Ha! Arno Widmann, endlich jemand, der sich jahrzehntelang mit Dante auseinandergesetzt hat, jemand, der sich nicht durch blinde Danteverehrung ins Bockshorn jagen lässt! So möchte ich meinen. Lebhafteste Aufmerksamkeit fand erfreulicherweise in Italien der folgende, am 25.03.2021 in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte Zeitungsartikel Widmanns:
Dante: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen | Literatur (fr.de)
Ich muss sagen, mich freut jeder Streit um Dante, il mio compagno di vita di lunga data!, – vorausgesetzt, die Streitenden nehmen einander zur Kenntnis, lesen einander in Redlichkeit. Vorausgesetzt ferner, sie lesen Dante, versuchen diesen unerschöpflichen Kosmos immer neu zu erkunden, zu hören, zu sehen und zu spüren. Alle diese Voraussetzungen liegen, so scheint mir, bei Arno Widmann geradezu mustergültig, bei seinen lautstarken Kritikern nur sehr eingeschränkt vor. Manche meinen, der große oder allergrößte Italiener aller Zeiten sei verunglimpft worden. Sie fühlen sich gar in ihrer nationalen Ehre durch Deutschland angegriffen und beleidigt.
Was geht hier eigentlich ab? Werfen wir doch einen unvoreingenommenen Blick in die politische Lage nicht des heutigen Italien, sondern Italiens zur Zeit Dantes! Dino Compagni (geb. vor 1260-1324), der mutige Zeitgenosse Dantes, charakterisiert seine Mitbürgerinnen und Mitbürger zu Beginn des 2. Buches seiner zeitgeschichtlichen „Cronica“ mit folgenden Worten: „Malvagi cittadini pieni di scandoli, distendete le vostre malizie. Palesate le vostre inique volontà e i pessimi proponimenti.“ Auf Deutsch: „Böswillige Bürger voller skandalisierter Empörungswellen, breitet ihr eure Boshaftigkeiten aus, legt ihr eure ruchlosen Absichten und niederträchtigen Vorsätze offen dar.“
Die von Compagni gegeißelte abgrundtiefe Zerstrittenheit der italienischen Städte, Stadtrepubliken, Herrschaftsgebilde aller Art war legendär. Dante beklagt sie ebenfalls auf Schritt und Tritt, er zahlte selber einen hohen Preis dafür.
Denn seine Mitbürger verurteilten ihn zu Verbannung und drohten ihm mit Hinrichtung. In vielen Versen Dantes spüre ich seine abgründige Verbitterung, seine Trauer, ja und auch momentweise einen aufflammenden echten Hass auf so manche seiner lieben Mitbürger und lieben Landsleute heraus.
Ich für mein Teil lese Arno Widmanns Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 25.03.2021 als Beispiel einer Philologia controversistica, „Kontroversphilologie“, als Probstück einer auf Einspruch ausgelegten, scharfsinnigen Erzählung persönlicher Erfahrungen, fleißig gesammelter Lesefrüchte und eigener Meinungen. Man merkt, Widmann hat sich jahrzehntelang mit Dante auseinandergesetzt, er kennt „seinen“ Dante besser als so mancher empörungsbereite Politiker und Journalist nördlich und südlich der Alpen.
Roberto Saviano (geb. 1979) wiederum ist ein mutiger italienischer Europäer, unser Zeitgenosse. Dante war auch ein mutiger italienischer Europäer, in gewisser Weise ebenfalls immer noch unser Zeit-Genosse.
Und Saviano lässt darin Widmann Gerechtigkeit widerfahren, dass er einfach mal den Artikel Widmanns vollständig liest und ihn, seinen Zeitgenossen, persönlich befragt – ein Grundgebot der Redlichkeit.
Savianos Vorgehen ist vorbildlich. Andere sollten ihm folgen.
Zitatnachweis:
Dino Compagni: Cronica delle cose occorrenti ai tempi suoi. Libro secondo. Proemio. Zitiert nach: Raffaele Spongano: Antologia della letteratura italiana. Volume primo: Dalle origini alla fine del Quattrocento. Casa editrice Giuseppe Principato. Milano – Messina 1940, Seite 115-135, hier Seite 121