„Du sollst dich nur daran erinnern!“

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Jan. 262020
 
„Orte des Schreckens, die wir nie vergessen dürfen“. Ein Denkmal des Schreckens, Berlin-Schöneberg, Kaiser-Wilhelm-Platz

Beachtenswert: Martin Schoeller, der einfühlsame Fotograf des Menschen, geboren 1968, erzählt heute im Tagesspiegel über die ungeheure Wucht, mit der etwa ab den 80er Jahren die Kinder und Jugendlichen an den Schulen in Deutschland mit der Nazizeit konfrontiert werden. Ein Zeugnis, wie ich es immer wieder von Kindern und Jugendlichen in Deutschland gehört habe.

„Als Jugendliche hat uns das Thema Aufarbeitung mit der vollen Kraft getroffen. Auf dem Gymnasium ging es um nichts anderes. Im Deutschunterricht, in Englisch, Französisch und natürlich Geschichte ging es nur um die Nazizeit“, erinnert sich Schoeller. „Ich habe das Gefühl, wir haben nie über die Römer oder die Griechen oder andere Länder geredet.“

Er sei mit dem Schuldbewusstsein aufgewachsen, „als würde man immer wieder eins über den Kopf kriegen“. Er habe sich trotzdem weiter für das Thema interessiert. Später, erzählt er, ist er nach Auschwitz und Buchenwald gefahren. Er habe sich immer gefragt, „wie konnte es kommen, dass Menschen aus meinem Land all diese furchtbaren Verbrechen begehen“.

Quelle:
Ingrid Müller: „Survivors. Die Überlebenden des Holocaust.“ Veröffentlicht im Tagesspiegel online am 26.01.2020

https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/survivors-ueberlebende-des-holocaust/

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Apr. 172015
 

Die Benennung und Bewertung geschichtlicher Ereignisse wird immer wieder zum Gegenstand offizieller Sprachregelungen, ja mitunter werden falsche – oder als falsch deklarierte – Meinungen sogar strafrechtlich verboten.

Plato hat deswegen Dichter – mit der alleinigen Ausnahme Homers – völlig aus seinem Idealstaat verbannt, weil sie ja soviel Lügen auftischten und lauter Trugbilder erzählten.

Soll man Lügen und Leugnen, Dichten und Phantasieren strafrechtlich verbieten? Die französische Nationalversammlung hat dies mit Bezug auf Armenien getan – wobei bezeichnenderweise nicht die Leugnung von im französischen Namen begangenen einzigartigen Massakern (Indochina und Algerien im 20. Jahrhundert, Afrika und Europa in Napoleonischer Zeit) unter Strafe gestellt wird, sondern die Leugnung des armenischen Genozids.

Belgien hat das Leugnen der auch von Belgiern begangenen, ungeheuer grausamen Kolonialgreuel in Belgisch-Kongo nicht unter Strafe gestellt, wohl aber das Leugnen der ungeheuer grausamen von den Deutschen begangenen Greuel usw. usw. Jeder Staat scheint diejenige Lüge unter Strafe zu stellen, die ihm aus Opportunitätsgründen gerade in den Kram passt.

Ich persönlich bin freilich gegen derartige Wahrheitsfeststellungen durch die Politik. Beispielsweise wird immer wieder gesagt: „Alle Rassisten sind Verbrecher. Denn Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“ Dann müsste man aber auch Sigmund Freud als Verbrecher bezeichnen, denn wie zahlreiche frühere andere bedeutende Wissenschaftler und bedeutende Philosophen Europas (Kant und Voltaire etwa) hat er sich klar rassistisch geäußert, in dem Sinne nämlich, dass er von höher und niedriger entwickelten Menschenrassen sprach (z.B. in „Das Unbehagen in der Kultur“).

„Wir Deutschen haben zwei Mal – im Ersten und im Zweiten Weltkrieg – die ganze Welt in den Abgrund gezogen. Und wir Deutschen tragen eine erhebliche Mitschuld auch an dem Armenien-Genozid, wir Deutschen müssen endlich unsere Verantwortung und unsere Schuld auch am Genozid an den Armeniern öffentlich eingestehen.“

Diese Bereitschaft, auch für weit zurückliegende Verbrechen anderer die ganz persönliche Schuld zu übernehmen und glaubwürdige Reuegefühle zu manifestieren, finden wir besonders gut bei dem Dichter Paul Gerhardt ausgeprägt, dem in Lübben ein Standbild gewidmet ist. Er dichtet:

„Ich bin’s, ich sollte büßen
an Händen und an Füßen.“
„Ich, ich hab es verschuldet,
Was du getragen hast.“

„Deutschland trägt, wir Deutschen alle tragen unermessliche Schuld.“ Derartige Sätze kann man immer wieder von hochrangigen Vertretern der Bundesrepublik Deutschland und des Deutschen Bundestages hören.

Man kann das so sehen. Man darf durchaus die These vertreten, das „wir Deutschen“ die Alleinschuld am Ersten und am Zweiten Weltkrieg und auch die Schuld oder mindetens Teilschuld am Armenien-Genozid trügen. Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer hat sich während seiner Amtszeit etwa in diesem Sinne immer wieder hervorgetan.

Man kann es aber auch anders sehen – wie etwa Historiker, die von „Beiträgen aller Großmächte zur Kriegsauslösung“, von „Kausalketten“, von „Interessenkollisionen der Großmächte“ usw. sprechen.

Und es ist wichtig, dass den Politiker-Meinungen über Vergangenes auch widersprochen werden darf. Historiker haben sehr oft eine andere Meinung zur Geschichte als Politiker, Zeitzeugen vertreten sehr oft andere Ansichten als Schriftsteller, Politiker und Historiker. Und das ist auch gut so.

Um es kurz zu machen: Geschichtspolitik, Erinnerungspolitik ist Teil des politischen Kräftespiels, unterliegt dem Machtkalkül und dem Machtbegehr. Ihr oberstes Ziel ist nicht die Erkenntnis der Wahrheit.

Wir brauchen gerade deshalb kein normiertes, kein einheitliches staatliches Geschichtsbild. Jede Gesellschaft soll und wird unaufhörlich im freien Gegeneinander der Meinungen neue Zugänge zur eigenen Vergangenheit finden. Was z.B. früher – in Polen, der Ukraine oder der Sowjetunion – unter Strafe gestellt wurde – z.B. das Aussprechen der Wahrheit über die Massaker von Katyn, das Aussprechen der Wahrheit über die Lager in Kolyma oder Magadan – kann morgen schon erlaubt sein.

Ich meine: Die politische Macht, das Parlament, die Regierung dürfen und sollen nicht festlegen, was eine gesetzlich erlaubte oder eine gesetzlich verbotene Meinung über geschichtliche Ereignisse ist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Nicht einmal das bewusste oder unbewusste Lügen über geschichtliche Wahrheiten als solches darf verboten werden.

Wir brauchen kein „Ministerium für Wahrheit“, wie das in George Orwells Roman „1984“ an die Wand gemalt wird.

Wohlgemerkt: Völkermorde, Shoaim, wie man auf Hebräisch sagt, auch der armenische Völkermord sollen durchaus einen Platz im Gedächtnis der Welt haben, wie dies Reinhard Veser heute ja sehr schön, sehr abgewogen auf S. 2 der FAZ formuliert. Der Toten soll gedacht werden, über Tote soll getrauert werden. Aber es kann in einer echten Demokratie nicht Aufgabe der Regierung oder des Parlamentes sein, der Bevölkerung oder gar einer anderen Regierung ein endgültiges Geschichtsbild vorzuschreiben.

Völkermord an Armeniern: Die Bundesregierung muss klare Worte sprechen – Politik – Tagesspiegel.

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Freiheit – eine lebenslange Aufgabe

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Aug. 152009
 

Bin begeistert von dem Interview mit Hans-Joachim Maaz in Spiegel online. Der in der DDR aufgewachsene Psychotherapeut schildert eindrücklich, dass die Gewinnung von innerer Freiheit ein mühseliger, über Jahre und Jahrzehnte sich erstreckender, bewusst angestrebter Prozess sein muss. Klasse! Er ist noch nicht bewältigt, ja eigentlich kaum begonnen.

Was mir weniger gefällt, ist, dass er behauptet, die Ostdeutschen hätten noch viel nachzuholen, die Westdeutschen seien da schon wesentlich weiter. Ich glaube – und ich habe dies immer in diesem Blog vertreten – , dass wir Deutsche überhaupt den vollentwickelten Begriff von Freiheit, wie er an der Wurzel des Grundgesetzes steht, teilweise verloren haben. Der eine mehr, der andere weniger. Einen Mangel an innerer Freiheit erkenne ich immer dann, wenn Menschen alles den Umständen zuschieben, Umstände nicht als veränderbar begreifen. Und dieses Denken ist allzu weit verbreitet. Zitat:

SPIEGEL ONLINE: Am meisten sind die Ostdeutschen über ihre mangelnden politischen Einflussmöglichkeiten enttäuscht. Nach einer aktuellen Studie sind nur elf Prozent mit der Demokratie und nur sieben Prozent mit ihrem politischen Einfluss zufrieden. Wollen die Ostler wirklich Partizipation?

Maaz: Sie können es noch nicht wirklich. Nach der verständlichen Enttäuschung und Ernüchterung über den Westen müsste eine kritische Auseinandersetzung folgen. Uns fehlt noch eine reife Ablösung vom autoritären Syndrom, ein 1968-Ost, wie es auch im Prager Frühling aufschien. Die noch nicht bewältigte Unterwerfung blockiert Selbstbewusstsein und Kreativität. Erst wenn wir das nichtheldenhafte Verhalten in der DDR kritisch analysieren, werden wir auch reif, uns mit den westlichen Strukturen offen auseinanderzusetzen.„Viele Ostdeutsche sind nicht geheilt“ – einestages

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Nov. 172008
 

Diese Frage bejaht der polnische Dziennik in seiner neuesten Ausgabe: Er beklagt, dass die nationale Geschichtsschreibung auf deutscher wie auf polnischer Seite durch Einseitigkeit geprägt sei: „Alle Kriege, die WIR begonnen haben, sind recht und billig. Alle Kriege, die UNS erklärt worden sind, sind ein hinterhältiger Angriff.“ Die Geschichtsbücher auf beiden Seiten bedürften dringend der Überarbeitung:

Dziennik – Wydarzenia – Polacy i Niemcy napiszą historię na nowo
Najpoważniejszym zarzutem stawianym „narodowym podręcznikom do nauczania historii“ jest ich jednostronność. Wszystkie wojny, które MY rozpoczęliśmy, są sprawiedliwe. Wszystkie wojny, które NAM wypowiedziano, są zdradzieckim atakiem. Czy polsko-niemiecki podręcznik będzie wolny od takich błędów? Już wkrótce poznamy zespół, który go napisze.

Ich meine: Wir müssen nicht nur die deutsch-polnische, sondern überhaupt die europäische Geschichte in Teilen neu schreiben. Wer weiß genug über die Länder jenseits von Bug und Weichsel, von Drau und Save? Wissen wir überhaupt etwas? Fragen über Fragen. Meine polnische Urgroßmutter, die aus Oppeln stammte, kann ich nicht mehr fragen.

Aber wir alle können den polnischen Außenminister fragen! Am kommenden 5. Dezember kommt er nach Berlin. Unsere „Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa e.V.“, deren überzeugtes Mitglied ich bin, wird die spannende Reihe „doppelgedächtnis“ fortsetzen. Das Hingehen wird sich wieder lohnen!

doppelgedächtnis: debatten für europa 6
am 5. Dezember 2008 um 15:00 Uhr
Radoslaw Sikorski
Außenminister der Republik Polen

Ort: Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin, Unter den Linden 78

Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Aufarbeitung

EINTRITT FREI

U.A.w.g. unter anmeldung@kultur-in-europa.de oder per Fax: 030 80 48 20 83

Wo stehen Europas Länder 20 Jahre nach Mauerfall? Was haben die Europäer aus der Erfahrung mit Kommunismus und Faschismus gelernt? Wie geht das vereinte Europa mit seinen getrennten Erinnerungen um? Was für Einsichten werden aus dem gespaltenen Gedenken im Osten und Westen Europas gewonnen und gegenseitig vermittelt? Was für gemeinsame Strategien entwickelt Europa, das auch gegenwärtig nach der Balance zwischen Freiheit und Gerechtigkeit auf der Suche ist, aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrung mit Geschichte, Ideologien und Politik?

SCHAUEN SIE SICH DIE BISHERIGEN BEITRÄGE AUF YOUTUBE AN!
Links zu Videomitschnitten der ersten Veranstaltung finden sie hier.

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Rumpf-Identitäten, abbruchbereit

 ADFC, Agamben, Fahrrad, Geschichtspolitik, Identitäten, Nahe Räume, Philosophie  Kommentare deaktiviert für Rumpf-Identitäten, abbruchbereit
Sep. 202008
 

Am Nachmittag strampelte ich mit meinen beiden Söhnen auf der ADFC-Kreisfahrt mit. Wir schwammen achtbar mit, mein sechsjähriger Wanja hielt wacker durch, steuerte sein Rad sicher durch den Schwarm. Wie hätte ein Giorgio Agamben sich gefreut über die Weisheit des Schwarms – jenes fast traumwandlerische Geschick, mit dem eine Menge sich selbst regelt und Zusammenstöße vermeidet. Der Gegenentwurf zum automobilen Imperium!

Kurz nach der Schönhauser Allee schwanden die Kräfte. Wir stiegen aus und pirschten uns auf einer Abkürzung zurück zum Brandenburger Tor. Am beeindruckendsten war für mich das kahle Gerippe des Palasts der Republik: Das also bleibt übrig, wenn Schichten einer steingewordenen Identität abgetragen werden: Treppenhäuser, die ins Nichts führen. Es kam mir wie ein Sinnbild jener Institutionen vor, die sich selbst überlebt haben und es erst nach und nach merken: schaurig-schöne, morsche Stümpfe, in den Abendhimmel gebohrt. Ein Stillleben des politischen Geschehens der letzten Wochen.

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März 252008
 

Erneut stoße ich auf einige Aussagen zum Gegensatz zwischen dem alten Perserreich und dem „Rest der Welt“, aus europäischer Sicht also den griechischen Stadtstaaten. Gebräuchlich seit etwa 2.500 Jahren und bis in die neueste Zeit hinein weiterverwendet ist die Entgegensetzung: dort „orientalisches Großreich mit despotischer Willkürherrschaft“, hier „europäisch-westliches freies Gemeinwesen mit starker Bürgerbeteiligung“. Perikles, Aischylos, Herodot, das Buch Ester der Bibel – sie gehören zu den frühen Belegen für diese schroffe Behauptung eines unversöhnlichen West-Ost-Gegensatzes; die neueren Begründungen für Aktionen gegen die jeweiligen Machthaber im Mittleren Osten reihen sich nahtlos in diese Deutungskette ein. Dies gilt übrigens auch für die Protestaktionen gegen das „blutige Schah-Regime“, deren amtliche Niederprügelung ja am 2. Juni 1967 einer der Auslöser der Studentenbewegung wurden, aber es gilt auch für die jüngsten militärischen Unternehmungen gegen die Nachfolgerstaaten des antiken Persien, also insbesondere die heutigen Staaten Iran, Irak und Afghanistan. Aber auch gegenüber der heutigen Türkei werden immer wieder ähnliche Vorbehalte geäußert, die letztlich in einer Linie mit der Ablehnung der orientalischen Staatsformen überhaupt liegen. Der britische Historiker Anthony Pagden hat in seinem neuen Buch „Worlds at War: The 2,500-Year Struggle Between East and West“ ganz offenbar noch einmal dieses Deutungsmuster als Konstante der europäisch-asiatischen Geschichte aufgearbeitet und im wesentlichen als zutreffend verteidigt, jedenfalls laut Rezension im Economist, (March 22nd-28 2008, p.87-88):

„It is hardly a coincidence, he [i.e., Pagden] suggests, that ancient Athens found itself doing battle with the Persian tyranny of Xerxes, while the modern Western world faces a stand-off with the mullahs‘ Iran. In his view of history, these are simply related chapters in a single narrative: the contest between liberal and enlightened societies whose locus is Europe (or at least European culture) and different forms of Oriental theocracy and authoritarianism.

Even where the enlightened West did bad things, these were aberrations from a broadly virtuous trajectory; where the tyrannical east (from Darius to Osama bin Laden) committed sins, they were no better than anybody could expect—that is what Mr Pagden implies. He broadly accepts the argument of the al-Qaeda propagandists that today’s global jihad is a continuation of the civilisational stand-off which began in the early Middle Ages and which is doomed to rage on.“

Helfen solche Vereinfachungen, die immer noch das politische Handeln und das Selbstbild des Westens leiten, weiter? Eine Schwierigkeit liegt darin begründet, dass unser Geschichtsbild der orientalischen Großreiche fast ausnahmslos aus der Außensicht „vom Westen her“ gespeist ist. Wir besitzen schlechterdings keine ausgearbeitete Geschichtsschreibung aus dem Inneren des Perserreiches, ebensowenig wie aus dem alten Ägypten. Was nun das antike Persien angeht, das sich ja im 6. Jahrhundert v.d.Z. von der Donau bis an den Indus erstreckte, also das erste, von den Zeitgenossen viel bestaunte Weltreich überhaupt darstellte, so tut man ihm offensichtlich unrecht, wenn man es einzig und allein als despotische, ungeregelte Willkürherrschaft bezeichnet. Im Gegenteil: Unter Dareios (550-486 v.Chr.) wurde eine effiziente Verwaltung aufgebaut. Der Altertumswissenschaftler Philipp Meier schreibt:

„Galt Kyros als der Begründer, so war Dareios der Ordner des Reiches. Er hat das Riesenreich bis auf den letzten Weiler hin durchorganisiert. Das Ergebnis war eine Verwaltung, die selbst nach heutigen Maßstäben als vorbildlich gelten darf. Dareios war der fähigste Organisator der alten Welt. Von diesem Erbe zehrt der Iran noch heute.“

Weit schwerer als der Vorwurf mangelnder Organisation wiegt jedoch der ständige Vorwurf mangelnder Freiheit, den wir im Westen landauf landab hören und wiederholen. Die östlichen Großreiche – ob nun das antike Perserreich oder das spätere Osmanische Reich – werden aus dem Westen meist stereotyp als Bastionen der Unfreiheit, der gesetzlosen Willkür gesehen, in denen der Einzelne und die einzelne Volksgruppe nichts, der Wille des Mannes an der Spitze alles gelte. Doch auch hier sind erhebliche Korrekturen angebracht! Ich zitiere noch einmal Philipp Meier, der die bis heute allseits umjubelten Siege der Griechen über die Perser bei Salamis und Plataiai in den Jahren 480-479 v. Chr. wie folgt kommentiert:

„Ob das allerdings für die Griechen ein Glück war, mag bezweifelt werden. Denn während die Perser eine relativ liberale Herrschaft über ihre Provinzen ausübten, versuchte Athen, die übrigen hellenischen Territorien in beträchtlich radikalere Abhängigkeit zu zwingen, die binnen 100 Jahren zum totalen Bedeutungsverlust der Stadt führten. ‚Es steht fest, dass die Staatsgewalt der griechischen Stadtstaaten über ihre Bürger in gewisser Hinsicht die des [persischen] Großkönigs über seine Untertanen überstieg. So hatten beispielsweise die den persischen Monarchen unterworfenen ionischen Städte keine andere Verpflichtung, als einen mäßigen Tribut zu zahlen, der ihnen überdies häufig erlassen wurde, während sie sich im übrigen selbst regierten.‘ (Jouveuel, S. 172) Athen dagegen versuchte, die angestrebte, aber nie verwirklichte hellenische Einheit durch eine Tyrannis durchzusetzen, die die Wehrfähigkeit der Städte derart herabsetzte, dass sie Alexander von Makedonien mit nur wenig Gegenwehr in die Hände fielen.“

(zitiert aus: Philipp Meier: Das Perserreich. In: Aischylos. Die Perser. In neuer Übersetzung mit begleitenden Essays. Regensburg: Selbstverlag des Studententheaters 2005, S. 73-86, hier S. 78 und S. 86)

Was lernen wir daraus? Ich meine dreierlei: Zunächst, die festgeprägten Urteile des Westens über den angeblich so barbarischen, unfreien Osten haben sich seit 2500 Jahren als außerordentlich hartnäckig erwiesen. Sie entbehren zweitens jedoch oft einer sachlichen Begründung und lassen sich dann durch historische Forschung widerlegen oder zumindest einschränken. Als handlungsleitende Impulse für die Beziehungen zwischen den heute bestehenden Staaten sind sie schließlich nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. Sie führen wie schon in der Vergangenheit so auch heute oft in die Irre. Das zeigt sich in dem weitgehend konzeptionslos anmutenden politischen Handeln der westlichen Staaten in den heutigen Staaten des Mittleren Ostens.

 Posted by at 13:46