Zurück in Berlin. Ernüchterung

 Schulhofradler  Kommentare deaktiviert für Zurück in Berlin. Ernüchterung
Aug 302018
 

Heute findet der Sommer meiner vielen Wanderungen, der mich in bunter Folge nach Franken, Bayrisch-Schwaben, Südtirol, Georgien führte, sein vorläufiges Ende. Der Sommer war sehr groß! Auf BBC World sah ich, noch in Brüssel weilend,  in der Hauptnachrichtensendung dieses weltweit gesehenen, hochgeachteten Senders einen erschütternden Bericht über Deutschland und seine Sachsen.  Angst und bange kann einem werden, wenn man mit den Augen der internationalen Presse und der BBC auf Deutschland und seine Sachsen blickt!

Die Stadt des gewöhnlichen Aufenthalts, wie empfängt sie mich? Gastlich wie eh und je. Und doch hat sich etwas verändert! Was? Als ich meinen gewöhnlichen Weg durch den Schöneberger Schulhof nehme, in dem immer so viele Radfahrer den Weg der durcheinanderwuselnden Kinder überrollen, entdecke ich deutlich eine Kette und ein weiteres Verbotsschild. Das Fahrradfahren, das bisher schon verboten war – ein Verbot, an das sich sehr zu meinem Bedauern nur eine Minderheit der Radfahrer hielt -,  wird nunmehr noch einmal verboten. Radfahrer sind nunmehr von Montag bis Freitag von 6:00 bis 16:30 Uhr ausgesperrt.

Zwei Polizisten überwachten heute Vormittag die Einhaltung dieses Verbots.

Ich empfinde dieses doppelte Verbot des Fahrradfahrens auf einem Schulhof – oder vielmehr die Tatsache, das die meisten erwachsenen Radfahrer sich trotz vieler Ermahnungen durch Schüler und Lehrer nicht an das Fahrverbot auf dieser Spiel- und Erholungsfläche der Kinder halten – als Gradmesser für das starke Nachlassen bürgerschaftlichen Gemeinsinnes in Berlin. Im Vergleich zu anderen von mir kürzlich besuchten Städten – Moskau, Brixen, Ansbach, Tbilisi, Augsburg seien hier beispielhaft genannt – herrscht in Berlin ein höheres Maß an Vernachlässigung des Umfeldes, an kleinen und großen Regelverletzungen, an Rücksichtslosigkeit gegenüber den Rechten der Kinder und der Schwachen, an Vermüllung und Verlotterung des städtischen Umfeldes. Dies ist nicht – oder höchstens mittelbar – durch die Berliner Politik verursacht, sondern durch die Menschen, die hier leben. Auf die Menschen kommt es an.  Käme es an!

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Rede zum Goethes Tag.

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Aug 292018
 

Brussel, 28 augustus 2018

Goethe, mijn lieve Goethe, het is ons een waar genoegen u in de hoofdstaad van Europa to mogen verwelkomen, und ich erlaube mir, ohne Umstände ins Du und in dein geliebtes Deutsch überzuwechseln. Ich feiere dich heut an deinem Geburtstag mit besonderer Freude hier auf dem Grooten Markt, den ich vor Jahr und Tag zuerst durch die große Eingangsszene aus deinem Egmont kennenlernte. Sie spielt genau hier, auf der Gran Place, wo wir uns, deiner dankbar denkend, versammelt haben.

Beethovens Egmont-Ouvertüre – wir danken dem Concertgebouw Orkest für seinen unentgeltlich geleisteten musikalischen Beitrag! – ist soeben verklungen, ihr beide, du und Beethoven, erblicktet im unbedingten Freiheitswillen der Niederländer, den Egmont so widerwillig-freiwillig und doch wirksam in Fleisch und Blut verkörpert,  ein Vorbild für Freiheitswillen, Gemeinsinn und Tüchtigkeit auch in deutschen Landen! Möchte doch der Gedanke der Freiheit, des Bürgersinns, der Tüchtigkeit auch im heutigen Europa wieder erwachen. Ich sage dies gerne, gerade hier in der Hoofstadt van Europa.

Ich weiß noch, wie ich dich kennenlernte als Bub aus deinen  Gedichten, wie sehr ich mir wünschte dein Freund zu werden, wie ängstlich ich versuchte, dich einmal anzusprechen. Noch verstand ich dich nur halb, aber das wußt ich doch schon, daß du mich ein Leben lang würdest begleiten sollen, und bis jetzt bist du nicht gewichen von meiner Seite, aus meinem Innern. Und dafür dank ich dir.

Hören wir doch nach Beethovens Musik auch einmal in deine Musik hinein, in deine Musik aus Worten! Tönen! Gesten! Lassen wir doch unseren geachteten acteur  *** die erste Fassung des 1775 verfassten, deines seither vielfach abgedruckten Gedichtes „Im Herbst 1775“ vortragen:

Fetter grüne du Laub
Am Rebengeländer
Hier mein Fenster herauf
Gedrängter quillet
Zwillingsbeeren, und reifet
Schneller und glänzend voller
Euch brütet der Mutter Sonne
Scheideblick, euch umsäuselt
Des holden Himmels
Fruchtende Fülle.
Euch kühlet des Monds
Freundlicher Zauberhauch
Und euch betauen, Ach!
Aus diesen Augen
Der ewig belebenden Liebe
Vollschwellende Tränen.

O das ist schön! Das ergreift uns – auch wenn wir es nicht in jedem Sinne begreifen. Und müssen wir es in jedem Sinne begreifen? Nein! Wir müssen weder deinen Egmont noch Beethovens Egmont-Ouvertüre noch auch das fette grüne, dein Fenster heraufquellende Laub in jedem Sinne begreifen.

Wir hören zu! Wir greifen zu! Wir denken nicht daran, was das uns sagen will. Wir denken dein!  Mijn lieve Goethe, wir danken dir!

Zitiert nach:
Im Herbst 1775. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 174-175

Vgl. auch Goethes Rede „Zum Shäkespears Tag.“ vom 14. Oktober 1771:
https://de.wikisource.org/wiki/Zum_Schäkespears_Tag

 

 

 

 

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Weinlaub, üppig, an alter Holzveranda

 Georgien  Kommentare deaktiviert für Weinlaub, üppig, an alter Holzveranda
Aug 252018
 

 

 

 

 

 

 

Fetter grüne du Wein
Hier das Laubengeländer hinauf!
Dich besonnen georgischer Tage
Wärmende Strahlen,
Dir erklingen endlos gewundne Gespräche
Der Männer und Frauen auf ihren hölzernen Schemeln,
Die drinnen im Hof über Stunden zusammensitzen!
Du hörst die Gesänge der Mädchen,
Die morgens zur Arbeit gehen,
Über dich gehen nieder die Regengüsse,
Die uns aufweckten, nachts, unterm Zucken der Blitze,
Als wir kurz aufschraken und uns fragten:
Sind wir wirklich in Tiflis,
Oder ist es ein Traum?

Bild: alter Balkon, gesehen beim Heraustreten aus unserer Herberge, Tbilisi,  Orbeliani kutscha, am 18. August 2018

 

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Vor einer alten Tür in Sololaki

 Georgien  Kommentare deaktiviert für Vor einer alten Tür in Sololaki
Aug 202018
 

Tbilisi, am 18. August 2018
Hier an dieser alten Holztür im Viertel Sololaki halte ich inne. Was war geschehen? Die hochsommerlich heiße Stadt hatte mich, den Fremdling aus sandigem Steppenland, mit einem Mosaik an Farben, Tönen, an Luftschällen und Stimmen empfangen. Das Mosaik wird durchglüht durch die geheime Vorstellung, dass alles irgendwie zusammengehört. Tiflis leuchtet, und zwar von innen heraus! Georgisch ist der Grundton, das Webmuster dieses Klangteppichs, eine farbenprächtige, lautstarke Sprache, die mir auf Anhieb vollkommen rätselhaft und unverständlich ist. Bekanntlich (aber warum bekanntlich?) ist das Georgische eine der kartwelischen Sprachen, die wiederum zusammen mit dem Abchasisch-Adygeischen und dem Dagestanischen  die drei großen Sprachfamilien bilden, die im Kaukasus, der schon im Altertum als „Berg der Sprachen“ bezeichnet wurde, beheimatet sind.

Unter den Touristen höre ich viel Russisch, Arabisch, Englisch, Persisch heraus. Georgische Witwen gehen lebenslang in schwarz gekleidet durch die Straßen. Arabische Männer in Jeans, Turnschuhen und T-Shirt führen ihre ebenfalls ganzkörperlich schwarz verhüllten Schwestern und Ehefrauen durch die Gassen. Solch ein buntes Gewimmel an Menschen, Gesichtern, Kleidern habe ich noch in keiner Stadt gesehen. Und das alles – wird heute Nacht gehalten durch die Freude, hier in Tiflis zu sein. Kein Funken Unduldsamkeit ist zu spüren, keine Aggression, keine Intoleranz. Ein Band der Sympathie, das diese orientalisch-bezaubernde Stadt um uns alle schlingt!

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich vor der alten Holztür in Sololaki verweile. Es ist nur ein Augenblick, den ich so innehalte, ein Augenblick des Glücks.

Was aber, wenn diese Tür sich plötzlich öffnete? Wäre ich dann für die Heraustretenden ebenfalls ein Teil von Tbilisi, ein Teil des Draußen, der unbekannten Menge? Wäre ich ein Fremder – oder ein Dazugehörender?

Hinweis:
In diese Gedanken über Tbilisi und Georgien  fließen Hinweise und Erkenntnisse insbesondere aus folgendem höchst nützlichen Band ein:
Marlies Kriegenherdt: Georgien.  Handbuch für individuelles Entdecken. 5., neu bearbeitete und komplett aktualisierte Auflage. Reise Know-How Verlag Peter Rump, Bielefeld 2017

 

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Im Vogel mit starken Schwingen fort nach Georgien

 Eigene Gedichte, Georgien  Kommentare deaktiviert für Im Vogel mit starken Schwingen fort nach Georgien
Aug 192018
 

Schwarzes Meer, lächelndes Ungeheuer, wie lieblich und bläulich kräuselst du dich unter den starken Flügeln meiner Embraer 190! Wie harmlos wirken die Gischtkronen aus 12000 Fuß Höhe, wie sauber gezeichnet sind deine Kringel auf unergründlicher Tiefe! Wie geborgen zieht das winzige Schifflein dort drunten stampfend seine Bahn! Wie gastlich empfängst den Fremdling du, wohlwollendes Binnenmeer, so nannten dich schon die Alten! Zielort Tbilisi, Tiflis nennt dich Germaniens Volk auch,  – ein Städtename, der viele Geschichten birgt, vieler Menschen Städte und Sinn erkanntest du! Wie freundlich wirst du den Mann aus Berlin-Brandenburgs sandigem Steppenland empfangen?

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Und durch’s Auge schleicht die Kühle sänftigend in’s Herz hinein

 Fanny Hensel, Goethe, Musik, Südtirol  Kommentare deaktiviert für Und durch’s Auge schleicht die Kühle sänftigend in’s Herz hinein
Aug 152018
 

Heiß ist es dieser Tage in ganz Europa gewesen, heiß war es auch in Villnöß, in Ridnaun, in Gröden, in all diesen Tälern  im lieblichen Südtirol, wo wir zwei Wochen mit Wandern, Schauen, Plaudern, Staunen, Singen und Geigen verbrachten! Wenn  wir dann ermüdet von langen Touren über hale Gupfe wieder in unserem Bauernhof voller strotzend vollhängender Apfelbäume eintrafen, dann war es da immer heiß, so heiß, dass fast nur noch aus Fanny Hensels Lied „Dämmrung senkte sich von oben“ Kühlung zu erreichen war! Summend die Klänge dieses Liedes erwartete ich dann den Abend. Es half mir oft, wenn auch nicht immer!

Hier zunächst der Text aus den Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten, wie ihn Karl Eibl 1998 in seiner Gesamtausgabe der Gedichte bietet:

 

Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt in’s Ungewisse
Nebel schleichen in die Höh;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Wiederspiegelnd ruht der See.

Nun im östlichen Bereiche
Ahnd‘ ich Mondenglanz und Glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Luna’s Zauberschein,
Und durch’s Auge schleicht die Kühle
Sänftigend in’s Herz hinein.

Was macht die Komponistin Fanny Hensel mit diesen rätselhaft schillernden Versen? Mein Ohr sagt mir: Sie macht nichts damit, sie hört in sie hinein, sie scheint sie nur auf sich wirken zu lassen. Das Lied – nur scheinbar einfach hingesetzt mit seiner chromatisch abwärts schreitenden, seiner abgeschatteten Melodie, seinen gebrochenen Akkorden in der Begleitung, in Wahrheit  ein kunstvoll gespiegeltes Halbes, in dem Goethes Verse sich als Ganzes zitternd widerspiegeln – wirkt selber wie das, was es darstellt: eine glatte, spiegelnde Fläche, in der fast unmerkliche Schiebungen, Regungen verzittern, hinstreichen, schleichen, vibrierende Erregungen, ein liebliches dunkles Tal, eine farbenprächtige Düsternis… das ist unvergleichlich, das ist einzigartig, das hat verwandelnde Kraft!

Zitiert nach:
Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten.  In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1800-1832. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 695-699, hier S. 698 [Nr. VIII]

Bild:

Fernes Wetterleuchten am Abend im Eisacktal, hinter Brixen, August 2018

 

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Nachhallende Gespräche für Orgel und vox humana. Els Biesemans spielt im Brixner Dom

 Bach, Das Böse, Das Gute, Freude, Musik, Südtirol  Kommentare deaktiviert für Nachhallende Gespräche für Orgel und vox humana. Els Biesemans spielt im Brixner Dom
Aug 012018
 

Brixen, 31. Juli 2018

Wir besuchten nach schweißtreibender Wanderung, die uns an diesem Tag vom Würzjoch herüber auf die Plose gebracht hatte, ein Orgelkonzert im Dom zu Brixen, diesem großen Festsaal, dieser Vorhalle des Himmels, der in echtem Marmor, nicht in Stuck schwelgt. Im Rahmen der „Brixner Orgelkonzerte 2018“ war an diesem Abend Els Biesemans eingeladen, die sich als Pianistin wie als Organistin gleichermaßen einen internationalen Ruf geschaffen hat.

Die 1980 von Johann Pirchner gebaute Orgel hat 3.335 Pfeifen, 48 klingende Register, 3 Manuale, ein Pedal. Der oben zu sehende, sorgsam erhaltene bzw. rekonstruierte herrliche Prospekt stammt aus dem Jahr 1785.

Bachs Fantasia und Fuge g-moll BWV 542  eröffnete mit düsteren wuchtigen Schlägen diesen Abend. Aufrauschte da der schwere Flügelschlag der unerbittlichen Selbstprüfung, verwickelte Satzgeflechte folgten, kühne Modulationen zu es-moll, hinüber zu f-moll, dann zurück zu g-moll. Dann in der Fuge klar durchgezogen von Els Biesemans das unverwechselbare Hauptthema, dem in gleichberechtigter Stimmführung drei weitere Themen zugeordnet werden.

Alexandre-Pierre-François Boëly  hat in seinem Opus 12 verschiedene Gespräche  der typischen Register des französischen Orgelspiels geschaffen – Dialoge, für Register der Orgel geschrieben, als wären es Instrumente eines Ensembles, romantisch schwelgend, hier durch Biesemans besonders warm, lebendig und schwelgerisch registriert und voller Freude am Spiel ausgeführt.

Camille Saint-Saëns‘ Fantaisie et Fugue  no 1 en mi bémol majeur ist ebenfalls ein Prachtwerk der französischen Orgel-Romantik, in dem die Grenzen zwischen geistlicher und weltlicher Musik verschwinden, als wären sie eine flirrende Luftspiegelung über dem Peitlerkofel. Es fehlt bei diesem französischen Katholiken das Bewusstsein beständiger Schuldhaftigkeit, welches Bachs g-moll-Phantasie durchzieht.

Sofia Gubaidulinas „Hell und dunkel“ war deutlich erkennbar die Klangachse des gesamten Abends. Wuchtig und dumpf erschollen nach dem B-dur-Werk von Saint-Saëns die neun Schläge der Stundenglocke des Doms, ein kleines Kind fing zu lärmen, zu zwitschern und greinen an – oder war dies schon der Beginn des Orgelsolos von Gubaidulina gewesen? Es war nicht eindeutig zu hören.  Coincidentia oppositorum, ein Zusammenfallen von Kind und Mann, von Dunkel und Hell, wie es den Brixner Bischof Nicolaus von Kues sicher erfreut hätte!

Dieses Zusammentreffen von Kinderwelt und Orgelwelt gehört zu jenen ungeplanten Zusammenkünften, die diesen Orgelabend mit Els Biesemans zu einer echten Sternstunde nicht nur in den Ohren des hier Schreibenden werden ließen. Die Pirchner-Orgel konnte unter den Händen der aus Belgien stammenden Organistin ihre ganze Klangfülle, ihren geradezu abenteuerlichen Klangreichtum voll ausfahren. So erschütterten mich insbesondere die Clusterfügungen, von Gubaidulina mit den bekannten „Balkendiagrammen“ vorgezeichnet. Es war ein Knurren und Belfern, eine unerhörte Erschütterung, ein Rückfall ins Animalische, das hier das Register „Vox humana“ ausströmte! Nie zuvor habe ich derartige extreme Grenzbereiche des Orgelklanges hören können, auch nicht bei dem gewiss um abenteuerliche Klangexperimente nicht verlegenen Cameron Carpenter.

Nicht zufällig baut Gubaidulina ihren Satz auf der Reibung der kleinen Sekunde auf – also jenes Intervalls, das Bach bereits in der g-moll-Fuge als beständigen Kontrapunkt b-a und g-fis verwendet hatte. Schneidend klangen am Anfang die nächstverwandten Töne zusammen wie zwei verfeindete Brüder, die sich erst nach und nach versöhnten im Ohr des Zuhörenden. Aus Dissonanz wurde – Konsonanz, eine Versöhnungserfahrung, die Gubaidulina hier in Töne gefasst hat.

Franz Liszts Die Vogelpredigt des heiligen Franz von Assisi, dargeboten in dem durch Saint-Saëns besorgten Arrangement für Orgel, wirkte nunmehr wie ein erfrischendes Atemholen, ein liebliches Turteln und Girren der Vögel von der Herrlichkeit der Schöpfung, denen Franz von Assisi hingegeben lauschte. In dieser Interpretation waren es die Vögel, die dem Menschen die Ohren öffneten für eine Grundstruktur, eine von innen herausbrechende Schönheit, die der Prediger gewissermaßen nachbuchstabierte.

Johann Sebastian Bach entließ uns dann versöhnungsgewiss, fast triumphierend und fröhlich mit Präludium und Fuge D-dur BWV 532  in den weichen, sonnenwärmegetränkten Vorplatz des Brixner Doms.

Els Biesemans gestaltete souverän, uneitel und spielerisch-meisterhaft an der unglaublich reichen, unglaublich modernen und erstaunlich warm-romantischen Pirchner-Orgel im Brixner Dom einen lange nachhallenden Abend. Die Zusammenstellung ihres Programms enthüllte sich als geniale Verbindung von 6 Werken oder 6 Tagen, die im Laufe des Konzerts zusammenwuchsen, miteinander sprachen, einander verdunkelten und erhellten. Der siebte Tag, an dem das Ganze vollkommen werden soll, das werden wir selbst sein. Dieser siebente Tag ist Els Biesemans‘ Geschenk an Brixen, an uns, das dankbare und glückliche Publikum des Abends, ein Vorgriff auf eine lichtdurchflossene, schönheitsdurchflutete Erde, in der das Dunkle, das Grimmige  nur als vorübergehende Verdunkelung des Hellen vorüberhuscht und sich dann in die Berge trollt, aus denen es hervorgekrochen. Dies septimus nos ipsi erimus, so sagt es Augustinus. Dieses Konzert ließ sich ohne weiteres als ein einziges Werk „durchhören“, wobei Bach das Portal und den Abschlussakkord setzte und Gubaidulina die Zeitachse in die Gegenwart verlängerte, ja in die Zukunft  hinein weiterzeichnete.

Die Reihe Brixner Orgelkonzerte wird am 14. August 2018 unter dem Titel „Organa brixiniensia“ um 20.00 Uhr fortgesetzt. Das Hingehen lohnt sich in jedem Fall, wie dieser glückhaft gelungene Abend mit Els Biesemans nachhallend und nachdrücklich bewiesen hat.

 

 Posted by at 23:48