß ein notwendiger, schmerzhafter Übergang zu etwas Neuem, etwas Anderem, etwas Schönem. In der deutschen vulgären Geschichtsbetrachtung der Jetztzeit dagegen erscheint die deutsche Geschichte als eine Abfolge von Hassenswertem, also von häßlichen Verbrechen, die wie ein Fluch auf dem ganzen Land lasten.

 

Lesehinweise:
Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Verlag C.H. Beck, München 2011, hier bsd. S. 14
David Olusoga und Casper W. Erichsen: The Kaiser’s Holocaust – Germany’s forgotten Genocide. Faber & Faber, London 2010
Frank Brendle: Der Holocaust ist einzigartig. taz online, 19.01.2012
Norman Davies: Categories of people killed in Soviet Russia and the Soviet Union 1917-1953 (excluding war losses, 1939-1945), in: Europe. A History. Pimlico, London, 1997,  S. 1328-1329

Graffito: „Bomber Harris, do it again.“ Aufnahme vom Juli 2016, Schöneberg, S-Bahn-Übergang

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Selbsthaß – eine Erbsünde des augustinisch geprägten Christentums?

 Augustinus, Haß, Novum Testamentum graece, Philosophie, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Selbsthaß – eine Erbsünde des augustinisch geprägten Christentums?
Feb 062017
 

[8.7.17] Tunc uero quanto ardentius amabam illos de quibus audiebam
salubres affectus, quod se totos tibi sanandos dederunt, tanto
exsecrabilius me comparatum eis oderam, quoniam multi mei anni me cum
effluxerant (forte duodecim anni) ex quo ab undeuicesimo anno
aetatis meae, lecto Ciceronis Hortensio, excitatus eram studio
sapientiae […]

Eine erneute rasche, den Text überfliegende Lektüre des achten Buches in des Augustinus Confessiones bestätigt mir soeben ein zentrales Motiv dieses so prägenden abendländischen Philosophen, nämlich den vulkanisch empordrängenden, ihn gewissermaßen von hinten durchschüttelnden Selbsthaß, den Augustinus mehrfach als notwendiges Stadium seiner Bekehrung in glühenden Farben schildert; eine Stelle sei hier oben noch einmal zum Beleg angeführt (CONFESSIONES VIII, 7, 17).

Selbsthaß, odium sui, das ist auch das beständige Grundgefühl, das die Wittenberger Thesen des Augustiners Martin Luther als Treibsatz durchherrscht! Und diese Grundstruktur des Lutherischen Empfindens, Lehrens, Handelns ist, so meine ich, ohne Augustinus nicht denkbar. Lese ich Luther in seinen lateinischen Briefen und Schriften, etwa an den Bibelübersetzer Johannes  Lange, so meine ich die Stimme des Augustinus überdeutlich herauszuhören, bis hinein in Einzelheiten des Sprachgebrauchs!

4.  Wittenberger These: Manet itaque poena, donec manet odium sui (id est poenitentia vera intus), scilicet usque ad introitum regni caelorum.

Übersetzt: So bleibt also die Strafe, solange der Selbsthaß bleibt (d.h. die wahre Buße innen drin), also bis zum Eintritt des Reiches der Himmel.

Ein anderes erklärendes Wort für Selbsthaß dürfte übrigens Selbstverwerfung sein. Der Sündige verwirft sich selbst, denn er fühlt sich von Gott verworfen; er empfindet sich als hassenswert. Und er haßt sich wirklich.

Immerwährendes Sündenbewusstsein, nahezu ewiger Selbsthaß! Eine kulturell bedingte Erbsünde des augustinischen Christentums, weltgeschichtlich verstärkt durch Luthers Thesenanschlag von 1517?

Dauernder Selbsthaß, ist das noch christlich? Predigte Jesus je, man solle sich selbst hassen?  Man sollte es nicht vorschnell ausschließen! Wo predigt Jesus den Haß? Hierzu fällt einem sicherlich sofort die folgende Stelle en:

εἴ τις ἔρχεται πρός με καὶ οὐ μισεῖ τὸν πατέρα ἑαυτοῦ καὶ τὴν μητέρα καὶ τὴν γυναῖκα καὶ τὰ τέκνα καὶ τοὺς ἀδελφοὺς καὶ τὰς ἀδελφὰς ἔτι τε καὶ τὴν ψυχὴν ἑαυτοῦ, οὐ δύναται εἶναί μου μαθητής.

Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und ferner auch seine Schwestern und auch seine eigene Seele, kann er nicht mein Schüler sein (Lk 14,26, eigene Übersetzung).

Antwort: Der Bußprediger Jesus – er war ja auch ein recht unbequemer Bußprediger, nicht nur wohltätiger Heiler und Befreier – predigte gelegentlich in bestimmten Zusammenhängen seinen Schülern durchaus den Haß, er kannte zweifellos den Haß aus eigener Erfahrung, ja er forderte gewissermaßen den Haß, auch den Selbsthaß als notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur Wahrheit. Eum hominem esse et nil humani ab eo alienum esse puto! Er ist, so glaube ich, ein Mensch und nichts Menschliches ist ihm fremd.

Aufs ganze gesehen überwiegt aber bei Jesus zweifellos nicht das Gebot des  Hasses, sondern das Liebesgebot.  Liebe zu Gott, Liebe zum Nächsten, Liebe zum eigenen Selbst,  diese drei erscheinen immer wieder geradezu unlösbar ineinander verschränkt (z.B. Mt 22,34-40). Das ist gewissermaßen die grundlegende Dreifaltigkeit, die Trinität, zu der Jesus wie zu einem Angelpunkt wieder und wieder gelangt! Jesus lehrte die Liebe gerade nicht als Selbstsorge, nicht als reflexive Selbst-Erhellung, überhaupt nicht als bloßes Selbstverhältnis, wie dies etwa der von Platon herkommende Philosoph Augustinus in De trinitate später so glänzend und packend versucht hat, sondern als Einigung im dreifachen Verhältnis zum anderen, zum eigenen Selbst und zu Gott.

Die Trinität aus Vater, Sohn und heiligem Geist hat Jesus Christus selbst ebenfalls nicht gelehrt; die Lehre von der Dreifaltigkeit  ist eine spätere Entdeckung der Kirchenlehrer, unter denen wiederum Augustinus eine wesentliche Rolle spielt.

 

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O flaumenleichtes Glück der Frühe

 Augustinus, Europäisches Lesebuch, Griechisches, Hebraica, Platon  Kommentare deaktiviert für O flaumenleichtes Glück der Frühe
Feb 022017
 

Vorsichtig ritzte ich heute Linien in das noch weitgehend unbeschriebene Blatt undeutlicher Geschichten. Früh am Morgen ist es. Das Eis trägt am besten in dieser Frühe. Es, das Eis glaubt alles, was ich mit meinen Kufen hineinritze. Klarheit, Wahrheit, Vertrauen, Glauben. Licht! Andere schrieben andere Geschichten als ich! Die – sind zu glauben…

Hier noch zum Abend ein eingeritzter Gedanke:

Sommes-nous des Juifs? Sommes-nous des Grecs? Nous vivons dans la difference entre le Juif et le Grec, qui est peut-être l’unité de ce qu’on appelle l’histoire. So schreibt es Jacques Derrida in L’écriture et la différence (Editions du Seuil, Paris 1967, S. 227).

Dieses Zweierlei von Judentum und Griechentum, dieses Kelajim, wie es auf Hebräisch der Talmud nennt, wird kaum irgendwo deutlicher eingetragen ins Eis der Biographien als bei Augustinus. Er hat dieses unverbundene, vielleicht nie aufzulösende Zweierlei – stellvertretend dafür seien Platon und Moses genannt – in aller Schärfe ausgetragen, und zwar als Römer, als lateinischer, als westlicher Denker. Von daher die alles überragende Bedeutung des Dritten, der Drei. De trinitate ad unitatem, über die Dreiheit zur Einheit, das war für Augustinus offensichtlich die Vermittlung, der Ausweg aus dem schroffen Gegeneinander von Judentum und Griechentum. Und so – aus dieser innigen Verbindung der zwei unverbundenen, entstand ein drittes – das lateinische, das abendländische Christentum – übrigens ganz im Gegensatz zum griechisch-slawischen, östlichen, zum morgenländischen Christentum. „Trinitarische Strukturen des vorthematischen Selbstbewusstseins“, so nennt dies heute zu recht Notger Slecnzka, und er findet sie allenthalben auf den Wegen der westlichen Denker und Geschichtenerzähler, bis hin zu Kant, Hegel, Freud, Max Scheler.

 Posted by at 23:43

„Am Zweifeln selbst ist der Zweifel nicht möglich.“ Wer hat dies als erster geschrieben?

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Feb 012017
 

„Schau, die Sonne geht über dem Brocken auf, der Tag beginnt jetzt, die gütige Sonne sendet ihre Boten, die farbigen Lichtstrahlen, voraus!“

Drei Sätze, drei subjektive Wahrheiten, jedoch drei objektiv falsche Aussagen oder Täuschungen! Denn die Sonne geht nicht auf, der Tag beginnt nicht jetzt, die Sonne sendet keine Boten aus, die Sonne ist nicht gütig, denn die Sonne hat keinerlei Absichten, geschweige denn irgendwelche Boten, schließlich sind die Strahlen nicht farbig, denn die Farben sind nur in unserer Wahrnehmung begründet.

So kann man eigentlich die allermeisten Aussagen, die wir im Alltag verwenden, zerlegen und bezweifeln und widerlegen und zerpflücken.

Großer Tag mit dem Studientag an der Katholischen Akademie in Berlin am vergangenen Samstag, aus dem ich eine dichtgedrängte Fülle von Anregungen und Einsichten mit nachhause nahm. Der Studientag war mit folgenden Worten angekündigt:

Ungeklärte Gegenwart – Licht und Schatten des Augustinus 
  
Die Denkmodelle des Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.) sind bis heute im christlichen und nachchristlichen Denken gegenwärtig. Hochschätzung und Kritik stehen unverbunden nebeneinander. 
  
Der Philosoph Peter Sloterdijk fragte anlässlich eines Besuches in Wittenberg, ob nicht eine „Befreiung vom Augustinismus“ an der Zeit wäre. Das Denken Augustinus habe das christliche Abendland nachhaltig verdunkelt und traumatisiert. Der Mensch als unheilbar korruptes Wesen habe seine Liebenswürdigkeit eingebüßt, seine Gottesbeziehung die Gegenseitigkeit verloren. Gnade würde als Begnadigung ins Werk gesetzt. 
  
Zu Beginn des Jahres 2017 fragen wir genauer nach den Erleuchtungen und Verdunklungen, die wir Aurelius Augustinus verdanken. Wir tun dies in ökumenischer Perspektive und im Blick auf zeitgenössische Augustinrezeptionen. Dabei werden uns begleiten Prof. Dr. Teresa Forcades i Vila (Berlin), Pater Prof. Dr. Elmar Salmann (Gerleve) und Prof. Dr. Notger Slenczka (Berlin). 

Als ein Beispiel unter vielen für die erstaunliche Gegenwärtigkeit des nordafrikanischen Philosophen und Theologen wurde uns von Professor Slenczka ein Zitat vorgelegt, das ich sofort und ohne mit der Wimper zu zucken den Meditationes de prima philosophia des Descartes zuordnen konnte. Zweifellos hatte ja Cartesius (1596-1650) in diesem Werk von 1641 erstmals systematisch den Gedanken des methodischen Zweifels als eine Art Letztbegründung des Selbstbewusstseins entwickelt. Auch wenn es keinerlei Gewissheit über irgendein Ding, irgendeine Empfindung gäbe, so Descartes, bliebe doch die Erfahrung des Zweifels bestehen. Es müsse also jemanden oder zumindest etwas geben, der oder das da zweifle, selbst wenn wir den Träger oder Akteur des Zweifels sowie auch den Gegenstand des Zweifels nicht zweifelsfrei bestimmen könnten.  Viuere se tamen et meminisse et intellegere et uelle et cogitare et scire et iudicare quis dubitet? Wer würde denn auch bezweifeln, dass er lebt und sich erinnert und versteht und will und denkt und weiß und urteilt – so falsch oder irrig dies alles auch sein möge?

Folgender uns vorgelegter Gedankengang, der geradezu von Descartes selbst geschrieben oder von Descartes abgeschrieben zu sein scheint, gibt in etwas anderen Worten die Argumentation des Cartesius recht gut wieder:

Sed quoniam de natura mentis agitur, remoueamus a consideratione nostra omnes notitias quae capiuntur extrinsecus per sensus corporis, et ea quae posuimus omnes mentes de se ipsis nosse certasque esse dilegentius attendamus. Vtrum enim aeris sit uis uiuendi, reminiscendi, intellegendi, uolendi, cogitandi, sciendi, iudicandi; an ignis, an cerebri, an sanguinis, an atomorum, an praeter usitata quattuor elementa quinti nescio cuius corporis, an ipsius carnis nostrae compago uel temperamentum haec efficere ualeat dubitauerunt homines, et alius hoc, alius illud affirmare conatus est. Viuere se tamen et meminisse et intellegere et uelle et cogitare et scire et iudicare quis dubitet? Quandoquidem etiam si dubitat, uiuit; si dubitat, unde dubitet meminit; si dubitat, dubitare se intellegit; si dubitat, certus esse uult; si dubitat, cogitat; si dubitat, scit se nescire; si dubitat, iudicat non se temere consentire oportere. Quisquis igitur alicunde dubitat de his omnibus dubitare non debet quae si non essent, de ulla re dubitare non posset.

Und – welcher kluge Kopf hat dies von Descartes abgeschrieben? Überlege selbst!

Und?

Nun, das Werk, aus dem diese Sätze stammen,  heißt De trinitate. Geschrieben hat es Aurelius Augustinus in den Jahren 399-419.  Wir zitierten aus dem Buch X, cap. 14. Daran ist kaum ein Zweifel möglich.

https://la.wikisource.org/wiki/De_trinitate_(Aurelius_Augustinus)/Liber_X#14

 

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„Sed libera nos a malo … ma non subito, ti prego!“ La verità di Adamo

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Feb 082016
 

Novacella 20150725_125432

„Uprzedzenia są pomocą przy poznawaniu obcych rzeczy, porozumiewamy się poprzez stereotypy“, „i pregiudizi ci aiutano a capire le cose strane, noi c’intendiamo attraverso i stereotipi“, dice Adam Krzeminski, noto giornalista polacco.

Adamo ha ragione! Mi fa pensare ad una visita guidata cui partecipai pochi mesi fa nell’abbazia agostiniana di Novacella nei pressi di Bressanone, diretta con grande abilità ed una buona dose di humour da una guida italiana molto esperta e molto divertente. Eravamo arrivati nella magnifica biblioteca del convento. Guardammo con stupore una delle tanto discusse lettere d’indulgenza del primo Cinquecento, un esemplare autentico in stato di perfetta conservazione, e di provenienza germanica.

Chi sa per quale motivo il discorso cadde, oltre che su Lutero, anche sulla figura di Sant’Agostino. La signora ci chiese scherzosamente: „Siamo in un convento agostiniano. Ma voi sapete chi era Sant’Agostino?“ Grande annuire con un cenno del capo: Sì, lo sapevamo tutti. „Giusto per ricordarvi: Era colui che diceva, secondo un famoso aneddoto: Sed libera nos a malo … ma non subito, ti prego Signore.“ Immaginatevi che bella risata che facemmo!

È vero quell’aneddoto? Io direi: Se non è vero, è ben trovato. Può comunque illustrare una certa tendenza alla flessibilità nell’interpretazione delle regole ferree che – come qualcuno dice – è una caratteristica dei nostri amici europei al sud delle Alpi. Una guida polacca, per osservanza del decoro e rispetto della religione, probabilmente non avrebbe raccontato quella barzelletta spiritosa sul grande teologo e vescovo di origine berbera.

E così è provata e comprovata per l’ennesima volta la verità di Adamo (oltre che di Agostino): Uprzedzenia są pomocą przy poznawaniu obcych rzeczy, porozumiewamy się poprzez stereotypy!

Foto: L’Abbazia di Novacella, luglio 2015

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C’est dans moi que je trouve …

 Augustinus, Europäisches Lesebuch, Philosophie  Kommentare deaktiviert für C’est dans moi que je trouve …
Aug 062015
 

Pascal schreibt: „Ce n’est pas dans Montaigne, mais dans moi, que je trouve tout ce que j’y vois.“ Pensées, Ms. p. 431

Pascal! Ist er ein Autor der Vergangenheit? Hat er wirklich früher, genauer: vom 16. Juni 1623 bis zum 19. August 1662 gelebt? Ich zweifle zwar nicht daran. Und doch gibt es für mich – vielleicht mit Ausnahme von Augustinus – kaum einen anderen älteren Autor, bei dem der zeitliche Abstand so gering wirkt, kaum einen europäischen Autor, bei dem das Ich so schnell zuhause ist, kaum einen Schriftsteller, bei dem das Ich sich so wiederfindet … wie eben Blaise Pascal. Die erstaunliche Konstanz und Unveränderlichkeit des Französischen mag einen nicht unwesentlichen Beitrag zu dieser Erfahrung leisten.
Ich würde also beim Lesen seiner Pensées ohne zu zögern sagen:
Ce n’est pas dans Pascal, mais dans moi, que je trouve tout ce que j’y vois.

Quellenangabe:
Pascal: Pensées. Préface et introduction de Léon Brunschicg. Le livre de poche. Librairie Générale Française, 1972, S. 23 [431]

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Apr 042015
 

Die gegenwärtige Passionszeit bringt eine erhöhte Häufigkeit an theologischen, pseudotheologischen und kryptotheologischen Aussagen an den unvermutetsten Stellen mit sich. Was Nietzsche seinerzeit einem Hegel, einem Schelling vorwarf, dass sie nämlich keine echten Philosophen, sondern eigentlich „noch“ Theologen oder nur „Halbpriester“ seien, – was freilich Hegel und Schelling nicht als Vorwurf verstanden hätten, – das gilt in noch stärkerem Maße mitunter von den heutigen Historikern.

Was soll man etwa von folgendem Satz halten:
Nazi-Deutschland war tatsächlich die Inkarnation des Bösen.

Ich meine: Dies ist ein rein theologischer Glaubenssatz, der nur vor dem Hintergrund des Johannes-Evangeliums sinnvoll zu verstehen ist (Joh 1,14). So wie in Jesus Christus Gott Fleisch geworden ist, also inkarniert ward, so ward in Deutschland und nur in Deutschland das absolute Böse inkarniert, also „eingekörpert“. Das ist der Dreh- und Angelpunkt so mancher Debatte, die sich damit von jeder Wissenschaftlichkeit entfernt. In solchen Sätzen entspringt die negative antideutsche Ideologie, die Germanophobie, die gerade in diesen Tagen wieder lebhaft beschworen wird.

„Nazi-Deutschland war tatsächlich die Inkarnation des Bösen.“ Mit diesem „Credo in unum malum“ wurde jüngst ein namhafter, bestens ausgewiesener Neuzeit-Historiker von der Universität Freiburg zitiert (SZ, 20.03.2015). Hat er es wirklich so gesagt? Dies zu glauben fällt allerdings schwer. Aber der Satz wird ihm so zugeschrieben.

Wie auch immer: Es wimmelt in den zeitgeschichtlichen und politischen Debatten von derartigen Glaubenssätzen, es werden auf Schritt und Tritt Frageverbote, Tabus und Anathemata aufgestellt, es werden Bannflüche gegen Häretiker und Zweifler erlassen und Einzigartigkeitsthesen in den Raum gestellt, wie sie zu gottgläubigen Zeiten allenfalls an den theologischen Fakultäten noch denkbar waren.

Der deutsche Historikerstreit der Jahre 1986/1987 etwa, der ja um den Begriff der Einzigartigkeit kreiste, war im Grunde eine Art kryptotheologischer Debattierklub, bei dem umfassende Quellenaufarbeitung, vorurteilslose Beiziehung aller verfügbaren historischen Zeugnisse in den 10 oder 12 wichtigsten europäischen Sprachen (darunter auch Italienisch, darunter auch Russisch) fast keine Rolle spielten. Eine wissenschaftliche Bankrotterklärung. Ein Verzicht des historischen Begreifens auf jede Historisierung, ein Verzicht auf Motivationsforschung! Und dafür, für diese Selbstaufgabe der Wissenschaft, kann man bis in unsere Tage wahrlich zahllose Beispiele anbringen.

Wie steht es nun mit der logischen bzw. theo-logischen Kategorie der Einzigartigkeit? Das Eine, das Einzige, gibt es das? Falls ja, welche Aussagen kann man über das Eine sinnvollerweise machen? Ein uraltes philosophisches Problem, das Platon in seinem „Parmenides“ in vortrefflicher, später nicht mehr oder allenfalls bei Hegel erreichter Komplexität durchdenkt und in letztlich nicht auflösbare begriffliche Aporien hineinführt.

Der nicht logische, sondern theo-logische Ausweg aus diesen Aporien, den die berühmten drei monotheistischen Religionen suchten, lautete in etwa: „Es gibt nur eine einzige einzigartige Wesenheit – wir nennen diese singuläre Wesenheit Gott.“ Es gibt nur einen Gott. Ein Gott! Und wenn es nur Einen Gott gibt, so gibt es in der Zeitgeschichte nur Einen Teufel – eben Nazi-Deutschland. So einfach ist das. Sancta Simplicitas! Man kann es aus lauter Verzweiflung nur noch ins Lateinische übersetzen, um sich den versteckten theologischen Hintergrund der aktuellen zeitgeschichtlichen Debatten verständlich zu machen: „Germania nationalis-socialista vere incarnatio diaboli erat.“

Deutschland als Inkarnation des Bösen! Das ist natürlich keine Theologie, keine Historie, es ist keine Wissenschaft, sondern … es ist ein unbeweisbarer und auch unwiderlegbarer Glaube an das absolute Böse, das in Deutschland Fleisch geworden sein und unter uns gewohnt haben soll.

Quelle:
Johannes Wilms: Krieger, Sieger und Besiegte. Elmau, die Tagung: Historiker untersuchen Europas gefährdeten Frieden [=Tagungsbericht zur Elmauer Tagung „A peace to end all peace“]. Süddeutsche Zeitung, 20. März 2015, S. 12

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Mrz 122011
 

Sicher, zielstrebig, auf geraden Gleisen brachte mich der ICE gestern von Hamburg nach Berlin zurück. Das schreckliche Unglück in Japan erschütterte mich mit Magnitude.

Von irgendwoher erinnerte ich mich des großartigen Augustinus-Wortes: ama et fac quod vis. „Liebe und tu was du willst.“ Bei allen Zweifelsfragen, bei allem  Tappen und Tasten kann dieses starke Wort helfen, den richtigen Weg, den Weg der Mitte zu finden.

Beim Blättern einer in Hamburg erscheinenden Tageszeitung stieß ich auf die Wendung „personalistische Mitte“. Ein bekannter Diener des Wortes und Diener der Gemeinde hat diese gute Wendung gefunden! Die Welt berichtet darüber:

Die Vernunft ist nicht ewig haltbar – Nachrichten Print – DIE WELT – Kultur – WELT ONLINE

„Wie man ein Kind lieben soll“ – dieser Titel eines großen Buches von Janusz Korczak fiel mir ein, nachdem der ICE-Schaffner seinen Zangenabdruck hinterlassen hatte. Kann man Liebe lehren? Ich meine: ja! Das richtige Erziehen, die richtige Liebe zu Kindern ist kein Zauberkunststück. Sie muss das Kind annehmen und ernstnehmen, dem Kind bedingungslose Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringen, aber auch feste Grenzen und erreichbare Ziele setzen. Dies alles in einen Ausgleich zu bringen, zwischen den Extremen der Verwöhnung und der Vernachlässigung die rechte Mitte zu finden, ist nicht leicht. Aber es ist möglich, sofern nur die Person des Kindes mit seinen Grundbedürfnissen nach Geborgenheit und Selbständigkeit ganz im Zentrum steht.

Diese Haltung nenne ich den Personalismus der Mitte.  Der Personalismus der Mitte – das sei meine Haltung in vielen Dingen – im Umgang mit Menschen ebenso wie in der Politik.

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„Die Hölle ist auch in mir“

 Augustinus, Das Böse, Hebraica, Kain, Sündenböcke  Kommentare deaktiviert für „Die Hölle ist auch in mir“
Sep 132010
 

Eine der besten, klarsten Stimmen, die aus dem heißen afrikanischen Wüstensand zu uns herüberschallen, stammt von — Aurelius  Augustinus! Der christliche Kirchenvater des 4. Jahrhunderts erforscht sein Selbst, erzählt die langen gewundenen Pfade, auf denen er zu einer inneren Ruhe findet. Inquietum cor nostrum est! Lange her.

Aber heute würde ich diesen Titel der besten, klarsten und eindrucksvollsten „Stimme aus dem afrikanischen Wüstensand“ ohne zu zögern an meinen zugewanderten Mit-Augsburger Hamed Abdel-Samad verleihen. „Die Hölle war auch in mir.“ So spricht er im aktuellen Spiegel 37/2010, S. 124. Allein für eine solche Aussage verdient er fast schon, noch in Hunderten von Jahren gelesen zu werden!

Vergleicht diese Aussage: „Die Hölle war auch in mir“ mit dem scheinbar völlig entgegengesetzten Satz von Sartre: „L’enfer, c’est les autres!“ Die Hölle sind immer die anderen. Auch dieser Satz Sartres hat seine Berechtigung. Die Hexenjagden und Hexerjagden unserer Tage (vide causa Sarrazin, vide causa Steinbach) sind ohne diesen tiefen Drang, alles Böse im anderen zu suchen, die Hölle in den anderen zu sehen, nicht verständlich.

Sie werden zu den Bösen, zu den Sündenböcken erklärt, deren man sich entledigen muss. Sie werden in die Wüste geschickt.

Sündenböcke oder Hexen können viele sein – auch der aktuelle Spiegel, den ich nachdrücklich zum Kauf empfehle, bietet reichlich Beispiele dafür: etwa FJ Raddatz und einige andere mehr 🙂

Einer der wichtigsten Sätze aus den 5 Büchern Moses meint etwas ganz Ähnliches: „Die Sünde, das Böse lauert stets an der Tür deines Herzens, wenn es dir nicht wohl ergeht.“ So lässt sich 1. Buch Moses, Kapitel 4, Vers 7 verstehen.

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