Aug 192015
 

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Mitten im Zimmer ein Notenständer, davor ein Stuhl, auf dem seine Geige lag. Er räumte sie in seinen Kasten, um Platz zu schaffen; es gab keinen zweiten Stuhl im Raum, nur noch ein Sofa. Einmal hatte ich Kwart zu meinem Vater sagen hören, es bedeute für ihn ein Unglück, daß ausgerechnet Heifetz und Oistrach Juden seien: jeder erwarte auch von ihm Großes, doch sei er leider nur ein mittelmäßiger Geiger.

Dieser Abschnitt aus dem Buch „Bronsteins Kinder“, den ich im Kreuzberger Prinzenbad gelesen hatte, brachte mich gestern zum Nachgrübeln.  Ich hatte doch selber gestern im Kreis einiger Freunde die Romanze F-dur von Beethoven vorgetragen, ohne Orchester, ohne Klavier, einige Stimmen der Begleitung dazubrummend, so gut ich eben konnte, und sogar besser als je zuvor.

Was hätte ich Gordon Kwart, dem – wie er sich nennt – „mittelmäßigen Geiger“ erwidern können?

Soeben, beim Heimweg auf sommerlicher Straße, kam mir die Antwort.

Ich hätte folgendes zu Gordon Kwart gesagt:

„Gordon Kwart! Wo ist Jascha Heifetz? Ich sehe hier keinen Heifetz! Vergiß Heifetz!  Ich sehe und höre hier keinen Oistrach. Vergiß Oistrach! Ich sehe dich. Ich will dich hören!  Ich bin überzeugt: Keiner kann hier so gut Geige spielen wie du! Du lebst und du bist der Einzige hier in diesem Zimmer, der so gut Geige spielt! SPIEL! Spielsch mir as Stickl, von dem du glaubst, dass nur du es so gut spielen kannst.“

Das ist auch schon meine Erwiderung auf den Starkult und den Hochleistungsbetrieb der heutigen Geigerszene. Ja, es ist gut, dass es Geiger gab und gibt, die Vorbildliches leisten, denen wir hingerissen zuhören, die wir bewundern. Aber wichtiger noch als die Bewunderung für Abwesende, für die toten Geiger ist das Vertrauen in die lebenden Geiger, in diejenigen, die diese einmalige Chance haben, hier und heute zu spielen, zu singen, zu atmen!

Nur diese Erwartung, dieses Vertrauen in den nächsten Geiger, dieser Glaube an den lebenden Geiger, an das Leben im Geiger, wird eine freudige Erwartung befördern, dass etwa Gutes, etwas Schönes hervorkommt.

Für mich selbst bedeutet dies: Jeder Ton, jeder einzelne Ton, den ich auf der Geige produziere, kann oder soll als etwas Einzigartiges dastehen können. Ich versuche ihn so zu spielen, so zu formen, dass er mir gefällt, und folglich vielleicht auch anderen. Er soll glaubwürdig sein, sodass die Menschen ihm gerne zuhören.  Die Frage, ob man dann ein erstklassiger, ein mittelmäßiger oder ein schlechter Geiger ist, wird dann unerheblich oder doch zweitrangig. Entscheidend ist das Vertrauen, ist der Wille, Geige so gut zu spielen, wie es eben geht.

Mit diesen Gedanken betrat ich den Hauseingang. Ich grüßte die Bauarbeiter, die wie schon seit Monaten auch heute wieder auf Asphalt, Pflaster und Weg hämmern, klopfen, werkeln und wuchten.

„Entschuldigung, was für ein Instrument hast du da auf deinem Rücken?“, fragte mich einer.

„Das ist eine Geige!“, erwiderte ich stolz. „Eine Geige … toll … wie David Gatter … oder wie heißt der doch gleich?“, fragte der Bauarbeiter zurück.

„Ja, wie David Garrett eine hat!“, erwiderte ich stolz, froh und selbstbewusst.  „Ihr werdet mich gleich hören, hier auf der Straße!“ „Gut!“, sagten die Straßenarbeiter lachend.

Mitten im Zimmer stellte ich einen Notenständer auf. Ich brauchte keinen Stuhl. Ich packte die Geige aus dem Kasten. Und dann spielte ich in meinem Zimmer, 10 Minuten lang. Romanze F-dur. Hörten sie mir zu, die Bauarbeiter? Ich weiß es nicht. Es konnte sein, es konnte nicht sein. Und es war gut. Es war ein Glück.

Zitat:
Jurek Becker. Bronsteins Kinder. Roman. Reclam Verlag, Leipzig  1990, S. 98

Bild:
Blick auf den Krüpelsee, Zernsdorf, Landkreis Dahme-Spreewald. Auf den Spuren der Vergangenheit. Aufnahme vom 08.08.2015. Nicht weit davon könnte sich das Wochenendhäuschen befinden, in dem der Vater von Hans im Roman „Bronsteins Kinder“ seinen Gefangenen eingesperrt hatte…

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