Λοιμός. Μῆνις. Die beiden Handlungsauslöser der Ilias

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Mrz 202020
 
Der Beginn des ersten Gesangs der Ilias Homers, ed. Alfred Stephany, Münster 1960. Handexemplar des hier Schreibenden mit Randglossen aus seiner Jugendzeit

Seuche und Zorn, Loimos und Menis, dies ist der Titel, den spätantike Redaktoren als Verständnishilfe dem ersten Buch der homerischen Ilias vorgesetzt haben. Damit erscheint im antiken Verständnis das Wüten einer EPIDEMIE, einer verheerenden Pest als die „Schlagzeile“, als gleichberechtigtes Hauptthema neben dem ebenso wichtigen Grundmotiv des ZORNS.

Die gesammelte Einkehr, das tiefe Hinabtauchen in den Urgrund der europäischen Literaturgeschichte ist eine der paradoxen Segnungen, welche mir die CORONA-Epidemie mit der behördlich angeordneten reichlich genossenen Muße gerade in diesen Tagen ermöglicht. Denn mit der Ilias liegt uns tatsächlich das älteste schriftlich vollständig überlieferte Epos der europäischen Dichtung vor. Im wesentlichen dürfte es im 8. oder frühen 7. Jahrhundert v.d.Z. in der noch heute zu lesenden Fassung zusammengestellt, komponiert, gedichtet bzw. redigiert worden sein.

Eine Seuche leitete somit den Untergang Trojas ein! Eine Epidemie wütet gewissermaßen am Anfang unserer europäischen Literaturgeschichte. Epidemisch auftretende Krankheiten waren übrigens eine häufige Erscheinung der alten Welt. Man schrieb sie meist dem Wirken eines strafenden Gottes oder unseligen, sumpfig-feuchten, memphitischen Dämpfen zu. Denn von Viren und Bakterien im heutigen Sinne wusste man damals noch nichts.

Zurück ins Lager der Griechen vor Troja! Ausgesandt wurde diese Epidemie durch Apollo, den der griechische Heerführer Agamemnon dadurch erzürnt hatte, dass er das Beutemädchen Chryseis nicht ihrem Vater, dem Apollo-Priester Chryses zurückgab. Der ZORN des Gottes Apollo tritt also handlungsauslösend, handlungstreibend noch vor dem ZORN des Achilles ganz nach vorne ins Rampenlicht des epischen Ablaufes! Hier die Verse 7 bis 12:

τίς τ᾽ ἄρ σφωε θεῶν ἔριδι ξυνέηκε μάχεσθαι;
Λητοῦς καὶ Διὸς υἱός: ὃ γὰρ βασιλῆϊ χολωθεὶς
νοῦσον ἀνὰ στρατὸν ὄρσε κακήν, ὀλέκοντο δὲ λαοί,
οὕνεκα τὸν Χρύσην ἠτίμασεν ἀρητῆρα
Ἀτρεΐδης:

Wer von den Göttern führte die zwei im Kampf zusammen?
Letos und Zeus Sohn! Denn im Zorn auf den König
erregte böse Seuche dieser im Heer und die Scharen gingen ein,
alldieweil den Chryses entehrt hatte, den Priester,
der Atride.

Anmerkungen:
Letos und Zeus Sohn: Apollo
Atride: Agamemnon, Sohn des Atreus und der Aerope
Eigene Übersetzung des hier Schreibenden.

Nachdrücklich empfohlen sei hier auch folgendes Interview:
„Es war die erste Pandemie“. Eine weltweite Seuche leitete den Untergang des Römischen Reichs ein, sagt der Historiker Kyle Harper – und erzählt, was man daraus für die Gegenwart lernen kann. Das Gespräch führte Stefan Schmitt. DIE ZEIT Nr. 13, 19. März 2020, Seite 34

https://www.zeit.de/2020/13/historische-pandemien-roemisches-reich-coronavirus



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Oyt‘ an keleysaim‘! Il canto lirico a tutto tondo: die Antigone der Konstantia Gourzi

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Jan 172020
 
Blick auf die Szenenbilder des Dionysostheaters, wo 442 v. Chr. die Antigone des Sophokles uraufgeführt wurde. Athen, Zustand am 28.12.2019 n. Chr.

Guten Morgen in die weite Runde, nur mal ganz rasch, habe mir gestern im Konzertsaal der UdK Berlin den Vormittag des Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Hochschulwettbewerbs (Gesang, 1. Runde) angehört. Hörte die ersten fünf Teilnehmer des Tages: Maria Skandalidou, Alexandra Köhler, Robin Grunwald, Carmen Artaza, Dongfang Xie. Bravi, bravi tutti. Sehr erhellend, sehr lehrreich!

Besonders hervorzuheben: das Pflichtstück Antigone (UA!) von Konstantia Gourzi. Ein phantastisches raffiniertes Ding, das jeder Gesangspädagoge für den Unterricht nutzen könnte! Der ganze Mensch wird da gefordert, die Rückseite des Körpers, die Vorderseite des Körpers, vom Scheitel bis zur Sohle. Il corpo umano, il canto a tutto tondo! Atmen, Keuchen, Singen, Flöten, malcanto tragico, belcanto aulico!  Vom Keller bis zur Dachstube. Das Klavier ersetzt glaubhaft den gesamten Bühnenapparat der attischen Tragödie (Chor, Szenenbilder, Masken)!  

Ich traute meinen Ohren nicht: Es erklangen dorische Skalen, „kirchentonartliche“ Leitern, wie sie vielleicht auch zu Sophokles‘ Zeiten erklungen haben mögen!

Der Text ist eindeutig ein Mischzitat aus einigen Stellen des griechischen Urtextes (v.a. – aber nicht nur – Vv. 69-77). Ich habe mitnotiert. Unverwüstliches Stück, diese Antigone von Sophokles, diese Antigone von Gourzi. 5 Mal gestern gehört, 5 Mal unterschiedliche Ur-Aufführungen – und doch erkennbar dasselbe Stück! Es funktionierte bei allen 5 Kandidaten, wird eigentlich immer funktionieren. Dieses Werk holte das beste aus allen heraus. Meine persönliche Entdeckung des Wettbewerbs. Diese Komposition MUSS es in das Abschlusskonzert am Sonntag schaffen – und dann auch über den Wettbewerb hinaus!

Schönen Tag noch in das weite Rund des ganzen Theaters!

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„Voleva la riconciliazione“ – una parola da salvare

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Jan 122020
 

Atene, sabato 28 dicembre 2019.- Provo stupore, ammirazione, brividi sulle pendici meridionali dell’Acropoli. Tappa obbligatoria: visita al teatro di Dioniso. Sì, è stato qui che furono rappresentate per la prima volta le tragedie di Eschilo, Sofocle ed Euripide. Cito, o canto piuttosto, alcuni versi del primo stasimo dell‘Antigone di Sofocle:
πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει.
τοῦτο καὶ πολιοῦ πέραν πόντου χειμερίῳ νότῳ
χωρεῖ, περιβρυχίοισιν
περῶν ὑπ᾽ οἴδμασιν.

Ascolto per un po‘ l’eco della propria voce, i riverberi di quasi tre milleni di storia umana… Poi cade il silenzio. Si respira un’aria falsamente fiduciosa in quello stasimo, mi pare. Dietro questo rigore, quest’iperbolico slancio dell’uomo che vuole vedersi padrone assoluto della terra si nasconde il dissidio totale tra gli esseri umani, l’assenza di riconciliazione tra le figure della tragedia, essendo Creonte ed Antigone in primis irrimediabilmente intrecciati in un contrasto aspro, crudele, senza la minima possibilità di una risoluzione vivibile. Nessuna pace dopo tanta guerra!

Rientriamo in albergo sul tardi. Sul cellulare ricevo un messaggio dal Piemonte. Raffaella Romagnolo ha lasciato proprio oggi un post bellissimo sul suo blog che tratta il tema della riconciliazione, quella cosa che sembra impossibile in contesti come quello dell‘Antigone di Sofocle. Lo leggo subito:

RICONCILIAZIONE
Una cosa da tenere.
Berlino, giovedì 25 aprile, presentazione di Bella ciao, che è la versione tedesca del mio Destino. Ripeto: 25 aprile, Berlino, Bella ciao. Coincidenze che, in un romanzo, sarebbero effettacci da quattro soldi, roba che un editor segnerebbe con la matita rossoblù, ma la vita se ne infischia della Letteratura.

La sala è piena. Traduzione simultanea, calici di vino rosso, pile di libri. Per loro è un giovedì sera qualunque, la settimana lavorativa quasi finita, un po’ di svago intelligente. Per me è il 25 aprile. Così racconto della Benedicta. Ha il suo bello spazio, nel romanzo. «Il più grande eccidio di partigiani della storia italiana» dico. Entro nei dettagli. Immagino che la traduzione simultanea spari nelle orecchie dei presenti parole come rastrellamento e fossa comune. Intanto io penso Berlino e 25 aprile. Mi trema la voce, ma vado avanti.

Alla fine della serata si avvicina un uomo. Intorno ai cinquanta, suppergiù la mia età. «A mio padre sarebbe piaciuto questo incontro» dice. Capisco che il padre è morto. «Era un soldato della Wehrmacht» aggiunge, e io sento tutto il coraggio che gli ci vuole, in un giovedì sera di fine aprile, profumo di fiori e l’aria tiepida di un’estate che arriva anzitempo, per prendere la vita di suo padre e depositarla nelle mani di un’estranea. «Voleva la riconciliazione» conclude. Ha un bell’italiano, dice proprio così: riconciliazione. Pace, dopo tanta guerra. Quella parola me la porto dietro, me la tengo stretta.
https://raffaellaromagnolo.wordpress.com/2019/12/28/riconciliazione/

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Honigklingende heiligsingende Mädchen. Das Erechtheion

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Jan 072020
 

Die Korenhalle des Erechtheion am späten Nachmittag des 28.12.2019

Fast wankten mir die Knie beim Anblick dieser herrlich süßen, gleichsam von den Lüften ganz zart bewegten, singenden Mädchengruppe. Sie schienen die Stein- und Erdenschwere nicht zu spüren, sie überdauern den Wechsel der Jahreszeiten, ihre Gewänder schmiegen sich zärtlich an die Rundungen ihres Leibes. Sie scheinen zu singen, sie scheinen in einem statischen Tanz gefangen – sie SCHEINEN, sie SIND – etwas, was wir nicht kennen, nicht wissen und nicht so genau wissen wollen oder wissen sollen. Dieses Erechtheion war ein heiliger Ort seit Urzeiten. Hier wurden die mythischen Herrscher Kekrops und Erechtheus beigesetzt. Und was diese „Koren“, diese jungen Frauen genau bezwecken, konnten die Bauforscher bis heute nicht entschlüsseln. Die Koren blicken „chorisch“ hinüber zum alten Athena-Tempel. Warum? Wir wissen es nicht.

Mir kommen – angesichts der Nähe des Dionysostheaters – die Chorlieder in den Sinn, die ja eine so wichtige Rolle in der attischen Tragödie spielten. Diese Chorlyrik blühte vor allem in Sparta auf, und nicht zuletzt deshalb wurden diese Chorlieder auch in Athen nicht in attischer, sondern in dorischer Mundart gedichtet und gesungen.

Unwillkürlich mögen einem bei solchen Geheimnissen am Erechtheion hier die Verse des Alkman von Sparta, des frühesten uns bekannten Chorlieddichters in den Sinn kommen:

οὔ μ‘ ἔτι, παρθενικαὶ μελιγάρυες ἱαρόφωνοι,
γυῖα φέρην δύναται· βάλε δὴ βάλε κηρύλος εἴην,
ὅς τ‘ ἐπὶ κύματος ἄνθος ἅμ‘ ἀλκυόνεσσι ποτήται
νηδεὲς ἦτορ ἔχων, ἁλιπόρφυρος ἱαρὸς ὄρνις.

Ihr honigklingenden heiligsingenden Mädchen,
Mir wanken die Knie! Wär ich doch nur ein Saker,
der über Wogengischt mit Blauspechten schwirrt,
kraftvoll packend, blutfarbiger heiliger Vogel!

Der griechische Text des Alkman (26 PMG = 10 LGS =90 Calame) ist nach folgender Quelle zitiert:

https://el.wikisource.org/wiki

Die hier vorgelegte deutsche Übersetzung, die sich einige poetische Freiheiten herausnimmt, stammt vom hier schreibenden Verfasser. κηρύλος dürfte eine Vogelart sein, die bis heute nicht eindeutig bestimmbar ist. Deshalb wurde hier ein deutsches Wort für einen Raubvogel gewählt, das in den Ohren der meisten rätselhaft klingen dürfte.

Literaturhinweis zur Baugeschichte des Erechtheion:
Klaus Gallas: Athen. Mit 30 Abbildungen sowie 9 Plänen und Grundrissen, Stuttgart 2013, hier insbesondere S. 78-88 [=Reclams Städteführer Architektur und Kunst. Athen]


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Windgereinigtes Athen. Lichtdurchflutete Propyläen. Areopag, das „Schuldgebirge“

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Jan 062020
 
Blick von der Akropolis auf den Areopag (Felsenhügel in der Bildmitte). Aufnahme vom 28.12.2019

28.12.2019. 11.30 Uhr. Überpünktliche Ankunft am Flughafen Venizelos. Sonnig-kühl, mit frischer, windgereinigter Luft empfängt uns die Stadt. Frei schweift der Blick auf die umliegenden Berge und macchiabewachsenen Hügel; die Temperatur beträgt 8° C. Mit der Metro, einer modernen, sehr gepflegten S-und-U-Bahn fahren wir 40 Minuten bis zum Syntagma-Platz. Je näher wir dem Zentrum kommen, desto mehr Menschen steigen zu. Schließlich ist der Waggon dicht gefüllt mit Menschen. Am Syntagma steigen wir um und fahren noch einen Halt bis zur Station Akropolis.

Il tempio „lascia intravedere il mistero“ – Der Tempel „lässt das Geheimnis erahnen“. Blick auf den Nike-Tempel, gesehen vom Anstieg zur Akropolis. Aufnahme vom 28.12.2019

Endlich in Athens Mitte angekommen! Ein erster Gang führt uns bei strahlendem Sonnenschein hoch zur Akropolis. Ich lasse den Blick weit über die Stadt hin wandern: Ja, hier war es! Hier geschah all das! Der grazile Niketempel zieht uns hinan! Kaum zu glauben, dass wir hier, während wir unter den beiden Toranlagen, den lichtdurchfluteten Propyläen hindurchschreiten, weit unter uns schon den Areopag erblicken. Das „Schuldgebirge“, so möcht‘ ich diesen kahlen Felsenrücken nennen, auf dem heute die bunten Touristen sich tummeln, denn hier stand das Gerichtsgebäude des antiken Athens; auch heute noch ist dies der Name des höchsten Gerichts in Griechenland!

Wir durchschreiten die lichtdurchfluteten Propyläen. Aufnahme vom 28.12.2019

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Das Jahr beginnt im Sprung die Flüge!

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Jan 022020
 
Blick in das Παναθηναϊκό Στάδιο, das Olympiastadion von 1896 in Athen. Aufnahme vom 1. Januar 2020

Die Purpurlipp des neuen Jahres, die geschlossen war,
Holt halbgeöffnet erste kräft’ge Atemzüge:
Auf einmal blitzt das Aug, und, wie ein Gott, das Jahr
Beginnt im Sprung die königlichen Flüge!

Der Jahreswechsel erlebte uns rastlos wandernd, staunend, prüfend, forschend in Athen, der Stadt, die wie keine zweite das bildete und prägte, was wir bis zum heutigen Tage als kennzeichnend für Europa empfinden und erkennen. Was auch mich persönlich geprägt und geformt hat! Die Akropolis, der Areopag, wo Paulus sein Rede über den unbekannten Gott hielt, das Dionysostheater, wo Aischylos und Sophokles ihre Tragödien zur Uraufführung brachten, die Pnyx, wo die demokratischen Volksversammlungen stattfanden, die griechische Agora, der Kerameikos, die Stoa des Attalos, die lächelnd hingebreitete, funkelnde See bei Piräus, diese Orte und viele andere mehr begeisterten mich über viele Stunden hin und über alles Maß, sie klingen jetzt noch nach, während ich dies hier niederschreibe.

Der erste Tag des Jahres wurde von uns schließlich gefeiert im Panathenäischen Stadion, dem modernen Nachbild einer um 330 v. Chr. angelegten, später ganz mit pentelischem Marmor ausgestatteten Wettkampfstätte. Was für ein Gefühl mochte das gewesen sein, hier anzutreten unter den wilden Schreien der wohl 50.000 Zuschauer! Es musste eine geradezu orgiastische Verzückung sein, eine weihevolle Eruption der Kampfeslust, der Gelingenszuversicht, die die Sportler und die Zuschauer zusammenschmolz und über den harten Alltag hinaushob.

Etwas davon spürte ich, als ich gestern die sehr angenehm zu laufende moderne Tartanbahn erprobte. Mir schießen jetzt, da ich dies zum Antritt des neuen Jahres 2020 schreibe, die Verse des Sophokles durch den Sinn:

ἄπορος ἐπ᾽ οὐδὲν ἔρχεται
τὸ μέλλον

zu deutsch also etwa: „Ratlos schreitet er gegen nichts, das da kommen mag“. So ist er, der Mensch, verlegen nie, er findet immer einen Weg zur Zukunft, denn er weiß: die Zukunft ist offen! So sei es auch uns, dieses neue Jahr, das wir froh und dankbar, unerschüttert und gekräftigt durch die munter weitersprudelnden Quellen des alten, sich beständig erneuernden Europa bestreiten werden! Empor geht die Reise, auf ins Offene!

Das Jahr beginnt im Sprung seine Flüge!

Zitate: Sophokles, Antigone, [Erstes Standlied des Chors], Vers 360-361, hier zitiert nach: Sophoclis fabulae, ed. A. C. Pearson, Oxford 1975
vgl. auch Eduard Mörike: An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang. E. Mörike, Werke, ed. H. Geiger, o.O. 1961, S.7-8

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Πάρε το βιολί σου και παίξε! Alexandras Geschichte

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Dez 182019
 
Helm. Geige. Rad. Zug. Tasche. Mehr brauchst du nicht, um von Berlin-Schöneberg nach Grünheide-Fangschleuse zu gelangen und 2 Tage dort in der Nähe zu verbringen. Aufnahme vom 12.11.2019

ἔγειρε ἆρον τὸν κράβαττόν σου καὶ περιπάτει, „Pack dein Bett und geh“, so knapp und unwirsch ermuntert Jesus in griechischer Sprache – nach dem Zeugnis des Evangelisten Johannes – einen Gelähmten, der nicht mehr auf seine Kraft vertraut, „es auch alleine zu packen“ (Joh 5,8).

Πάρε το βιολί σου και παίξε, „Nimm deine Geige und spiel“, genau so möchte ich in griechischer Sprache die Erkenntnisse zusammenfassen, die der professionelle Geiger Antoine Morales in einem sehr empfehlenswerten Buch allen Erwachsenen mit auf den Weg gibt, die noch im Erwachsenenalter den echten Wunsch verspüren, die Geige zu erlernen. Er beweist: Es ist möglich, man muss es nur richtig anpacken!

Wer den echten Wunsch, den starken Traum hat, die Violine zum Singen zu bringen, selber zum Klingen zu kommen, der wird es auch schaffen. Der richtige Lehrer wird dann das Zutrauen in das Gelingen, das Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit bestärken.

Besonders beeindruckt hat mich die Geschichte Alexandras, einer jungen Frau, die mit einer zerebralen Lähmung zum ersten Geigenunterricht erschien. Sie konnte ihren vierten Finger nicht bewegen! Es stellte sich heraus: Sie glaubte, ihn nicht bewegen zu können. Sie war der festen Meinung, gelähmt zu sein. Dies ist es, was Morales einen limiting belief nennt, also einen selbst auferlegten Glauben, man könne etwas NICHT tun.

Nun, Alexandra lernte den vierten Finger richtig auf die Saite setzen, – es gelang ihr, einen schönen Ton zu produzieren! Ein kleines Wunder, möchte man meinen. Und doch nur der unerschütterliche Glaube an die Stärke, an die Gelingenszuversicht, die jeder Mensch auch noch im Erwachsenenalter aufbringen kann.

Dabei saugt sich Morales nichts aus den Fingern! Er hat ja jahrzehntelang selbst den heute weltweit überall ähnlich vertretenen Geigenunterricht mit unterschiedlichen Lehrern durchlaufen, musste sich mühsam freischwimmen, oder besser freispielen. Methodisch und didaktisch ist das Büchlein meines Erachtens rundweg einwandfrei zu nennen; jeder Geigenlehrer, der zum ersten Mal mit erwachsenen Anfängern arbeitet, sollte es einmal zur Hand nehmen. Es vermittelt einen Weg, die unleugbaren Hindernisse, die dem Erlernen eines Streichinstruments im fortgeschrittenen Alter entgegenstehen, anzunehmen, zu durchschauen und nach und nach in einen Vorteil umzuwandeln.

Wer den Traum hat, Geige zu lernen, wird ihn mithilfe eines geeigneten Lehrers und dank methodisch überlegten Vorgehens, zu dem Antoine Morales wertvolle Anstöße liefert, auch verwirklichen.

Nachweis:
Antoine Morales: Geige lernen mit Erfolg. Als Erwachsener. Münster 2019, darin: „Die Geschichte von Alexandra“, S. 38-44

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Ich aber will dem Kaukasus zu!

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Sep 042018
 

Ungläubiges Erstaunen ergriff mich jeden Tag von neuem, wenn ich den Blick auf den 5033 m hohen Berg Kasbek schweifen ließ. „Ich kann das nicht glauben, dass dieser herrlich schimmernde Berg, den ganzjährig eine schneebedeckte Spitze krönt, nun Tag um Tag zum Greifen nahe liegt! Hier im Kaukasus glaubte die Alte Welt das Bußgebirge des Prometheus zu erkennen. An diesen steil abschüssigen Hängen schmiedeten Kratos und Bia zusammen mit Hephaistos den gefallenen Titanen an!“

Und dann des Morgens, wenn ich hinaustrat aus dem Alpenhaus in den jugendlich erfrischten dämmrigen Morgen, dann stellten sich beim Blick auf die vor mir liegende Hauptkette des Großen Kaukasus wie von leichter Götterhand gerufen die folgenden Verse aus dem Faust ein:

Hinaufgeschaut! – Der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde,
Sie dürfen früh des ewigen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.

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„Europa graeca“ oder „Griechischeuropa“?

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Jul 202018
 

… pavet haec litusque ablata relictum
respicit et dextra cornum tenet, altera dorso
inposita est; tremulae sinuantur flamine vestes.

Rückwärtsgewandt, furchtsam schaut sie zurück, Europa, mit der rechten Hand hält sie das Horn des Stiers, die andere Hand liegt auf dem Rücken; vom Windhauch gebauscht flattern ihre Gewänder, – so, carissimi amici, beschreibt Ovid den heutigen Zustand Europas in lateinischer Sprache; und wie Europa den Stier nur mit einer Hand packt und furchtsam in die Vergangenheit starrt, so haben auch wir den Zustand Europas nur mit einer Hand gepackt –  der wirtschaftlichen Hand, der politischen Hand. Vielmehr: Europa, vielmehr: die Europäische Union  hat den ungebärdigen Stier nur mit einer Hand gepackt: der wirtschaftspolitischen Hand, der finanztechnischen Hand, der machtausübenden Hand.

„Wenn wirtschaftliche Gegebenheiten die Menschen auseinandertreiben und längst überwunden geglaubter Nationalismus neu erwacht, ist das Bekenntnis zum Dialog und zur Vielfalt des gemeinsamen Kulturraums wichtiger denn je. This is why the European idea, embodied in the legacy of Greek culture, will be a program focus at the Pierre Boulez Saal this season. Die europäische Idee, verkörpert durch das Erbe der griechischen Kultur, bildet deshalb einen Programmschwerpunkt im Pierre Boulez Saal.“ So schreibt es das in meinen Augen derzeit mit Abstand beste Buch zur europäischen Frage, welches auf meinem Schreibtisch aufgeschlagen ruht. Sein Titel:  „Pierre Boulez Saal. Die Spielzeit 2018/19“. Geschrieben und herausgegeben hat es PIERRE BOULEZ SAAL.

Pierre Boulez Saal – wie unterstellen einmal, es handle sich um einen Autor – lässt also den europäischen Kulturraum mit dem griechischen Erwachen Europas beginnen. Das gesamte spätere Geschehen im europäischen Kulturraum begreift Saal als Nachfolge, Verwandlung, Weitergabe und gleichsam als flatternden Saum der vom gewaltsamen Stier weitergetragenen Europa. Von Homer weht uns alle der Windhauch an, der die Gewänder der europäischen Kulturen flattern lässt! Homer inspiriert Vergil, Ovid, Horaz. Platon inspiriert Cicero, Seneca den Philosophen, Augustinus. Euripides inspiriert Seneca den Tragödiendichter. Vergil inspiriert Dante. Demosthenes und Isokrates wehen Cicero den Redenschreiber an. Ovid inspiriert diese kleine Betrachtung hier.

Der aus dem sorbischen Budyssin stammende Schriftsteller Simon Schaidenreisser ließ 1537 in Augsburg seine Homer-Übersetzung Odyssea mit einem herrlichen Holzschnitt erscheinen, der genau diesen Vorgang der aus Griechenland herwehenden Inspiration bildlich wiedergibt. Ein gewaltiger Luftzug geht aus dem Mund Homers hervor und bläst direkt in die offenen Münder Vergils, Ovids und Horaz‘ hinein, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Der Holzschnitt würde jedem Kupferstichkabinett dieser Erde zur Zierde gereichen, die Augsburger Staats- und Stadtbibliothek aber hat ihn!

Ist Europa also etwas im Kern Griechisches? Ich meine: in dem hier betrachteten kulturellen Sinne geht Europa als Idee eindeutig aus griechischem Dichten, Denken, Bilden und Handeln hervor. Alle kulturellen Erscheinungen von europäischem Rang, das symbolische Band, das unser heutiges Europa zusammenhält, aber auch Sache und Begriff der Demokratie, entspringen nachweisbar aus griechischer Quelle. Schon die Römer selbst haben das so gesehen. Soweit wir heute noch römische oder lateinische Texte der Antike lesen, sind diese eingestandenermaßen aus Übersetzung, Umformung und Anverwandlung griechischer Texte entstanden. Das gilt für Vergil, Ovid, Cicero, Seneca, Caesar – sie alle strebten der griechischen Leitkultur nach, ihr höchster Ehrgeiz war es, den griechischen Vorbildern gleichzukommen oder sie noch gar zu übertreffen. Und alle großen europäischen Kulturleistungen entspringen aus dem Nachstreben! So versuchte etwa James Joyce Homers Odyssee zu übertreffen. Tomasi di Lampedusa strebte James Joyce nach und schuf etwas Neues – oder etwas Altes.

In diesem Sinne kann man tatsächlich von einer gewissen Einheitlichkeit der europäischen Kultur sprechen – sie reicht von Lissabon am Atlantik bis Jekaterinburg am Ural, von Edinburgh am Firth of Forth bis nach Heraklion auf Kreta.

Und das Politische? Politisch geeint war der Kontinent nie – vielleicht  von 2 oder 3 Jahrhunderten des Imperium Romanum abgesehen.  Europa, es war von jeher ein Kontinent staatlicher Vielfalt, politischer, ökonomischer, militärischer Konkurrenz – flatternder Säume, zerzauster Gewänder.

Zuversicht kann Europa zweifellos daraus erwachsen, dass es sich der gemeinsamen Tragwerke des europäischen Kulturraumes wieder bewusst wird.

Und noch etwas ist wichtig: Die europäische Idee ist etwas Körperliches, etwas Leibhaftiges. Sie lässt sich anfassen, anschauen, anhören. Die etwa 600 Lieder Franz Schuberts, die 32 Klaviersonaten Beethovens, die der Pierre Boulez Saal als kompletten Zyklus aufführen lässt, verkörpern, so meine ich, auf geradezu idealtypische Weise ein derartiges Tragwerk der europäischen Vielfalt. Ich werde mir diese europäischen Lieder anhören und sie singen.

 

Zitate:

Ovid Metamorphosen,  Buch II, vv. 873-875

Pierre Boulez Saal: Demokratie und Europa. Der Nikos-Skalkottas-Schwerpunkt, in: Die Spielzeit 2018/19, Berlin 2018, S. 8-9

Der erwähnte Augsburger Holzschnitt findet sich in folgendem Buch:
Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. C.H.Beck Verlag, 3. Auflage, München 2018, Abb. 44, S. 697

Bild: Europa auf dem Stier. Metallskulptur von Olivier Strebelle. Moskau, Europaplatz, entstanden 2002

 

 

 

 

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Okt 242017
 

ὣς δὲ Σκύθαι λέγουσι, νεώτατον πάντων ἐθνέων εἶναι τὸ σφέτερον, τοῦτο δὲ γενέσθαι ὧδε. ἄνδρα γενέσθαι πρῶτον ἐν τῇ γῆ ταύτῃ ἐούσῃ ἐρήμῳ τῳ οὔνομα εἶναι Ταργιτάον· τοῦ δὲ Ταργιτάου τούτου τοὺς τοκέας λέγουσι εἶναι, ἐμοὶ μὲν οὐ πιστὰ λέγοντες, λέγουσι δ᾽ ὦν, Δία τε καὶ Βορυσθένεος τοῦ ποταμοῦ θυγατέρα.

Wie ein prachtvoller Hymnus auf einen der bedeutendsten europäischen Prosaschriftsteller aller Zeiten, also auf Herodot von Halikarnass, liest sich die Besprechung der neuen Skythen-Ausstellung des Britischen Museums, die heute in der SZ erscheint. Diese uralte, nur durch reiche archäologische Funde und das umfassende Zeugnis Herodots bezeugte Völkerschaft gibt uns heute noch viele Rätsel auf.

In Alexander Mendens  Sicht erweist sich Herodot als insgesamt erstaunlich glaubwürdiger Zeuge. Zahlreiche Angaben zu Lebensweise, Ernährung und Totenkult haben sich durch neuere russische Grabungen in der Pasyryk-Stufe im Altai-Gebirge erhärten lassen. So haben skythische Brandgefäße tatsächlich eine Mischung aus Opium und Cannabis enthalten. Die Skythen inhalierten sie in eigens errichteten Hütten, „die kein griechisches Schwitzbad übertreffen konnte.“

Allerdings übernimmt Herodot nicht alles, was ihm seine Gewährsleute zutragen; dass die Skythen – nach ihrer Einschätzung mit nur 1000 Jahren das jüngste aller Völker –  über ihren Stammvater Targitaos von Zeus und einer Tochter  des Flusses Borysthenes abstammen wollen, überzeugt ihn nicht. Er meldet deutliche Zweifel an: ἐμοὶ μὲν οὐ πιστὰ λέγοντες, λέγουσι δ᾽ ὦν, Δία τε καὶ Βορυσθένεος τοῦ ποταμοῦ θυγατέρα (Buch 4, Kap. 5).  Herodot glaubte also nicht alles, was ihm zugetragen wurde, er prüfte durchaus die Sagen und Legenden auf Überzeugungskraft.

Aber er bestritt nicht grundsätzlich, dass die Götter, dass göttliche Erscheinungen vielfach ins Menschenleben hineinwirken. Er glaubte an Zeus, er glaubte an die Existenz von Göttern – bezeugt durch Geschichten und Geschichte. Nur glaubte er nicht an die Wahrheit all dieser Geschichten, sondern nur an die Wahrheit einiger Geschichten. Für Herodot war die Welt Schauplatz eines gewaltigen göttlich-menschlichen Ringens um Macht, um die Wahrheit der Geschichten, deren fortzeugende Kraft sich durch ihre Herkunft aus einem nicht bloß innerweltlichen Ursprung aufhellen ließ. Walter F. Otto schreibt sehr schön in einem heute wieder höchst lesenswerten Aufsatz über Herodot: „der unerschütterliche Glaube an die Herkunft allen Seins und Geschehens aus dem Göttlichen durfte das Gedächtnis der vorangegangenen Geschlechter nicht gering achten.“

Und genau darin verwarf ihn Thukydides! Das Göttliche, die Einflussnahme eines Numinosen, nicht zu Enträtselnden, war ihm keine brauchbare Kategorie historischer Erkenntnis! Der Sinn der Geschichte konnte nur aus ihr selbst entschlüsselt werden! Die Welt war keine Bühne der ewigen Auseinandersetzung der Götter mehr.

Beide Historiker wählten sich als Gegenstand ihrer Forschungen  eine geschichtliche Ereigniskette, die sie als präzedenzlos, als zunächst unbegreiflich, ja als von „einmaliger Größe und Bedeutung“ erachteten. Bei Herodot ist es die Auseinandersetzung zwischen der Welt der östlichen, persisch dominierten Großreiche und der zersplitterten Welt der griechischen Poleis, für Thukydides ist es der Vernichtungskrieg der griechischen Stadtstaaten gegeneinander.

Der fortwirkende Gegensatz zwischen Herodot und Thukydides ist auch heute noch deutlich spürbar. Das lässt sich in der schier uferlosen Literatur zum 1. und 2. Weltkrieg wieder und wieder nachweisen: für die einen ist der Europäische Bürgerkrieg 1914-1945 ein schicksalhaftes Ringen zwischen den Guten (also den Westmächten und der Sowjetunion) und den Bösen (oder gar der Inkarnation des Bösen, also Deutschland, dem Hort aller Übel), für die anderen dagegen eine vielfach gebrochene, vielfach gestaffelte, von wechselnden Assoziationen und Verwerfungen geprägte Ereigniskette ohne klare onto-theologische Rollenzuweisung.

Der Besuch der Londoner Schau dürfte nicht weniger spannend sein als die erneute Befassung mit Walter F. Ottos Herodot-Deutung!

Bild:
Blick auf das heute türkische Bodrum. Hier befand sich einst das griechische Halikarnassos, aus dem Herodot stammte. Aufnahme vom 23.07.2013, 19.47 Uhr

Belege:

Alexander Menden: Kiffer und Kämpfer. Kaum ein Volk ist so sagenumwoben wie die Skythen. Eine grandiose Ausstellung im British Museum in London gewährt überraschende Einblicke in ihr Leben – und in ihr Sterben. Süddeutsche Zeitung, 24.10.2017, S. 13

Walter F. Otto: Herodot und die Frühzeit der Geschichtsschreibung, in: Herodot, Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu herausgegeben und erläutert von H.W. Haussig. Mit einer Einleitung von W. F. Otto, Vierte Auflage. Stuttgart: Kröner 1971, S. XI-XXXI, hier bsd. S. XXVII

Herodot griechisch zitiert nach folgender Quelle:

http://www.sacred-texts.com/cla/hh/hh4000.htm

Website der Ausstellung:

http://www.britishmuseum.org/whats_on/exhibitions/scythians.aspx

 

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