Martinus dixit: „Odium sui rimanebit usque ad introitum caelorum!“
Ego ex eo quaesivi: „Unde istud odium tui christianum, o Martine?“
„Woher kommt dein christlicher Selbsthaß, Martin?“ So fragt‘ ich, als ich vor einigen Wochen in einer 1-tägigen Sonderausstellung der Berliner Staatsbibliothek Martin Luthers vierte, erstmal lateinisch zu Wittenberg niedergelegte These in einem frühen Nürnberger Originaldruck des Jahres 1517 erblickte. Die vierte Wittenberger These sprang mich mit Macht an! Da läuteten alle Glocken in mir!
Denn Theodor Lessing veröffentlichte 1930 in deutscher Sprache ein Buch des Titels „Odium sui hebraicum“, zu deutsch also „Der jüdische Selbsthaß“, erschienen im Jüdischen Verlag zu Berlin. Dies ist die erste Glocke!
„Deutschland verrecke!“, „Nie wieder Deutschland, nie wieder Krieg!“, so habe ich es im 21. Jahrhundert jahrelang in Berlin-Friedrichshain gehört und gelesen, und zwar im öffentlichen Raum, ungestraft, ungescheut las ich es und hörte ich es, niemand machte darob ein Aufhebens. Der deutsche Selbsthaß ist keine Legende, nein, er ist eine Tatsache, die einen geradezu mit Macht anspringt. Durch die Zerstörung Deutschlands meinen die deutschen Antifa-Aktivisten den Krieg abzuschaffen. Der Selbsthaß feiert fröhliche Urständ! Weder deutsche Polizei noch deutsche Justiz kümmern sich um diese Manifestationen des deutschen Selbsthasses. Dies ist die zweite Glocke!
Antony Lerman wiederum entzauberte 2008 in der Jewish Quarterly in einem noch heute sehr lesenswerten Beitrag unter dem Titel Jewish Self-Hatred : Myth or Reality? Rätsel, Legenden, Fakten und Fiktionen des Redens vom angeblichen jüdischen Selbsthaß. Erstaunlicherweise wirft er nach sorgfältiger Prüfung den Begriff des jüdischen Selbsthasses in den Mülleimer der Geschichte. Er ver-wirft den jüdischen Selbsthaß. Er lehnt den Begriff ab. Lest selbst: „It is too much to hope that by revealing just how bankrupt a concept ‘Jewish self-hatred’ is, discourse among Jews on Israel and Zionism could become more productive, both for Jews themselves and for the sake of achieving justice in the conflict between Israelis and Palestinians. Too much is currently invested in this demonising rhetoric. But if we could edge it closer to the rim of the dustbin of history, we’d be making a start.“
Dies ist die dritte Glocke, gewissermaßen das Sterbeglöcklein des jüdischen Selbsthasses.
Der christliche Selbsthaß Martin Luthers von 1517, der deutsche Selbsthaß der Friedrichshainer Antifa von 2014, der jüdische Selbsthaß Theodor Lessings von 1930, der jüdische Selbsthaß Trotzkis von 1917 … haben sie eine gemeinsame Wurzel?
Woher kommt diese absolute Ablehnung des eigenen Selbst, die wütende Selbstanklage, dieses Gefühl: „Ich bin nichts, ich tauge nichts. In mir ist nichts Gutes, drum besser wär’s, es gäb‘ mich nicht! Fort mit mir!“?
Früheste Belege dieses Gefühls „Fort mit mir!“ scheinen mir ins Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückzureichen, also ins biblische Buch Bereschit (Buch Genesis). In Kapitel 4, Vers 13 hebräisch sagt es Kain so:
וַיֹּ֥אמֶר קַ֖יִן אֶל־יְהוָ֑ה גָּדֹ֥ול עֲוֹנִ֖י מִנְּשֹֽׂ׃
In rohes unbehauenes ungeliebtes Deutsch übersetzt also:
Und sprach Kajin zu JHWH : Groß meine-schuld aufheben
Kain traut sich nicht mehr aufzuschauen. Es ist, als würde er sagen: „Nach allem, was ich getan habe … was soll ich noch anschauen? Wen darf ich noch anschauen? Was ich getan hab an dem Bruder, kann ich nie büßen.“
Kain formuliert dieses Gefühl: Großschuld – zu große Schuld – übergroße Schuld. Lateinisch: „Mea culpa, mea magna culpa, mea maxima culpa“. Und diese Formulierung kannte der katholische Augustiner Martin Luther mit Sicherheit.
Im spezifischen Sündenbewußtsein Kains, im Bewusstsein seiner unverzeihlichen, seiner übergroßen Schuld goß Martin Luther dieses Gefühl absoluter Verworfenheit in seine vierte Wittenberger These – mit unabsehbaren Folgen für die deutsche und abendländische Geschichte.
Der christliche Selbsthaß Luthers wurzelt genetisch, also der Genesis nach im hebräisch-biblischen Selbsthaß Kains.
Doch ist dieser Selbsthaß keine Eigenheit des jüdischen oder des christlichen oder des deutschen Selbstverhältnisses. Dieser Selbsthaß, er ist etwas Menschliches. Dem Menschen haftet seit Kain das Odium der Selbstverwerfung an.
Denn auch in der paganen Antike außerhalb oder vor der jüdischen und der christlichen Überlieferung sind uns durchaus einige machtvolle Selbstzeugnisse eines derartigen Selbsthasses bekannt. So etwa im Ödipus Tyrannos des Sophokles! Die Schuld des Ödipus ist zu groß, als dass sie aufgehoben werden könnte, er wendet eine ungeheuerliche Aggression gegen sich selbst: er sticht sich die Augen aus. Es ist dies zweifellos eine Art aufgeschobener Selbstmord. In der Übersetzung durch Hugo von Hofmannsthal liest sich der letzte große Monolog des Ödipus so:
Ödipus:
Was soll ich noch anschaun?
Den Vater drunten, wenn ich ihm begegne?
oder die Kinder, ihren Blick in meinen
verschränken und ein unausdenkbares Gespräch
von Aug‘ zu Auge führen? Fort mit mir!
Jagt doch das große Unheil, jagt doch das,
hinaus, was trieft von allen Himmelsflüchen!
Die Greise (zugleich)
Ich wollt‘, ich hätte niemals dich gekannt.
Ödipus (leiser)
Was ich getan hab‘ an der Mutter und
am Vater, büßt Erhängen nicht.