Mai 012016
 

„Wenn in der Musik die Gefühle der Liebe, der Rache oder des Hasses geschildert werden, ist es doch so, als ob wir sie im Spiegel sehen könnten. Wenn man die Matthäuspassion von Bach hört, erlebt man alle möglichen Gefühle und Gedanken, Angst, Freude, Dankbarkeit, Liebe, Vertrauen, Haß, als habe man sie selbst empfunden.

Ja, es ist wie bei einer Impfung. Wenn man geimpft wird, hat man die Krankheit. Diese Geschichte eines einzelnen Menschen symbolisiert die Geschichte der ganzen Menschheit. Das war sozusagen der Rahmen, in dem jeder sich wiederfinden konnte. Heute gibt es solche Rahmen für die ganze Menschheit nicht. Und damit meine ich nicht, daß alle Menschen Christen werden sollten.“

Einige höchst beachtliche Aussagen Yehudi Menuhins! Er schreibt der Musik die Fähigkeit zu, die tiefsten Gefühle und Leidenschaften des Menschen aufzuwühlen. Jedoch traut er ihr nicht zu, die dunklen unerwünschten Gefühle wie etwa Angst oder Haß auszujäten und den Menschen gewissermaßen zu läutern. Nicht der Haß verschwindet, wenn man etwa den Haß der Menschen auf dem Menschen nachempfinden lernt,  sondern  der Umgang mit dem Haß ändert sich! Der Umgang mit dem Gehassten wandelt sich! Menuhin hat erkannt: Der Haß lässt sich nicht niederringen oder ausrotten, schon gar nicht durch den Haß. Auch Musiker können und dürfen hassen.

Das wiederum, so meine ich, steht ganz in der Nachfolge Jesu. Denn auch Jesus hat ja niemals verlangt, alle Feindschaft, allen Haß zu leugnen oder gar aufzugeben. Er kannte zweifellos Haß und Angst aus eigener Erfahrung mit dem eigenen Selbst. Der Haß steigt ja gewissermaßen immer wieder aus dem Inneren des Menschen hervor, er ist nicht in den Verhältnissen begründet, sondern er gehört zur Grundausstattung des Menschen. So wird niemals von Christus verlangt, man dürfe nicht hassen oder müsse alle Menschen zu Freunden oder zu Nächsten machen. Auch Moses hat eine derartige Generalsanierung des seelischen Gebäudes des Menschen nicht verlangt. Sehr realistisch, sehr modern, möchte man sagen, was die beiden Herren da erwarten oder erbitten. Nicht Eiapopeia ist angesagt – „mip mip mip, wir haben uns alle lieb“, wie es heute statt eines Gebetes bei Mahlzeitenbeginn geleiert wird –  sondern die „Feindesliebe“, ja wir dürfen sagen: die „Hassesliebe“.

Es wird, so sagen es Moses und die Jehudim, immer „Nächste“ und „Feinde“ geben. Die Einheit von Feindesliebe und Nächstenliebe, das ist das eigentliche Geheimnis.

Quelle:

„Mein Auftritt in Berlin war ein musikalischer Ritterschlag.“ Yehudi Menuhin im Gespräch mit Kläre Warnecke. DIE WELT, April 1988 (genauer Tag nicht feststellbar)

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