Wird Europa Eins?

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Aug 302015
 

eins oder drei 20150823_114859

deheinen rat kond ich gegeben
wie man driu dinc erwurbe
der keines niht verdurbe

So sang es einmal ein deutscher Dichter.

Drei zusammenzubringen, das ist oft nicht leicht: Nimm zum Beispiel Bus, Straßenbahn, Radl. Schwer. Aber es lohnt, das Zusammenbringen der drei mindestens zu versuchen.

Drei zusammenzubringen ist oft schwer. Freiheit, Recht, Einigkeit etwa. Eines verdirbt allzu leicht unter den dreien.

Allzu leicht ist dann der Rückgriff auf das große Eine: ein einziges Auto für alle deine Wege. Oder der Einheitstarif etwa: Festnetz flat, Internet flat, mobil flat. So wird Europa EINS. Das schafft die Einheit. Sinntankstelle, magische Formel!

Zitat:
Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Philipp Reclam jun., 11. Aufl., Stuttgart 1990, S. 21

Foto:
Europa wird EINS. Die DREI ohne Tankstelle: Bus, Straßenbahn, Radl.  Aufnahme vom Königsplatz in Augsburg, 23.08.2015

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Aug 282015
 

„Es zeigt sich einfach, dass der Euro nicht funktioniert, sondern immer größere wirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugt, und am dramatischsten zeigt sich das eben in Griechenland“, wurde am Wochenende eine Bundestagsabgeordnete in der WELT und der FAZ zitiert. Krass. Eine steile, ja geradezu eine krude These! Die Bundestagsabgeordnete NN bemängelt am Euro-System, dass es die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen zu stark einenge.

Das ganze Euro-Wesen – so dürfen wir zusammenfassen – sei also gewissermaßen das Ende der Freiheit. Ich denke, die krude These dieser Bundestagsabgeordneten NN verdient eine vorurteilslose Diskussion.  Aus diesem Grund sei ihr Name hier nicht genannt. Wie sie heißt und welcher Partei sie angehört, spielt hier keine Rolle; der Wahrheitsgehallt einer Aussage bemisst sich schließlich nicht danach, wer sie äußert. Entscheidend ist stets: Trifft diese Aussage zu? Ist sie wahr, teilweise wahr – oder ist sie falsch, teilweise falsch?

Zweifellos stützt sich die zitierte krude These nicht nur auf softe Gefühle, sondern auch auf harte Zahlen. Die Schere zwischen wohlhabenderen und ärmeren Volkswirtschaften ist seit 1996 innerhalb der Eurozone deutlicher als außerhalb der Eurozone auseinandergegangen. Das verblüfft, beruhte der Euro doch auf der Grundannahme der Konvergenz. Die Konvergenz der Euro-Volkswirtschaften hat jedoch abgenommen, die Divergenz hat hingegen dramatisch zugenommen. Und nunmehr hat ausgerechnet im Reiche des Euro sogar Frankreich den Status als wichtigster Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland an die USA abgeben müssen; Handelspartner Nummer 1 sind jetzt die USA, nicht mehr wie jahrzehntelang Frankreich. Das heißt, das Handelsvolumen Deutschlands mit den USA hat während der Herrschaft des Euro stärker zugelegt als das mit Frankreich. Der außenwirtschaftliche Trend zeigt also abwärts für die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone.

Noch krasser ist aber der Befund in der drittwichtigsten Euro-Volkswirtschaft, in Italien. Hier haben wir aktuell eine Jugendarbeitslosigkeit von 43%, Italiens Volkswirtschaft  ist seit 1996 – als der Jubel über den Euro-Beitritt  unüberhörbar erscholl –  fast nicht mehr gewachsen.  Darüber hinaus hat sich sogar innerhalb Italiens die Divergenz zwischen ärmeren und reicheren Gegenden vergrößert. Der Süden Italiens – dem ich mich übrigens durch langjährige Erfahrungen mit jeder Faser meines Herzens verbunden fühle –  leidet an einem langanhaltenden wirtschaftlichen Niedergang. Quasi quasi mi si strazia il cuore! Adriano Giannola, 71, emeritierter Professor für Finanzwirtschaft, Präsident der Vereinigung für die Entwicklung des italienischen Südens (SVIMEZ) sagte es am 24.08.2015 in der Süddeutschen Zeitung (S. 18) so: „Der Euro hat die innere Spaltung des Landes in einen mangelhaft kapitalisierten Süden und in einen halbwegs leistungsfähigen Norden eher befördert als vermindert.“

Und immer wieder spreche ich persönlich auf Kreuzbergs und Schönebergs Hinterhöfen mit gut ausgebildeten Akademikerinnen und Akademikern aus Portugal und Spanien, die deutsche Plätze fegen, deutsches Unkraut jäten, deutsche Treppenhäuser putzen. Man fragt sich mit Horaz: Hoc erat in votis monetae unicae dedicatis? Ward dies dem Euro an der Wiege gesungen?

Dabei soll aber nicht alle Schuld ausschließlich dem Euro gegeben werden! Das tut ja auch niemand. Fest scheint aber zu stehen, dass der Euro nicht nur wegen politischer Versäumnisse und Fehler, sondern auch aus strukturellen, aus systemischen Gründen im vergangenen unrühmlichen Ventennio der Eurozone insgesamt mehr Schaden als Nutzen beschert hat.

Insofern ist – egal was die LINKE-Mehrheit, die CDU/CSU-Mehrheit, die SPD-Mehrheit und die FDP-Mehrheit nicht müde werden zu behaupten und endlos weiter vertreten  – der Bundestagabgeordneten Sahra Wagenknecht und dem Finanzwirtschaftler Adriano Giannola vorsichtig zuzustimmen. Beide haben eine vorurteilslose Erörterung ihrer kruden Thesen verdient.

Sahra Wagenknecht und Adriano Giannola gehören zweifellos zu den Minderheitlern, den Menschewiki im Chor der politischen Stimmen, wie sie auf Russisch zu Beginn des 20. Jahrhunderts genannt wurden.  Aber sie haben gerade deswegen eine vorurteilslose Erörterung ihrer kruden Thesen verdient. Man sollte sie nicht als Rechtspopulisten oder Europafeinde abkanzeln.

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/montagsinterview-italien-ist-nie-eine-geeinte-nation-gewesen-1.2617855?reduced=true

http://www.welt.de/politik/deutschland/article145454656/Sahra-Wagenknecht-stellt-den-Euro-infrage.html

http://www.svimez.info/index.php?lang=en

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Aug 272015
 

Hochablass 20150822_143128

Letztes Wochenende süffelte ich zusammen mit meinem Bruder ein Weizenbier im Vereinslokal des DJK Augsburg Hochzoll in der Zugspitzstraße. Der kurzgeschorene Rasen lag ausgedörrt in der Sonne, die Zunge klebte ebenfalls ausgedörrt am Gaumen. Es stand 1:0 beim Spiel des FCA gegen Frankfurt. Würde Frankfurt noch den Ausgleich schaffen? Es war so heiß, das Reden fiel mir schwer. Alte Erinnerungen stiegen hoch. War es nicht hier? Hier hatte ich doch damals mit der Schülermannschaft des TSV Firnhaberau ein Fußballspiel ausgetragen, hier hatte ich doch unter sengender Hitze das blechern klingende Lied „Ein Student aus Uppsallallala“ aus dem Stadionlautsprecher gehört, oder täuschte ich mich? Wir verloren, wie hoch? Das habe ich vergessen. Nicht vergessen habe ich „Ein Student aus Uppsala“!

Doch, das war so. Und das Lied „Ein Student aus Uppsala“ prägte sich mir unauslöschlich ein.  Gesungen hat es die Kirsti mit ihrer bezaubernden Stimme. Viele Verse daraus kann ich heute noch auswendig. Warum?

Kirsti hatte die Gabe, jedes einzelne Wort und jeden einzelnen Satz so zu singen, dass sie über Jahre und Jahrzehnte haften blieben. Kirstis Aussprache des Deutschen war vorbildlich. Kirsti hatte offenbar eine sehr gute Schulung durchlaufen.

Ebenso unvergesslich: Der „Surabaya Johnny“, das Lied von Bert Brecht und Kurt Weill, gesungen von Lotte Lenya. „Nimm doch die Pfeife aus dem Mund, du Hund!“ Hier stimmt jedes Wort, hier stimmt jeder Satz, man sieht gewissermaßen, man erlebt mit, wie Lotte Lenya diesem unverwüstlichen, unsympathischen und doch unwiderstehlichen Surabaya Jonny die Pfeife aus dem Mund schlagen möchte!

Hört man solche und andere ältere Aufnahmen von deutschsprachigen Songs, Schlagern, Liedern und Opernarien an, so stellt man immer wieder fest, dass jedes einzelne Wort noch Jahrzehnte später klar, frisch und eindeutig zu verstehen ist.

Die Norwegerin Kirsti Sparboe, die Wienerin Lotte Lenya, der niederländische Kinderstar Heintje  … die Reihe lässt sich fortsetzen:   die Italienerin Milva, der Tscheche Karel Gott, der Österreicher Peter Alexander – sie alle verfügten noch über das, was heute bei deutschsprachigen Schauspielern und Sängern fast nicht mehr zu finden ist, weder im Pop noch im Rap, weder in der Unterhaltungsmusik noch auf der Sprechbühne noch in der sogenannten E-Musik: eine bestechend klare, fest sitzende, das Verständnis der Worte und Wörter sichernde Aussprache des Deutschen – oder auch des Englischen.

Diese hohe Kultur des Sprechens und Singens droht heute mindestens in Deutschland nach meinen Eindrücken verlorenzugehen, und zwar durch die Bank bei Sängern, Schauspielern, Chören, bei Profis und bei Laien, bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fast gleichermaßen.

Der European Song Contest liefert Jahr um Jahr besonders schlagende Belege dafür. Viele Texte (in diesem Fall in Englisch) sind gerade bei deutschen Teilnehmerinnen nur halb verständlich, es wird genuschelt, gemümmelt, gedrückt und gesäuselt, was das Zeug hält. Technische, computertechnische, ja pyrotechnische Effekte beherrschen die Szene, die Show überwiegt, das gesungene Wort verschwimmt und verschwindet. Und viele besonders erfolgreiche  Sänger könnten eindeutig auf offener Bühne gar nicht mehr ohne technisches Backup oder Playback singen.

Woran liegt das? Vielleicht daran, dass von Kindesbeinen an nicht mehr so viel gemeinsam gesungen wird? Vielleicht daran, dass es keine gemeinsamen Texte, keinen gemeinsamen Kanon an Liedern, Märchen und Geschichten mehr gibt?

Wie auch immer. Abfinden sollte man sich damit nicht!  Ich denke, gerade wenn wir jetzt 800.000 Menschen, 800.000 neue Mitbürger ohne jede Kenntnisse der Landessprache Deutsch in einem einzigen Jahr in Deutschland integrieren wollen, was ja löblich ist, was ich gutheiße, müssen wir unbedingt unsere Muttersprache Deutsch mehr achten und pflegen. Und wir sollten bei uns, bei unserem Sprechen damit anfangen.

Kirsti, Milva, Lotte, Heintje, Peter, Karel … sie alle können uns lehren, dass gutes, klingendes, verständliches, beseeltes Deutsch möglich und nötig ist, wenn wir es wollen. So wahnsinnig schwer ist es auch wieder nicht! Und es macht Spaß!

Das Motto der Arbeit ergibt sich zwanglos beim Betrachten eines beliebigen Bildes, hier zum Beispiel: der Hochablass in der Brecht-Stadt Augsburg, aufgenommen in Hochzoll am 22. August 2015.
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund!
Sei doch kein knurrender Hund!
Höre das Rauschen des tosenden Lechs,
wie er hinabstürzt über den Hochablass!
Kiesel um Kiesel nimmt er mit sich.
Wer kann dem tosenden Fluß widerstehen?
Wer könnte, wer wollte sich diesem Fluß entgegenstemmen?
Ich nicht! Du nicht! Schwimme mit mir!
Aber noch einmal sage ich’s dir:
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund.
Sei doch kein knurrender Hund.

Eine schöne Handreichung zur eigenen Arbeit an guter Aussprache möchte ich abschließend noch empfehlen:

Klaus Heizmann: So spreche ich richtig aus. Eine Hilfe für Redner, Chorleiter und Sänger. Schott Verlag Mainz, 2. Aufl. 2011

 

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Μὴ καὶ ὑμεῖς θέλετε ὑπάγειν; „Wollt ihr auch weggehen?“

 Johannesevangelium, Novum Testamentum graece, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Μὴ καὶ ὑμεῖς θέλετε ὑπάγειν; „Wollt ihr auch weggehen?“
Aug 262015
 

Dom 20150823_113201

„Wollt ihr auch weggehen“ – in Zeiten der Griechenlandkrise übersetzen wir diese Frage selbstverständlich ins Griechische!

Denn die Europäische Union gehört ja zu Europa, sie, die EU ist ein Teil Europas. Und Europa ist – sofern wir es nicht einfach als Landmasse, als mehr oder minder unerhebliches Anhängsel Asiens betrachten – zwar sehr wohl ohne die englische, russische, lettische oder deutsche Sprache, aber nicht ohne die griechische Sprache denkbar: schon die Bezeichnung Europa ist griechischen Ursprungs, es gab eine Art Europa, ehe es eine Art EU gab. Und ehe es eine Art Europa gab, gab es schon eine Art Hellas.

„Wollt ihr auch weggehen?“, das lautet auf Griechisch:

„Μὴ καὶ ὑμεῖς θέλετε ὑπάγειν;“

„Hypago“, das griechische Verbum können wir hier ohne weiteres als „zurückziehen“ übersetzen, so wie etwa ein Kartenspieler seinen Einsatz zurückzieht oder ein Feldherr seine Truppen zurückzieht. Ich schlage also heute folgende Übersetzung des griechischen überlieferten Textes vor:  „Wollt ihr etwa auch zurückziehen?“ Wer so fragt, überlässt den gefragten Menschen selbstverständlich die Wahl. Niemand ist gezwungen dabeizubleiben oder auf den Wanderungen mitzugehen.

„Wollt ihr etwa auch zurückziehen?“ Da schwingt mit: „Ihr seid frei. Ihr könnt mitkommen, ihr könnt aber auch weggehen.“ Die Gemeinschaft mit Jesus entspringt keinerlei Art von Zwangsgebot. Von einer „immer engeren Union“ kann hier in unserem Beispieltext (es handelt sich um das Johannesevangelium, Kap. 6) keine Rede sein.

Die Frage Jesu Christi eröffnet hier wie an tausend anderen Stellen diesen Raum der Freiheit. Wer nicht mitkommen will, der kann jederzeit gehen. Selbst Simon Petrus, der große Theatermensch, der ja hier nicht und auch sonst nicht um ein großartiges, großspuriges  Vertrauensbekenntnis verlegen war, wird diese Freiheit des Weggehens drei Mal in Anspruch nehmen, ehe der Hahn kräht.

Wer nicht mitkommen will, wer das Vertrauen (griechisch pistis) verloren hat, der darf und kann jederzeit gehen. Ich meine sogar: Der soll gehen. Das Ausscheiden aus der Vertrauensgemeinschaft (griechisch: ekklesia) wird durch Jesus selbst nach dem Zeugnis des Johannes ohne Nachteil für Leib und Leben, ohne jede Strafandrohung freigestellt.

In allen wesentlichen Fragen widerspricht Jesus Christus also dem Leitbild einer immer „immer engeren Union“, wie sie etwa der Lissaboner Vertrag oder  die europäische Christdemokratie für die EU gebieterisch vorschreibt, einer Euro-Zwangsgemeinschaft, die sich gewissermaßen selbstläufig in immer stärkerer Vertiefung ergeben soll.

Jesus lädt stattdessen zur Nachfolge ein. Er will keine Unterwerfung unter ein Reglement, wahrscheinlich auch keinen Gehorsam. Den Gedanken der Unterwerfung  – la SOUMISSION, wie sie z. B. Michel Houellebecq erzählt  – lehnt er hier wie an tausend anderen Stellen radikal ab.

„Wollt ihr auch weggehen?“ Ich hörte diese Frage beim Besuch der Messe im Augsburger Dom am vergangenen Sonntag (siehe Bild). Sie hat mich lange beschäftigt.

Quelle:

Novum testamentum graece, ed. Strutwolf e.al., 28. Aufl. Stuttgart 2012, hier: Joh 6,67

 

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Kann man sich am Klang der Sprache wie am Klang der Musik erfreuen?

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Aug 212015
 

Könnte man die Freude an der Musik vielleicht auch mit der Sprache empfinden? Oft frage ich mich das. Wenn ich schöne Musik hören will, dann gehe ich einfach in ein Konzert oder spiele selbst mein Instrument oder singe, allein oder mit anderen.

Wenn ich aber schöne Sprache hören will, kann ich dann einfach so ins Theater oder ins Kino gehen, kann ich dann einfach das Radio oder den Fernseher aufdrehen? Jeder oder doch fast jeder versteht und schätzt die Schönheit einer Beethovenschen Symphonie, fast jede oder doch sehr viele erkennen und schätzen die Schönheit einer Zeichnung von Botticelli oder eines Bildes von Rembrandt.

Aber gibt es in Deutschland noch genug Schauspieler oder überhaupt Menschen, die die Schönheit eines Gorkischen oder Goetheschen Gedichtes, die Schönheit und Macht eines Schillerschen oder Shakespeareschen Monologes zu Gehör bringen können? Nein, ich glaube dies nicht. Ganz wenige können dies heute noch!

Die Kunst des guten Sprechens geht in Deutschland deutlich zurück, vielleicht unter der Vorherrschaft des Films, bei dem von den Schauspielern keine gute, reine und schöne Sprech- und Vortragskunst mehr verlangt wird. Man nehme irgendeinen ARD-„Tatort“, irgendeine Folge etwa von „Alarm für Cobra 11“ (Serien, die ich ansonsten sehr schätze), irgendeine Klassikerinszenierung auf einer deutschen Bühne,  und man wird die Wahrheit dieser Aussage nicht bestreiten können.

Es zählen für die Schauspieler heute gutes Aussehen, physische Präsenz, Charisma im So-Sein und Da-Sein, überzeugende Verkörperung der Rolle im Auftreten – und auch mediale Prominenz – mehr als alles andere. Diese Kriterien bestimmen Marktwert und Bühnenerfolg der Schauspieler.

Das gute, wohlklingende, deutliche, schöne gesprochene Wort ist in Deutschland vom Aussterben bedroht, nach meinen leidvollen Erfahrungen auch im Fernsehen, auch im Kino, ja sogar auch im Theater!

Es fehlt an Sprecherziehung, es fehlt in Deutschland am Wissen um die Wichtigkeit der sorgfältigen, geschulten, bewegenden, der klingenden Rede. In den Grundschulen, ja überhaupt in den Schulen herrscht heute ein heilloses Durcheinander in der Aussprache des Deutschen, mit der Folge, dass sehr viele Schüler die Grundstufe der Schule oder sogar die Schule überhaupt ohne grundlegende Sprechkenntnisse verlassen. Das war früher eindeutig anders.

Mit bedeutender, mehrmonatiger  Verspätung – bedingt durch den Streik der Zusteller – erreichten mich gestern zwei weitere bestellte Exemplare eines Buches, aus dem ich gern immer wieder Anregungen schöpfe und das ich gern in mehr deutschen Lehrerzimmern und deutschen Probebühnen sähe:

Egon Aderhold / Edith Wolf: Sprecherzieherisches Übungsbuch. 16. Auflage, Henschel Verlag, Berlin 2013

Diesem Buch entnehme ich auf S. 105 mit Dankbarkeit folgendes Gedicht „Beherzigung“, das sich sehr gut zum Einüben eines guten Vortrages eignet:

Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.

Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.

 

 Posted by at 18:57
Aug 212015
 

Brauchen wir in der Europäischen Union eine straff und zentral von oben herab geführte, eine koordinierte Wirtschaft, wie der Lissaboner Vertrag ausdrücklich verlangt (§§119-144 AEUV)? Blickt man auf die amtlichen Zielvorgaben der EU-Kommission, der deutschen Bundesregierung oder etwa auch die berühmten 29 Seiten der vorerst letzten großen Einigung der Gläubiger mit Griechenland, so möchte man dies annehmen! Fast überall – von der Währungs- über die Energie- bis zur Gleichstellungspolitik – werden heutzutage Entwicklungsziele gesetzt, solidarische Hilfe wird mit strengen Auflagen verknüpft, es wird bis ins kleinste Detail hinein geplant und vorgeschrieben, was bis dann und dann zu geschehen hat.  Die gemeinsame Forderung Italiens und Frankreichs nach einer Wirtschaftsregierung, die mittels Planvorgaben, Investitionsprogrammen, über monetaristische Steuerung der Wirtschaft und über Vetorechte in die Souveränität der Einzelstaaten eingreift, ja letztlich sogar an die Stelle der staatlichen Souveränität tritt und somit auch den Euro als das erklärte summum bonum rettet,  ist das vorläufige Sahnehäubchen auf dieser immer stärker werdenden zentralistischen Wirtschaftspolitik.

Ausgesprochen unzeitgemäß muss es da klingen, was der EU-Ratspräsident Donald Tusk angesichts dieser heute vorherrschenden zentralistischen Sicht auf die Volkswirtschaften kürzlich im Interview mit der FAZ gesagt hat (17.08.2015): „Ich halte es lieber mit der ordoliberalen Schule in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Erhard, Eucken und Röpke. Ich halte es ganz mit Wilhelm Röpke: Europa braucht weniger Rousseau und Voltaire, sondern mehr Montesquieu.“

Verblüffend! Dass ein führender europäischer Politiker Ludwig Erhard, Walter Eucken und Wilhelm Röpke, diese Wegbereiter der ordoliberalen sozialen Marktwirtschaft kennt, beherzigt, namentlich nennt und sich hinter sie stellt, ja sogar noch von Ordoliberalismus spricht, berechtigt mich zu schönsten Hoffnungen. Von deutschen Spitzenpolitikern bin ich mir’s schon lange nicht mehr vermutend.

Weniger Thomas Hobbes, weniger Rousseau, mehr John Locke, mehr Montesquieu! Das heißt klare Gewaltentrennung, Einhaltung von Regeln statt zentraler Planvorgaben, Verständlichkeit statt unrealistischer Ideale, Vertrauen in die Vernunft und Einsichtigkeit jedes Menschen, Absage an den Begriff der volonté générale, dem alle sich absolut zu unterwerfen haben.

Wir sollten nie vergessen: Das ordoliberale Modell, in der Bundesrepublik Deutschland konsequent befolgt ab 1949 etwa bis zur Einführung des Euro 1999/2002, ist eines der erfolgreichsten wirtschaftspolitischen Modelle des 20. Jahrhunderts gewesen. Es ist sehr schade, dass der Ordoliberalismus in der Bundesrepublik Deutschland Zug um Zug abgebaut wird und fast schon in Vergessenheit gerät. Der Ordoliberalismus bietet sich auch heute noch gegenüber dem bevormundenden, planenden Zentralstaat (demokratisches Vorbild: Frankreich) und dem unbeschränkten Finanzliberalismus (demokratische Vorbilder: USA und UK) an. Der italienische Politologe Bolaffi nannte die wirtschaftspolitische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gar ausdrücklich für die Europäische Union „l’unico modello che abbia dato buona prova di sé“.

Ich meine: Der Pole Donald Tusk und der Italiener Angelo Bolaffi haben beide recht. Wir Deutschen sollten diesen Europäern darin folgen und unsere Ohren auch nicht weiterhin vor Montesquieu, Ludwig Erhard und John Locke verstopfen.

Quellen:
http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/eu-ratspraesident-donald-tusk-im-interview-ueber-griechenland-13706500-p2.html
Angelo Bolaffi: Cuore tedesco. Il modello Germania, l’Italia e la crisi europea. Donzelli Editore, Roma 2013, hier bsd. S. 41, S. 235-237, S. 253-254

 Posted by at 10:24

Misère de l’Europe sans Dieu. Michel Houellebecqs Unterwerfung

 Advent, Armut, Europäisches Lesebuch, Geld, Jesus Christus, Südtirol, Unverhoffte Begegnung, Wanderungen  Kommentare deaktiviert für Misère de l’Europe sans Dieu. Michel Houellebecqs Unterwerfung
Aug 202015
 

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Die am letzten Samstag erfahrene Begegnung mit dem stummen geheimnisvollen Leser von Houellebecqs Soumission in der Eisenbahn nach Jacobsthal  und dann die Busfahrt nach Müllrose ermunterten mich, dieses Buch selber in 2 Tagen durchzulesen. Um es gleich zu sagen: Ich halte es für ein großes, ein geniales, ein wichtiges, dunkel strahlendes Buch. Eine blühende Rose im Müll! Eine politische Satire, bei der man häufig laut auflachen muss, ein groteskes, allzuwahres Portrait einer Gesellschaft ohne Gott, eines Europa ohne Geist.

Misère de l’homme sans Dieu, misère de l’Europe sans l’Esprit!

In seinem Sog erlebte ich Neugier, Erwartung, Trauer, Schmerz. Im Zentrum steht die Suche eines nur in sich selbst verstrickten Menschen nach dem Du, die Verzweiflung eines im Ich gefangenen Menschen ohne Gott, der die Annäherung Gottes verzweifelt sucht und der den sich annähernden Gott dann ausschlägt. Er – und mit ihm die ganze Gesellschaft – unterwirft sich ersatzweise einer trügerischen Gewissheit in der Unterwerfung unter eine halbverstandene bequeme Religion, die ihm Macht, Wohlstand, Frauen, Reichtum und Ewigkeit verheißt.

Zentral für diese Deutung ist also nicht die Politik, sondern die Religion, genauer: das in der Mitte des Buches stehende Erlebnis  einer versuchten Begegnung mit Maria. Houellebecq schreibt: „La Vierge attendait dans l’ombre, calme et immarcescible. Elle possédait la suzeraineté, elle possédait la puissance, mais peu à peu je sentais que je perdai le contact…“ – „Die Jungfrau wartete im Schatten, ruhig und unverwüstlich. Sie strahlte eine gesammelte Hoheit aus, eine bannende Macht, aber nach und nach spürte ich, dass ich den Kontakt verlor.“

Der Betrachtende kommt in Rocamadour jedoch nicht aus seinem reichen kulturellen Wissen über das „Christentum“ heraus. Er weiß zu viel über das Christentum. Ständig schiebt sich das Christentum vor Jesus Christus. Das ganze europäische Christentum versperrt ihm die Begegnung mit dem nächsten Menschen und folglich auch mit Jesus. Er ist nicht bereit, sich auf Maria und Jesus einzulassen. Ihm schwirren beständig Nietzsche, Péguy, Huysmans, Huizinga, das „christliche Mittelalter“, sein gesamtes historisches und politisches Wissen und Herr weißt-du-denn nicht und Frau hast-du-nicht-gelesen durch den Kopf. Sein Kopf ist voll, sein Herz ist leer. Er WUSSTE ZUVIEL. Sein Wissen trennt ihn von sich selbst und von den anderen Menschen, insbesondere von seiner Freundin Myriam, die ihn verlässt und nach Israel übersiedelt. Myriam? Das wäre ja seine Maria für ihn gewesen. Maria ist ja in Myriam. Gespenstisch!

Beklemmend ist auch das völlige Fehlen von Kindern im gesamten Buch. Der unfertige Mensch, der kleine Mensch, das ungeborene Buberl, das sich in der Begegnung zwischen der Base Elisabeth und Maria durch ein Hüpfen bemerkbar macht – das KIND interessiert dieses ICH nicht. Selbst in Jesus vermag er nur den erwachsenen Mann zu sehen. Er sieht nicht das Kind.

Das ICH verweigert sich dem DU. Der Erwachsene verweigert sich dem Kind. Der Mann verweigert sich der Frau. Der Sohn verweigert sich dem Vater.  Der Vater verweigert sich dem Sohn und stirbt, ohne dass die beiden sich vor dem Tod je wiedergesehen hätten. Der Mensch verweigert sich dem Menschen. Darin sehe ich die Tragik in diesem von der ersten bis zur letzten Seite inspirierten, genialen, komischen, satirischen, zum Totlachen lustigen und lächerlich traurigen Buch.  Eine glasklare, messerscharfe Analyse unserer EU-Gesellschaften. Unbedingt empfehlenswert!

Aus der Verweigerung des Du entspringt sekundär der Impuls zur Unterwerfung unter ein fix und fertiges Lehrgebäude, wie es der Islam dem Frankreich des Jahres 2022 zu bieten scheint. Ist also alles zu spät? Ist der Zug auf der Müllhalde der europäischen Geschichte abgefahren?  Die Europäische Union scheint ja mittlerweile ihre Ersatzgewissheit nicht in der Unterwerfung unter den Islam, sondern in der Monetären Union, im verehrten Euro gefunden zu haben. Und was gibt es sonst noch?

Bei einer Wanderung in Südtirol bestieg ich vor wenigen Wochen von Vahrn im Eisacktal hochwandernd die Karspitze. Nach drei Viertel des Wegs machte ich Rast auf der Ziermait-Alm. Dort sah ich eine kleine Marienstatue. Kunstgeschichtlich sicherlich unbeachtlich. Sie steht in keinem Reiseführer. Und doch – wie schön!

La Vierge attendait dans l’ombre, calme et immarcescible. Elle attendait, et elle attend toujours.

Nachweis:
Michel Houellebecq: Soumission. Paris, Flammarion 2015, hier bsd. S. 164-170
Bild: Maria auf der Ziermait-Alm

 Posted by at 18:47

Quel delicato equilibrio… Ci vuole una Sachertorte per Nanni!

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Aug 192015
 

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Berlino, 19 agosto 2015. Oggi devo e voglio fare gli auguri ad un caro compagno del mio percorso spirituale: Nanni M., nato a Brunico alcuni anni fa proprio il 19 agosto. Lo ammiro per la sua delicatezza con cui ha trattato una larghissima gamma di tematiche, a partire dal Mont Blanc (che si regge su un equilibrio delicato), per – il meno delicato – sport della pallanuoto, fino alla domanda: „Chi è il miglior regista tedesco“ (che agli occhi miei è sempre Werner Herzog), … e tante altre cose su cui si regge il mondo. Sei il migliore, Nanni! Mi hai insegnato a vedere la bellezza e la fragilità dell’essere al mondo.

 

 

 Posted by at 19:29

Im Club der lebenden Geiger

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Aug 192015
 

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Mitten im Zimmer ein Notenständer, davor ein Stuhl, auf dem seine Geige lag. Er räumte sie in seinen Kasten, um Platz zu schaffen; es gab keinen zweiten Stuhl im Raum, nur noch ein Sofa. Einmal hatte ich Kwart zu meinem Vater sagen hören, es bedeute für ihn ein Unglück, daß ausgerechnet Heifetz und Oistrach Juden seien: jeder erwarte auch von ihm Großes, doch sei er leider nur ein mittelmäßiger Geiger.

Dieser Abschnitt aus dem Buch „Bronsteins Kinder“, den ich im Kreuzberger Prinzenbad gelesen hatte, brachte mich gestern zum Nachgrübeln.  Ich hatte doch selber gestern im Kreis einiger Freunde die Romanze F-dur von Beethoven vorgetragen, ohne Orchester, ohne Klavier, einige Stimmen der Begleitung dazubrummend, so gut ich eben konnte, und sogar besser als je zuvor.

Was hätte ich Gordon Kwart, dem – wie er sich nennt – „mittelmäßigen Geiger“ erwidern können?

Soeben, beim Heimweg auf sommerlicher Straße, kam mir die Antwort.

Ich hätte folgendes zu Gordon Kwart gesagt:

„Gordon Kwart! Wo ist Jascha Heifetz? Ich sehe hier keinen Heifetz! Vergiß Heifetz!  Ich sehe und höre hier keinen Oistrach. Vergiß Oistrach! Ich sehe dich. Ich will dich hören!  Ich bin überzeugt: Keiner kann hier so gut Geige spielen wie du! Du lebst und du bist der Einzige hier in diesem Zimmer, der so gut Geige spielt! SPIEL! Spielsch mir as Stickl, von dem du glaubst, dass nur du es so gut spielen kannst.“

Das ist auch schon meine Erwiderung auf den Starkult und den Hochleistungsbetrieb der heutigen Geigerszene. Ja, es ist gut, dass es Geiger gab und gibt, die Vorbildliches leisten, denen wir hingerissen zuhören, die wir bewundern. Aber wichtiger noch als die Bewunderung für Abwesende, für die toten Geiger ist das Vertrauen in die lebenden Geiger, in diejenigen, die diese einmalige Chance haben, hier und heute zu spielen, zu singen, zu atmen!

Nur diese Erwartung, dieses Vertrauen in den nächsten Geiger, dieser Glaube an den lebenden Geiger, an das Leben im Geiger, wird eine freudige Erwartung befördern, dass etwa Gutes, etwas Schönes hervorkommt.

Für mich selbst bedeutet dies: Jeder Ton, jeder einzelne Ton, den ich auf der Geige produziere, kann oder soll als etwas Einzigartiges dastehen können. Ich versuche ihn so zu spielen, so zu formen, dass er mir gefällt, und folglich vielleicht auch anderen. Er soll glaubwürdig sein, sodass die Menschen ihm gerne zuhören.  Die Frage, ob man dann ein erstklassiger, ein mittelmäßiger oder ein schlechter Geiger ist, wird dann unerheblich oder doch zweitrangig. Entscheidend ist das Vertrauen, ist der Wille, Geige so gut zu spielen, wie es eben geht.

Mit diesen Gedanken betrat ich den Hauseingang. Ich grüßte die Bauarbeiter, die wie schon seit Monaten auch heute wieder auf Asphalt, Pflaster und Weg hämmern, klopfen, werkeln und wuchten.

„Entschuldigung, was für ein Instrument hast du da auf deinem Rücken?“, fragte mich einer.

„Das ist eine Geige!“, erwiderte ich stolz. „Eine Geige … toll … wie David Gatter … oder wie heißt der doch gleich?“, fragte der Bauarbeiter zurück.

„Ja, wie David Garrett eine hat!“, erwiderte ich stolz, froh und selbstbewusst.  „Ihr werdet mich gleich hören, hier auf der Straße!“ „Gut!“, sagten die Straßenarbeiter lachend.

Mitten im Zimmer stellte ich einen Notenständer auf. Ich brauchte keinen Stuhl. Ich packte die Geige aus dem Kasten. Und dann spielte ich in meinem Zimmer, 10 Minuten lang. Romanze F-dur. Hörten sie mir zu, die Bauarbeiter? Ich weiß es nicht. Es konnte sein, es konnte nicht sein. Und es war gut. Es war ein Glück.

Zitat:
Jurek Becker. Bronsteins Kinder. Roman. Reclam Verlag, Leipzig  1990, S. 98

Bild:
Blick auf den Krüpelsee, Zernsdorf, Landkreis Dahme-Spreewald. Auf den Spuren der Vergangenheit. Aufnahme vom 08.08.2015. Nicht weit davon könnte sich das Wochenendhäuschen befinden, in dem der Vater von Hans im Roman „Bronsteins Kinder“ seinen Gefangenen eingesperrt hatte…

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Extra euro nulla salus? Gehören die Schweiz, die Ukraine, Großbritannien, Polen und Norwegen zu Europa?

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Aug 192015
 

„Griechenland gehört zum Euro, weil Griechenland zu Europa gehört.“

Sven Christian Kindler, Bundestagsabgeordneter, hat es soeben wieder einmal in der gerade laufenden Bundestagsdebatte unter großem Beifall des Hohen Hauses gesagt.

Warum sollen wir das glauben?

Europa hat 47 Staaten. Davon gehören 19, also etwa ein gutes Drittel, weniger als die Hälfte aller europäischen Staaten, der Eurozone an.  Woher nehmen die Eurozonenländer das Recht, alle Länder, die nicht der Eurozone angehören oder den Euro nicht wollen, wie etwa Polen, die Slowakei, die Schweiz, Schweden, die Ukraine, Großbritannien, Norwegen,  die Tschechische Republik als nicht zu Europa gehörend zu bezeichnen?

Sind die Polen, die Ukrainer, die Tschechen, die Schweizer und Norweger etwa keine richtigen oder minderwertige Europäer, weil sie den Euro nicht haben?

Die Eurozone, ein Verbund von 19 Staaten beansprucht auf mittlerweile unerträgliche Art die Deutungshoheit darüber, was Europa ist und was nicht.

Extra euro nulla salus? Gibt es kein Heil außerhalb des Euros?  Euro, Euro über alles? Extra monetam unicam nulla Europa? Soll wirklich der Euro das alleinige Kriterium der Zugehörigkeit zu Europa sein?

 

 

 

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Was blüht uns nach dem Griechenlandpaket III ?

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Aug 182015
 

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Mit größter Eilbedürftigkeit wird der Bundestag morgen aus dem Urlaub zusammengerufen; Rettungspaket Nr. III für Griechenland soll durchgewunken werden. Was verschlägt’s dabei, dass Johannes Singhammer, der Bundestagsvizepräsident, verlangt, dass stets alle EU-Dokumente vor der Abstimmung im Bundestag ins Deutsche übersetzt werden sollen! Johannes Singhammer will offenbar, dass alle Abgeordneten  verstehen, wofür oder wogegen sie stimmen. Ist das ein so unrealistisches Wunschdenken?

Must they understand what they are asked for? Must they realize what they take a vote on? Das ist die Frage! Tja… Ich meine, höchstes Misstrauen ist sicherlich immer dann angebracht, wenn immer wieder besondere „Eilbedürftigkeit“ und besondere „Dringlichkeit“ verkündet wird, wenn keine Zeit für das Verstehen der komplexen, selbst für Muttersprachler kaum verständlichen Dokumente eingeräumt wird, wenn querstehende Kühe im Stall mit der Pike zurechtgerückt werden, um eben mal wieder die Heilige Europäische Währungsunion zu retten.

Erstaunlich querstehend, wenngleich derzeit außerhalb des Stalls weidend: Christian Lindner, der dynamisch-flexible Bundesvorsitzende der FDP: „Ehrlich wäre ein Schuldenschnitt außerhalb des Euro„, sagt er im Tagesspiegel, 16. August 2015, S. 3.

Was blüht uns sonst noch, nach dem Griechenlandrettungspaket Nummer III? Ich meine: Dieses Paket ist als eine Art Generalprobe für weitere Rettungspaketsondereinsätze  anzusehen. Nach und nach spielt sich so eine Rettungsroutine ein, Griechenland mit seinen unerheblichen 2% Anteil am BIP der Eurozone ist eine Art Testlauf für kommende Schwergewichte. Welche anderen Länder stehen auf der Liste?

Was blüht uns sonst noch? Die Prinzessin Leonore von Este, Schwester des Herzogs Alfonso II. von Ferrara, sagt bei Goethe zu Torquato Tasso sinngemäß ungefähr folgendes:

Willst du genau erfahren, was uns blüht,
So frage nur bei klugen Frauen an.
Denn ihnen ist am Meisten dran gelegen,
Daß alles, was uns blüht, bedacht sei.

Richten wir die Frage also an die kluge, moderne europäische Frau von heute, die donna moderna europea, wie der Italiener sagt!

„Dopo la Grecia altri paesi rischiano di fallire?“, fragt ganz unverblümt  die italienische DONNA MODERNA am 28. Juli 2015. „Riskieren nach Griechenland auch andere Länder  den Staatsbankrott?“ Antwort: Ja! An erster Stelle nennt die „Moderne Frau“ Italien, dann der Reihe nach Portugal, Irland, Zypern, Belgien und Spanien. Allerdings nimmt die Donna moderna Belgien und Irland von dem Krisenszenario aus; die Donna moderna meint, Irland und Belgien seien nicht mehr von der Zahlungsunfähigkeit bedroht.

Bleiben derzeit also Italien, Portugal, Zypern und Spanien als mögliche Kandidaten für weitere Rettungspakete. Sie sind nach Einschätzung der DONNA MODERNA weiterhin gefährdet.

Fazit: Griechenlands Rettungspaket III, an dessen Abnicken durch die Parlamente keine Zweifel bestehen, könnte der Auftakt für eine ganze Serie weiterer Rettungspakete werden, in deren Genuss dann neben – erneut – Griechenland auch weitere Länder kommen dürften, an erster Stelle Italien. Nach und nach wird die Rettung zum zeremoniellen Ritus. Es spielt sich ein außervertraglicher Mechanismus ein, auf den sich dann selbstverständlich alle Länder der Eurozone, große wie kleine, berufen dürfen. Warum sollte man Ländern wie Italien, Deutschland, Spanien oder Frankreich das verweigern, was man Griechenland und anderen Ländern bereits mehrfach zugebilligt hat?

Quellenangaben:

Ehrlich wäre ein Schuldenschnitt außerhalb des Euro„. Interview mit FDP-Chef Christian Lindner. In: Der Tagesspiegel. Rerum cognescere causas. 16. August 2015, S. 3

Adriano Lovera: „Dopo la Grecia altri paesi rischiano di fallire?“ In: Donna moderna. Il settimanale che ti facilita la vita. Anno XXVIII, Nr. 31, 28 luglio 2015, S. 46-47

J. W. Goethe: Torquato Tasso. Ein Schauspiel. 2. Aufzug, 1. Auftritt

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Un monde plus vaste: Großseggenried, Schlaubetal

 Aus unserem Leben, Eigene Gedichte, Unverhoffte Begegnung, Wanderungen  Kommentare deaktiviert für Un monde plus vaste: Großseggenried, Schlaubetal
Aug 172015
 

Großseggenried20150815_100554

 

 

 

 

 

Ostkreuz, bloß Umsteigen und weg, irgendwie sehr … ostig.
Kräne ragen, Bagger rasten,
Baustelle halt. Was erwartest du?

Erkner, heute Abfahrt Jacobsthal
auf Gleis 1 statt auf Gleis 2.
Ja, warum sagt das denn keiner!

Weisheit des Schwarms
einfach so in den Wind geschlagen –
dann laufts halt den andern nach!
Hach so ein Schreck! Herzpochen,
Schweißausbruch, wegen so was!

Belohnung lasest du beim Nachbarn im RE 1 mit:
un couple est un monde autonome,
un monde autonome et clos
qui se déplace au milieu d’un monde plus vaste (S. 132)
(Geflüstert): „Kuck doch mal: Soumission, Houellebecq,
Der ist schon weiter als ich!“ Scham wegen Lesefaulheit? I wo!

Im Talgrund der Schlaube,
die letzte Aufwallung des Sommers, erwandert.
Erlenbruchwälder: wohlige Verschattung
am Beginn der Wanderung.

Hier schau: Weidegebüsch durchsetzt den Talgrund!
Da graste noch vor vierzig Jahren das Viehzeug.

Viehzeug fehlt heut! Unweigerlich dann die Durchnässung!
Aufschossen die Seggen dann!
Die Steifsegge, die Sumpfsegge, die Ufersegge, die Rispensegge,
mit einem Wort: ein richtiges Großseggenried!
Breitblättrig hingestreut wuchert’s hervor, das Knabenkraut,
da, da und da, verkrautete Wege!

Ja, schau nur hin:
5,3 Kilometer zur Ragower Mühle;
aber waren es nicht vor 500 Metern
5,4 Kilometer?

Logische Folge: Verunsicherung, aufkommender Durst.
Lichtere Wälder. Kiefernforst, klar: Hitzespeicher!
Erdursten, wieder das Herzpochen,
oder schon Vorhofflimmern?
Schritt um Schritt hin
zum Baumlabyrinth für Rollstuhlfahrer.

 

Foto:
Großseggenried im Schlaubetalgrund, Aufnahme vom 15.08.2015
Zitat:
Michel Houellebecq: Soumission. Flammarion, Paris 2015, S. 132

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„Powers divided mutually destroy each other“ – Hobbes‘ Urteil über die Gewaltentrennung

 Erosion des Staates, Geld, Gouvernance économique, Leviathan, Philosophie, Rechtsordnung, Staatlichkeit, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für „Powers divided mutually destroy each other“ – Hobbes‘ Urteil über die Gewaltentrennung
Aug 162015
 

Wir sind für Machtverteilung.“  So Konrad Adenauer vor der Interparlamentarischen Union 1949 in Bern. Er legte damit ein klares Bekenntnis gegen die Machtballung, die zentralistische Machthäufung und Machtkonzentration ab, wie sie die zahlreichen zentralistischen Führerstaaten Europas, darunter Deutsches Reich (1933-1945), Königreich Italien (1921-1943) und Sowjetunion  (ab 1919) kennzeichnete.

Weitgehende Machtballung, Machtkonzentration und Einheitlichkeit in der Machtausübung seien hier als Merkmale des monistischen Politikverständnisses angesehen.

Als wesentliches Merkmal der Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland muss dagegen in der Tat eine weitgehende Machtverteilung, Machtstreuung und Gewaltenteilung gelten.

Von besonderem Interesse ist heute, dass die Währung des Staates (also die D-Mark) streng unabhängig von der Politik gehalten wurde. Die Bundesbank war bis zur Errichtung der EZB weisungsunabhängig; die Währung bzw. die sie steuernde Zentralbank  war in der alten Bundesrepublik Deutschland kein Teil des politischen Systems, wie sie es hingegen seit jeher in Frankreich, Italien oder den USA ist.

Als Beleg für die These, dass die Währung kein Teil und kein Gegenstand  der Politik war, mag gelten, dass es durchaus brauchbare Darstellungen des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland gibt, die der Währung bzw. der Zentralbank keinerlei Aufmerksamkeit widmen, so etwa das Buch „Das politische System Deutschlands“ von Stefan Marschall, erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015.

Allerdings wurde genau deswegen die DM nie in Frage gestellt; sie stand abseits des Parteienstreits; alle Parteien, alle Bürger wollten die DM nach wenigen Jahren des Zweifelns; nicht zuletzt deshalb war die DM und die soziale Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik bis 1996 so erfolgreich. Umgekehrt war und ist der Euro vor, während und nach seiner Einführung in dem meisten EU-Ländern umstritten gewesen, heute sogar mehr denn früher. Er ist in schroffem Gegensatz zur früheren DM durch und durch politisiert.

So ist denn der EZB der Eurozone mittlerweile eine ungeheuerliche Machtfülle zugewachsen; ihre geldpolitischen Maßnahmen können der Eurozone den Garaus machen oder auch neues Leben einhauchen! Diese überragende Machtfülle der EZB manifestiert sich im offensiv eingeforderten Glaubenskenntnis des EZB-Chefs Mario Draghi: „Believe me … believe me … it will be enough.“ Der geforderte Glaube richtet sich bezeichnenderweise nicht auf das politische System des Euro, sondern auf eine und nur eine Person – den redenden EZB-Direktor selbst. Das ist politischer Monismus in Reinstform!

Zurück zur Bundesrepublik! Vertikal haben wir die Machtverteilung und Machtstreuung im dreistufigen Aufbau der Gebietskörperschaften nach Gemeinden, Bundesländern und der Bundesrepublik, horizontal haben wir die Machtverteilung in der systematischen Trennung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt, wobei im parlamentarischen System eine gewisse Überlappung zwischen Legislative und Exekutive unvermeidlich ist. Legislative und oder Exekutive sehen sich jedoch stets einer unabhängig agierenden „anderen Gewalt“ gegenüber, der Gerichtsbarkeit, die sehr oft mit größter Selbstverständlichkeit gegen die Regierung entscheidet.

Insofern kann man durchaus von einem Dualismus sprechen, der das gesamte Staatsdenken und die politische Praxis der Bundesrepublik Deutschland durchzieht. Nie kann EINER oder EINE allein ihren Willen durchsetzen, stets muss die mächtigste Figur im Spiel – also etwa der Bundeskanzler – gewärtig sein, irgendwo ausgebremst zu werden. Ein echtes „Durchregieren“ der Mehrheit kann es in der Bundesrepublik nicht geben.

Die Bundesrepublik Deutschland ist also geprägt durch einen vielfältigen Dualismus oder auch Pluralismus an Entscheidungsträgern und Machtinstanzen. Sie ist das glatte Gegenteil eines monistisch aufgebauten Staates, wie ihn beispielsweise Thomas Hobbes forderte.

Typisch für das eindeutig monistische EU-Recht ist hingegen der größtmögliche Konzentrationsgrad an Entscheidungskompetenzen bei der Zentrale.  Dies gilt insbesondere für die Kommission als zentrale Macht- und Gesetzgebungsbehörde der EU. Sie ist ganz nach dem jahrhundertealten Muster der französischen Zentralverwaltung aufgebaut. Ein Blick auf Art. 17 des EU-Vertrages lehrt dies auf frappante Art.

Der Kommission stehen demnach unter anderem zu:
Rechtsetzung einschließlich des Initiativrechtes, Beteiligung an sämtlichen Rechtsetzungsakten der EU; Erlass von zwingenden Durchsetzungsbestimmungen; Erlass von zwingend einzuhaltenden Richtlinien; Entscheidungen im Verwaltungsvollzug; Kontrollaufgaben (Vertragsverletzungsverfahren; Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen; Genehmigung bzw. Nichtgenehmigung der Abweichungen von unionsrechtlichen Regeln).

Als ewig strahlender Vordenker eines monistischen Staatsverständnisses muss Thomas Hobbes gelten; Machtverteilung, Gewaltentrennung, ein System an „Checks and Balances“, wie es das westliche Demokratiemodell und insbesondere die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland auszeichnet, war ihm ein Symptom der Krankheit und des Zerfalls, ein Greuel, der letztlich zu Liederlichkeit, Staatsauflösung und verheerendem Bürgerkrieg geführt habe. Hobbes geißelt die Lehre von Gewaltentrennung sogar ganz ausdrücklich, nennt sie eine wahnhafte Ausgeburt der Gehirne  von Politlaien, von Juristen, die keine Ahnung von echter Machtausübung hätten. Es lohnt sich, seine Begründung im Original nachzulesen. Wir finden sie im Kapitel 29 des 2. Buches seines Leviathan von 1651:

There is a sixth doctrine, plainly and directly against the essence of a Commonwealth, and it is this: that the sovereign power may be divided. For what is it to divide the power of a Commonwealth, but to dissolve it; for powers divided mutually destroy each other. And for these doctrines men are chiefly beholding to some of those that, making profession of the laws, endeavour to make them depend upon their own learning, and not upon the legislative power.

 Posted by at 17:21