Jan 022020
 
Blick in das Παναθηναϊκό Στάδιο, das Olympiastadion von 1896 in Athen. Aufnahme vom 1. Januar 2020

Die Purpurlipp des neuen Jahres, die geschlossen war,
Holt halbgeöffnet erste kräft’ge Atemzüge:
Auf einmal blitzt das Aug, und, wie ein Gott, das Jahr
Beginnt im Sprung die königlichen Flüge!

Der Jahreswechsel erlebte uns rastlos wandernd, staunend, prüfend, forschend in Athen, der Stadt, die wie keine zweite das bildete und prägte, was wir bis zum heutigen Tage als kennzeichnend für Europa empfinden und erkennen. Was auch mich persönlich geprägt und geformt hat! Die Akropolis, der Areopag, wo Paulus sein Rede über den unbekannten Gott hielt, das Dionysostheater, wo Aischylos und Sophokles ihre Tragödien zur Uraufführung brachten, die Pnyx, wo die demokratischen Volksversammlungen stattfanden, die griechische Agora, der Kerameikos, die Stoa des Attalos, die lächelnd hingebreitete, funkelnde See bei Piräus, diese Orte und viele andere mehr begeisterten mich über viele Stunden hin und über alles Maß, sie klingen jetzt noch nach, während ich dies hier niederschreibe.

Der erste Tag des Jahres wurde von uns schließlich gefeiert im Panathenäischen Stadion, dem modernen Nachbild einer um 330 v. Chr. angelegten, später ganz mit pentelischem Marmor ausgestatteten Wettkampfstätte. Was für ein Gefühl mochte das gewesen sein, hier anzutreten unter den wilden Schreien der wohl 50.000 Zuschauer! Es musste eine geradezu orgiastische Verzückung sein, eine weihevolle Eruption der Kampfeslust, der Gelingenszuversicht, die die Sportler und die Zuschauer zusammenschmolz und über den harten Alltag hinaushob.

Etwas davon spürte ich, als ich gestern die sehr angenehm zu laufende moderne Tartanbahn erprobte. Mir schießen jetzt, da ich dies zum Antritt des neuen Jahres 2020 schreibe, die Verse des Sophokles durch den Sinn:

ἄπορος ἐπ᾽ οὐδὲν ἔρχεται
τὸ μέλλον

zu deutsch also etwa: „Ratlos schreitet er gegen nichts, das da kommen mag“. So ist er, der Mensch, verlegen nie, er findet immer einen Weg zur Zukunft, denn er weiß: die Zukunft ist offen! So sei es auch uns, dieses neue Jahr, das wir froh und dankbar, unerschüttert und gekräftigt durch die munter weitersprudelnden Quellen des alten, sich beständig erneuernden Europa bestreiten werden! Empor geht die Reise, auf ins Offene!

Das Jahr beginnt im Sprung seine Flüge!

Zitate: Sophokles, Antigone, [Erstes Standlied des Chors], Vers 360-361, hier zitiert nach: Sophoclis fabulae, ed. A. C. Pearson, Oxford 1975
vgl. auch Eduard Mörike: An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang. E. Mörike, Werke, ed. H. Geiger, o.O. 1961, S.7-8

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