Am Sonntag gehen wir durch die im Nebeldunst verhüllte Obentrautstraße. Junge Frauen haben auf dem Trottoir einen Tisch hingestellt, laden uns ein, Platz zu nehmen. Wir ziehen Lose aus ihrer Lotterie. Ich habe Nummer 71: “ 2 Cappuccinos im Café am Meer in der Bergmannnstraße.“ Die Sonne lacht, das ist ja genau das, was Ira sich so sehnlich wünscht – ins Café zu gehen, Leute anschauen, reden, reden, reden. Das Glück bleibt mir treu. Wir plaudern mit den Mädchen. Ich kannte Wildwasser e.V. bisher nur aus den Erzählungen von Sozialarbeiterinnen und Sozialwissenschaftlerinnen und stellte mir unter den Wildwasser-Mädchen eher verschüchterte Opfer vor. Darf ich denen gegenüber als Mann einfach so das Wort ergreifen? Ich will und darf! Uns treten lebensfrohe, selbstbewusste, charmante Frauen gegenüber, die ihr Leben gemeinschaftlich neu ausrichten. Ich darf sogar ein Foto machen und erhalte die Erlaubnis, dies in mein Blog zu stellen! Wir probieren die richige Pose für die Aufnahme. Das Ergebnis: Frau ist selbstbewusst, frau hat es nicht nötig, in die Kamera zu lächeln, frau ist rundum schön! Zum Abschied bekommen wir noch zwei Stück Kuchen, den wir sorgsam als Wegzehrung für unsere geplante Wanderung im Havelländischen Luch verwahren. Ira tritt mir mit sofortiger Wirkung alle Genussrechte an dem Schokoladenkuchen ab. So bin ich doppelt begünstigt.
Positive Kommunikation? Fragen – Antworten – Fragen
Am Samstag abend fahre ich nach Schmöckwitz. Klausurtagung des CDU-Kreisvorstandes Pankow. Erneut werde ich gebeten, mein Konzept der „Positiven Kommunikation“ darzustellen. Ich bemühe mich, in sieben Wendungen das Wesen dieser Methode zu fassen:
Positive Kommunikation sieht vor allem das Gute, arbeitet mit Fragen und Lob, setzt auf Vertrauen, richtet sich stets auch an Außenstehende, sieht in die Gegenwart und nach vorne, erarbeitet Gemeinsamkeiten, ermöglicht echte Gespräche, fördert gemeinsames Handeln.
Negative Kommunikation sieht vor allem das Schlechte, arbeitet mit Drohungen, Verneinungen und Angst, richtet sich an die eigenen Leute mehr als nach außen, klammert sich an Vergangenes, will vor allem Recht behalten, verhindert Gespräche und gemeinsames Handeln.
Negative Kommunikation – so meine Behauptung – bringt uns nicht weiter. Ich werfe meinen Hut in den Ring und werbe mit vollem Einsatz für Positive Kommunikation.
Besonders spannend ist die Frage, ob eine Partei auch in der Opposition Positive Kommunikation pflegen sollte. Wäre das nicht Wasser auf die Regierungsmühlen? Hierzu meine ich: Die Opposition darf und soll Kritik üben, muss sogar die Mängel der Regierungspolitik schonungslos anprangern. Allerdings muss sie stets auch positive Alternativen aufzeigen. Sonst lähmt sie, macht mutlos und verdrossen. Erfolgreiche Opposition besteht auch darin, den Leuten Zuversicht einzuflößen, das Wagnis des Wandels einzugehen. Jammern und Anklagen kann immer nur ein erster Schritt sein. Wenn die Leute sich offensichtlich wohl fühlen, was hülfe es, ihnen schlechte Laune zu machen? Nur um damit Wechselstimmung zu erzeugen?
Ich steigere mich anschließend in ein Loblied auf unsere deutsche Demokratie und den Rechtsstaat hinein, wie ich es so nur selten gesungen habe.
Ich werde gefragt, ob ich etwas gegen den Spruch habe: „Die Mauer muss weg!“ Antwort: Nein, ich habe nichts dagegen. Gegen echtes Unrecht, gegen schreiende Missstände müssen wir laut und vernehmlich die Stimme erheben. Aber wir dürfen nicht vergessen, Alternativen zu entwerfen.
Noch besser – das fällt mir erst nachher ein – ist somit die Wendung: „Wir sind das Volk!“ Dies ist eine klare, positiv formulierte Ansage, einschließend statt ausgrenzend, offen für Neudeutungen. Das war eine der Jericho-Trompeten, welche die innerdeutsche Grenze zu Fall brachten. Ein Paradebeispiel für positive Kommunikation, für die Kraft des Wortes, an die ich glaube. Mehr davon brauchen wir!
Ausführlich spreche ich über den oft zu hörenden Politiker-Satz: „Es ist eine Schande, dass … !“ Ich halte ihn für untauglich, ein typisches Beispiel für weitverbreitete negative Kommunikation. Am nächsten Abend schleudert ihn Oskar Lafontaine bei Anne Will in der ARD den CDU/CSU-Vertretern entgegen: „Es ist eine Schande, dass eine christliche Partei sich gegen Mindestlöhne ausspricht!“ So wie ich ihn von Unionspolitikern ebenso inbrünstig gegen die PDS habe richten hören. Hier tritt hervor: Politische Beziehungen werden wechselseitig gestaltet.
Wir sind verantwortlich. Wir sind das Volk.
Am heutigen Schnuppertag öffnete die Adolf-Glaßbrenner-Schule ihre Tore weit. Alle Eltern und Kinder, die im nächsten Jahr schulpflichtig sind, werden herzlich willkommen geheißen. Wir führen ungezwungene Gespräche mit der Sekretärin, der Religionspädagogin, zwei Lehrerinnen und der Schulleiterin. Vor allem aber dürfen wir den Unterricht besuchen und lauschen. Die Jahrgänge 1 und 2 werden zusammen unterrichtet. Dies wird verpflichtend für ganz Berlin vorgeschrieben. Es erinnert mich an die Zwergschulen der 50er Jahre mit ihren jahrgangsgemischten Klassen, die dann gegen heftigen Widerstand der konfessionell gebundenen Eltern abgeschafft wurden. Die Kinder machen alle eifrig mit, obwohl die Steuerung des Lerngeschehens den Lehrern sicherlich mehr abverlangt als bei herkömmlichen Jahrgangsklassen. Ich bin recht begeistert und sage dies zu der neben mir sitzenden Mutter. – Am Ende unseres Besuches trage ich einen Streit mit meiner Frau Ira über das deutsche Schulwesen aus. Sie ist der Meinung, dass es den Kindern in Deutschland viel zu leicht gemacht wird, dass Talente vergeudet werden und keine Leistung gefordert wird, ganz im Gegensatz zu Russland. Alles sei immer zum Vergnügen da, man habe Angst, die Kinder zu beanspruchen. – Ich spreche noch einmal mit einer Lehrerin. Sie meint, gerade Hochbegabungen und auch besonders schwache Begabungen könnten mit dem neuen System des binnendifferenzierten Unterrichtens besonders gut gefördert werden. Ich habe jedenfalls einen sehr guten Eindruck von dieser Schule. Sie steht jetzt oben auf der Liste. Auch mein erster Sohn Tassilo hat diese Schule besucht.
Am Abend dolmetsche ich den Eröffnungsvortrag zur 7. Woche der italienischen Sprache in der Welt. Giulio Ferroni spricht im Italienischen Kulturinstitut fesselnd von den Meeresbildern in der abendländischen und italienischen Literatur. Ein tollkühner Ritt über die Meereswogen, von den Fährnissen des Odysseus über die wundersamen Abenteuer des Ariost bis zu den Tintenfischknochen des Eugenio Montale. Was für ein großartiges Gefühl, dem Schifflein seiner Gedanken als getreuer Dolmetscher zu folgen! Wir sind Gefährten auf hoher See. Freue mich schon auf die anderen Veranstaltungen der „Settima settimana della lingua italiana nel mondo“. Besuch empfohlen! Programm unter www.iic-berlino.de
Tusk gewinnt haushoch in Polen – dank positiver Kommunikation
Lese eben vor dem Aufbruch noch von Tusks Wahlergebnis. Großartig, ich bin begeistert. Tusk hat gewonnen, weil die Polen kein Freund-Feind-Denken mehr wollen, weil sie des alten Blockdenkens überdrüssig sind. Er ist – nach eigenem Bekunden – – pro-deutsch, pro-russisch, pro-tschechisch … ein echter Patriot eben, der für sein Land gute Beziehungen zu allen Nachbarn will. Jestem bardzo zadowolony! Witam panstwo serdecznie z Kreuzberga!
In Augsburg alles klar
Sitze schon im ICE nach Berlin. Die Abfahrt in Nürnberg verzögert sich um 5 Minuten. Die drei Tage in Augsburg waren sehr erfolgreich! Die Pflege für meinen Vater ist nun in besten Händen, Tanja ist sehr nett und wird ihre Aufgabe wunderbar meistern, die Wohnung im ersten Stock konnten wir vermieten, alle Beteiligten konnten eine gemeinsame Lösung finden. Über Nacht ist sogar der erste Schnee dieses Jahres gefallen. Man muss Schwierigkeiten als Herausforderungen sehen. Lösungen gelingen gemeinsam. Zum Abschied spielte ich auf der Geige die Gigue aus der d-moll-Partita von Bach, eine Phantasie über den zweiten Satz aus Beethovens Violinkonzert, den zweiten Satz aus Tschaikowskis Violinkonzert, und zu guter letzt ein russisches und ein deutsches Volkslied. Schön!
Wiesbaden: Integrationsvereinbarung mit den Muslimen
Im Hause meines Vaters finde ich Publikationen, an die ich sonst nie geraten wäre! (Liest er sie noch? Fraglich.) Darunter auch „Publik-Forum. Zeitung kritischer Christen“ (www.publik-forum.de). Ein vorbildliches Blatt, weil es sich nicht einordnen lässt, quer zu den Lagern steht! Nummer 19 vom 12. Oktober 2007 berichtet auf Seite 11 über eine Vereinbarung zwischen der Stadt Wiesbaden und neun islamischen Gemeinden vor Ort. Das Papier umfasst elf Paragraphen. Das Leben der Moscheen soll durchschaubarer werden, die Veranstaltungen sind grundsätzlich der Öffentlichkeit zugänglich. Die Moscheegemeinden wollen sich für die Teilnahme muslimischer Mädchen am Schulsport und an den Klassenfahrten einsetzen. Im Gegenzug fördert die Stadt die Integration, etwa durch Fortbildungsangebote, und wirbt für die Akzeptanz neuer Moscheen. Hätte man so etwas auch in Heinersdorf ausprobieren können? Bin am kommenden Wochenende in Pankow eingeladen. Es geht um „Positive Kommunikation“. Ist dies ein wegweisendes „Wiesbadener Modell“? Was meinen Sie? Bin gespannt, was passiert.
Pflege für den Vater
Mein Vater in Augsburg braucht Pflege und Betreuung. Ich kümmere mich zwei Tage um ihn, zusammen mit Karin. Die Wohnung muss umgestaltet werden. Die Pflege muss organisiert werden. Den Garten habe ich schon gemäht. Was für ein schönes Gefühl, eine Sichel in Händen zu halten! Jahrtausendelang stand die Sichel als Zeichen ein für die Ernte und die Pflege des Landes, für die Bewohnbarkeit der Erde, aber auch für jenen unsichtbaren Schnitter, der uns jederzeit holen kann. Der wilde Wein an der Hauswand rankt üppig, feurig-rot empor. Und jetzt dringt die Mittagssonne kräftiger durch den Oktoberdunst hindurch – im Zimmer blühen die Farben auf.
Eilige Grüße aus dem ICE 1509, Leipzig Hbf
Sicher, wie von tausend Rossen gezogen, zieht der ICE 1509 in den Hauptbahnhof Leipzig ein. Ich lese im Internet die Berichte über wütende Passagiere und verstopfte Autobahnen. Gut, dass ich die Bahn gewählt habe. Gerade dann, wenn die Lokführer im Regionalverkehr streiken, hat der ICE freie Bahn. Obendrein habe ich hier im Großraumabteil Strom- und Internetanschluss. Was will man mehr! Wir liegen im Plan, ich werde um 16 Uhr Ingolstadt erreichen, dort umsteigen und heute abend bei meinem Vater in Augsburg sein.
Am Nachmittag besuche ich die Elternversammlung der Kita am Kleistpark. Ute Kahrs, die Leiterin, und Elena Marx, die Musikerzieherin, berichten über Erreichtes, Erwünschtes und Erträumtes. Die Menschen in der Kita leisten hervorragende musische Grundbildung! Die Kinder werden behutsam an Grundphänomene des Rhythmus, des Tanzes, des Singens herangeführt, einige lernen ein Instrument, es besteht eine enge Partnerschaft mit der Leo-Kestenberg-Musikschule, Musik, Puppentheater-, Theater- und Tanzaufführungen beleben den Jahreslauf auf eine zum Träumen anregende Art, die in der Berliner Kita-Landschaft bisher unerreicht sein dürfte. Das Ganze angeregt und getragen von Eltern, Erziehern und nicht zuletzt der sehr rührigen Leiterin Ute Kahrs. Nebenbei auch ein Beitrag gelingender Integration, denn Kinder aus 20 Nationen kommen dorthin, wobei die deutschen keineswegs die Mehrheit darstellen. Sängerin Ira Potapenko bemalt indessen den Rahmen des Mozart-Bildes liebevoll mit Goldfarbe. So entsteht ein echtes Rokoko-Bild – Schöneberger Rokoko! Die Zeichnungen haben Kinder aus der Kita beigesteuert, Ira hat sie vergrößert und zu einem Hofbildnis arrangiert. Dazu gab es im vergangenen Jahr mehrere Puppentheateraufführungen mit dem „Kleinen Mozart“. Jetzt prangt das Bild in aller Herrlichkeit im Treppenaufgang. Ute und Ira lassen sich zum Abschluss gerne fotografieren.
Besuch bei der Schwester in Frankfurt
Es ist immer schön, meine Schwester Anne und ihre Familie zu besuchen! Einige Freunde sind ebenfalls bei ihr zu Besuch im 4. Stock. Der Blick aus der Wohnung reicht bis in den Taunus – auf der anderen Seite ragen steil, stählern und blank der Messeturm und die Zwillingsgebäude Kastor und Pollux in den Abendhimmel. Faszinierend! Mein Schwager Stefan kocht wunderbar, darunter Humus mit Oliven, Geflügel-Curry und Reis. Die Kinder Juri (4) und Franka (2) beleben die ganze Wohnung auf unnachahmliche Art. Wir entdecken alte Kinderlieder. Juri sagt beim Singen wörtlich: „Hättest du deine Geige mitgebracht, dann könntest du sie jetzt spielen!“ Unglaublich – so ein gutes Deutsch mit vier Jahren! Zufällig taucht auch mein Cousin Nik mit drei seiner Kinder auf. Sie bringen Fleisch aus der eigenen Bio-Rinderzucht in Schotten. Ich bekomme eine selbsterzeugte Salami geschenkt, die ich dann bei der Abreise im Kühlschrank liegen lasse. Unsere langen Gespräche am Abend kreisen um die Kinderschicksale im Gallusviertel , die Politik, das Leben im Allgemeinen, und zunehmend wichtig wird auch der herrliche Rotwein von Leali aus Puegnago del Garda. Ich sinke glücklich und dankbar in den Schlaf. – Am Morgen gibt Anne mir ein Reisetagebuch aus dem Jahr 1976 zu lesen. Dort beschreibt sie die Fahrt, die sie mit unserer Mutter zu Verwandten nach Wien unternahm. Ich bin verblüfft, zutiefst gerührt. Hier tauchen Menschen auf, die längst schon das Zeitliche gesegnet haben. An all dem teilhaben, das ist das Leben!
Samstag auf der Frankfurter Buchmesse. Deutschlandradio Kultur sendet Interviews. Am 3sat-Stand haben sich etwa 50 Zuhörer versammelt und lauschen konzentriert, neugierig und aufmerksam den Gesprächen, die Deutschlandradio Kultur live ausstrahlt. Ich sitze zwischen dem Autor Richard Ford und Redakteurin Dorothea Westphal und dolmetsche Fragen und Antworten zu seinem neuesten Buch „The Lay of the Land“.
„Aber verheiratet! Aber ein Handy“
Von meinem Termin bei der Frankfurter Buchmesse gehe ich zu Fuß hinüber ins Gallusviertel, um meine Schwester und ihre Familie zu besuchen. Die Mainzer Landstraße ist staubig, dunstflimmernd, ein einziges Band aus Asphalt und Beton. Gebrauchtwagenhändler werben für ihre Fahrzeuge mit handgeschriebenen „Hauspreisen“. An einer Straßenbahnhaltestelle hängt ein Stadtplan, den ich betrachte, um mir über den Weg klar zu werden. Die Sonne heizt den Oktobernachmittag noch einmal auf. Drei Männer und eine Frau haben sich diese Haltestelle zu ihrem Rastplatz erkoren, wo sie trinken, schwatzen und essen. Erkennbar fahren sie nirgendwo hin. Die Frau nähert sich mir von der Seite. Mir fällt ihr bayerischer Akzent auf. „Entschuldigung, wir möchten rauchen. Hast du Feuer?“ Ich gebe zu verstehen, dass ich Nichtraucher bin. Die Frau, etwa vierzig Jahr alt, besinnt sich um: „Dann kannst du uns ja zwei Euro geben, wir wollen etwas essen. Das ist doch eine Alternative.“ Die Frau ist überzeugt, dass sie mir ein gutes, tragfähiges Angebot gemacht hat. Ich lehne ab: „Nein, jetzt nicht!“ Die Frau ist enttäuscht und gekränkt, betrachtet mich genau, wie ich mit dem Zeigefinger am Stadtplan entlangfahre, und wie ich in der Hand noch das Mobiltelefon halte. Da erhebt sie ihre Stimme, und während ich mich schon abwende und weitergehe, ruft sie mir noch nach, wobei in ihrer Stimme eine Mischung aus Anklage und Hohn mitschwingt: „Aber verheiratet! Aber ein Handy!“