Gute, lebhafte Probe in der Neuköllner Nikodemuskirche, immer ums gute klingende Piano, ums kraftvolle Forte bemüht! Bei einer Pause zur Mittagsstunde treten wir auf die Nansenstraße hinaus. Ein kleiner Junge, wohl acht Jahre alt und drei Käse hoch, ist als Schnitter Tod verkleidet. Schwarzes Gewand bedeckt ihn, mühsam schleppt er die Sense hinter sich her. Mutti hat den Renault Twingo eben geparkt. „Hach, das ist so anstrengend, was die Kitas heute alles erwarten!“, ruft sie einer anderen Mutti zu. In der Tat, bei Halloween darf niemand beiseite stehen. Gruselclowns füllen denn auch die Zeitungsspalten landauf landab! Hallo Tod!
Der kleine Dreikäsehochtod schleppt einen der modischen boardingpass-tauglichen Rollkoffer hinter sich her durch die Nansenstraße. Da fällt er ihm aus der Hand und stürzt aufs Pflaster, während Mutti ungeduldig drängelt. Der Tod behält die Ruhe. Er hat seine Zeit. Die Gruselclownsmaske verleiht ihm etwas Heiter-Abgeklärtes. Die Seelen purzeln heraus. Es ist ihm noch nicht ernst. Einige Szenen aus Hitchcocks „Psycho“ lagern lüstern lächelnd über dem Pflaster der Nansenstraße.
„Wart nur Mutti, i komm scho no!“, ruft der Tod der Mutter zu. Der Tod hat keine Eile. Die braven kita-geplagten Halloween-Mütter in Neukölln wissen das. Man kann dem Tod nachrufen, ihn zur Eile antreiben, mit ihm schimpfen und reden – und doch: Der Tod hat seine Zeit. Darüber lässt er nicht mit sich reden. Treiben lässt er sich nicht, abhalten aber auch nicht.
Reden mit dem Tod, geht das? Ja, etwa so:
Grimmiger tilger aller lande, schedlicher echter aller werlte, freissamer morder aller guten leute, ir Tot, euch sei verfluchet! got, ewer tirmer, hasse euch, vnselden merung wone euch bei, vngeluck hause gewaltiglich zu euch: zumale geschant seit immer! Angst, not vnd jamer verlassen euch nicht, wo ir wandert; leit, betrubnuß vnd kummer beleiten euch allenthalben; leidige anfechtung, schentliche zuversicht vnd schemliche verserung die betwingen euch groblich an aller stat; himel, erde, sunne, mone, gestirne, mer, wag, berg, gefilde, tal, awe, der helle abgrunt, auch alles, das leben vnd wesen hat, sei euch vnholt, vngunstig vnd fluchend ewiglichen! In bosheit versinket, in jamerigem ellende verswindet vnd in der vnwiderbringenden swersten achte gotes, aller leute vnd ieglicher schepfung alle zukunftige zeit beleibet! Vnuerschampter bosewicht, ewer bose gedechtnuß lebe vnd tauere hin on ende; grawe vnd forchte scheiden von euch nicht, wo ir wandert vnd wonet: Von mir vnd aller menniglich sei stetiglichen vber euch ernstlich zeter geschriren mit gewundenen henden!
Ein quälendes Ringen zwischen Tod und Leben, dieses Gespräch des „Ackermanns aus Böhmen“ mit dem Tod! Aufgezeichnet hat es mein guter alter Namensgevatter aus dem böhmische Tepl, dem heutigen tschechischen Teplice.
Mir fällt dazu ein klingendes prachtvolles Stück ein, das ich gerade auf der Geige einstudiert habe: die Sonate op. 27 Nr. 2 von Eugène-Auguste Ysaÿe.
Der erste Satz aus der Ysaÿe-Sonate Nr. 2 für Violine solo dauert zwischen 2’20“ bis 3’15“, je nach Tempo. Er heißt „Obsession“ und wird häufig allein gespielt. Er lebt von der Spannung zwischen dem berühmten Thema aus der katholischen Totenmesse „Dies irae dies illa“ einerseits und dem Thema des 1. Satzes der E-dur-Partita für Violine solo von J.S. Bach andererseits.
Ist’s mir doch, als redete hier der Tod mit dem Leben! Bachs E-dur-Fanfare redet mit dem mittelalterlichen Psalm Dies irae dies illa. Und wer hat recht?
Wer behält das letzte Wort?