Als eine stille Kammer
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
So weit schallen ein paar Verse aus einem neuen Buch nach, das ich mir gestern zulegte. Der Dichter? Nennen wir ihn einfach – Matthias.
„Wie bitte? Sollen wir des Tages Jammer verschlafen und vergessen? Dürfen wir das überhaupt? Können wir das? Gibt es nicht Ereignisse und Orte des Jammers, die wir nie vergessen dürfen? Wird es uns nicht jeden Tag am Schöneberger Kaiser-Wilhelm-Platz aufs Brötchen geschmiert, dass es 12 Orte – genau 12! – des Schreckens gibt, die wir nie vergessen dürfen, an die wir buchstäblich Tag um Tag, Nacht um Nacht, bei jedem Frühstück und bei jedem Abendessen von Kindesbeinen an und bis ins Sterbebett denken müssen? Dürfen wir uns über dieses Gebot „Wir dürfen nie vergessen“ hinwegsetzen?“
Du stellst eine große Frage, o Freund! Zu groß für mich! Erlaube, dass ich dir von Abuna Matthias I., dem Patriarchen der äthiopisch-orthodoxen Kirche erzähle! Im Mai 1937 richteten dort im Kloster von Debre Libanos europäische Truppen unter Führung des Europäers Rodolfo Graziani, des Vizekönigs von Äthiopien, unter den äthiopischen Christen das schlimmste Klerikermassaker aller Zeiten auf afrikanischem Boden an. Die vielzitierten europäischen Werte wurden von den Europäern in Afrika mit Maschinengewehren und Giftgas vertreten, diese Maschinengewehre erlebten die Afrikaner damals als europäische Werte! Ian Campbell, der derzeit wohl bestausgewiesene Historiker in dieser Sache, schätzt die Zahl der durch die Europäer ermordeten Christen dieses einzigen Tages auf 1.800 bis 2.200, darunter etwa die Hälfte Priester und Ordensleute, die andere Hälfte Wallfahrer. Dieses und andere Massaker, insbesondere auch der gesamte Krieg, den die Europäer – in diesem Fall italienischer Herkunft – gegen die Äthioper führten, zielten nach Darstellung der Äthioper selbst damals auf Auslöschung der gesamten christlich-äthiopischen Kultur und die Vernichtung von deren Existenz. Das sind die vielzitierten europäischen Werte!
„Aber das ist ja … das habe ich nicht gewusst. Das ist furchtbar, schrecklich, was wir Europäer damals in Afrika angerichtet haben! Das dürfen wir Europäer nie vergessen. Wir Europäer tragen alle auf ewige Zeiten Schuld und Verantwortung dafür, was wir Europäer alles den Afrikanern angetan haben. Das ist unverzeihlich!“
Freund, sei dessen eingedenk, was damals geschah! Wie bewertet aber nun der heutige äthiopisch-orthodoxe Patriarch Matthias diese 1937 verübten Verbrechen der Europäer an den afrikanischen Christen? Die Antwort hat es in sich, sie sei hier in deutscher Übersetzung zitiert: „Non si è trattato di una cosa buona“, sagt Matthias, „es handelte sich um keine gute Sache, wir haben sehr viele Menschen verloren, darunter die Mönche, den Bischof Abuna Petros. Jetzt ist zu recht fast alles vergessen und vergeben. Ich darf sagen: es ist gut so. Was kann man jetzt noch machen?“
Matthias von Wandsbek und Matthias von Äthiopien, diese beiden Matthiasse weisen auf die Bedeutung des Vergebens und Vergessens hin. In der Tat scheint es so zu sein, dass man irgendwann nicht mehr anders kann als so zu tun, als wäre etwas nicht gewesen. Nach vorne richtet sich der Blick. Man schläft und vergisst. Man verschläft es alles weg, weil man nicht immer daran denken möchte.
Quellen:
Andrea Tornielli: Sterminate quei monaci. Firmato: il viceré Graziani. Un docufilm solleva il velo sulla più grande strage di religiosi cristiani mai compiuta in Africa. Nel 1937 i soldati al comando del generale italiano uccisero per rappresaglia duemila persone: mille erano membri del clero. In: La Stampa, mercoledì, 18 maggio 2016, pagina 22
Matthias Claudius: Abendlied. In: Deutsche Gedichte. Herausgegeben von Hans-Joachim Sinn. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig, 3. Aufl. 2013, S. 385
http://www.lastampa.it/2016/05/18/vaticaninsider/ita/inchieste-e-interviste/sterminate-quei-monaci-firmato-il-vicer-graziani-sXPpXXTZmE5TaN8nJZo79L/pagina.html
Bild: Der Mond ist aufgegangen über Neuranft in Oderaue im Oderbruch am vergangenen Samstag, als wüsste er von nichts. Als wäre kein Jammer je gewesen!