Recht versonnen lief ich vor einigen Tagen vom Schöneberger Jugend Museum die Hauptstraße hoch zum Kaiser-Wilhelm-Platz. Die dort, im Jugend Museum gezeigte, sehr gut gemachte Ausstellung über den deutschen Kolonialismus mit der Beschreibung des deutschen Völkermordes an den Nama und den Herero hatte mich erschüttert. Da war er wieder einmal – The Kaiser’s Holocaust! Gab es denn gar nichts Gutes in der deutschen Vergangenheit – außer Holocaust, Not und Elend der arbeitenden Bevölkerung, Armut auf der einen Seite, Protz und Prunksucht der Schöneberger „Millionenbauern“ auf der anderen Seite? Ist es nicht so: Wo immer man hinschaut, herrscht in der deutschen Geschichte Not, Elend, Verbrechen.
Ich begann allmählich, die Deutschen zu hassen. Wen sollte es wundern? Wenn – wie es sich eingebürgert hat in Deutschland – ganz überwiegend Hässliches, Schweres, Problematisches über die Deutschen erzählt, berichtet und gezeigt wird, wenn die deutsche Geschichte – wie es sich mittlerweile eingespielt hat – ganz überwiegend im Lichte von zahlreichen einzigartigen, unerhörten Verbrechen gesehen wird, dann entwickelt sich in jedem nach und nach ein Gefühl des Widerwillens, der Ablehnung des Deutschen. So auch in dem hier Schreibenden. Das unablässig dargestellte Hässliche erzeugt Hass auf die, die das Hässliche begangen haben.
Aber müssen wir wirklich die Deutschen hassen? Mehr noch: Ist es unsere menschliche Pflicht, nicht nur die Deutschen, sondern das Deutsche als solches zu hassen? Man möchte dies so annehmen, wenn man die heutigen deutschen Darstellungen der deutschen Geschichte ansieht. Müssen wir, sollen wir die Deutschen hassen nach allem, was die Deutschen dem Rest der Welt, den anderen Menschen angetan haben?
Blut, überall Blut klebt und tropft an den Händen der Deutschen. Das ist die vorherrschende Meinung zur deutschen Geschichte, wie sie auch die die aktuelle Diskussion um das Humboldt Forum prägt.
In solchen tieftraurigen Stunden möchte man fast ausrufen:
„Weg, ihr Schreckensbilder der deutschen Geschichte mit all den unvergleichbaren deutschen Verbrechen, all den einzigartigen, unvergesslichen deutschen Völkermorden! Ich möchte euch nur einen Tag lang vergessen, ich möchte nur eine Stunde lang nicht an euch denken. Weg du deutscher Albtraum, so schlimm du bist, hier auch Lieb und Leben ist! Bitte, Schicksal, lass mich die Deutschen nur für einen Augenblick vergessen! Wie schön, wie glücklich wäre die europäische Geschichte, gäbe es die Deutschen nicht!“
Schau dich um, armer Tropf! Aus allen Ländern kommen die Zuwanderer zu den Deutschen. Die Zuwanderer leben ihr Leben weiter, sie bringen den Deutschen ihre reiche Gegenwart mit. Sie verbessern die Deutschen! In Not und Armut lebt im heutigen Deutschland niemand.
Und so war ich froh und dankbar wieder in der Gegenwart angelangt und begrüßte die Deutschen und die Zuwanderer als das, was sie sind: Menschen wie du und ich. Ich war ganz oben angelangt, da wo die Hauptstraße ihren Gipfel erreicht: den Kaiser-Wilhelm-Platz.
Hinüber wanderte da mein Blick auf die andere Seite der Straße. Dort, wo früher das Schöneberger Rathaus stand, ragt heute ein Denkmal auf:
Orte des Schreckens, die wir nie vergessen dürfen
Auschwitz
Stutthof
Maidanek
Treblinka
Theresienstadt
Buchenwald
Dachau
Sachsenhausen
Ravensbrück
Bergen-Belsen
Trostenez
Flossenbürg
Da gingen mir die Augen auf und ich erkannte: Das ist also unser deutsches Geschichtsbild, das die Deutschen Tag um Tag, Nacht und Tag sich selbst und all den Zuwanderern vermitteln, die dort in großen Zahlen auf die BVG-Busse warten. Das ist die einzigartige Erinnerung an das Einzigartige, das Allgegenwärtige. DAS dürfen wir nie vergessen. Wir Deutschen dürfen und sollen selbstverständlich Weimar, die Gebrüder Humboldt, Eisenach, Athen, Zwickau, Bad Doberan, Bad Freienwalde, Jerusalem, Chemnitz, Breslau, Rom, Prag, Königsberg, Augsburg, Bert Brecht, die Brüder Grimm und die Bremer Stadtmusikanten vergessen. Wir Deutschen dürfen unsere Mütter, unsere Väter, unsere schöne, reiche, klangvolle Muttersprache, unsere großen Dichterinnen und Komponistinnen, unsere Philosophinnen und Wissenschaftlerinnen vergessen – und ja, wir haben sie auch vergessen. Goethe dürfen wir ins Abseits drängen. Dürer und Bach? kw, können wegfallen. Wir haben auch die 12 Apostel vergessen, die 12 großen Propheten, die 10 Gebote der Bibel dürfen und sollen wir vergessen. Homer sowieso. kw! Die Hiwiter der Bibel, die vollständig niedergemetzelten Usipeter und Tenkterer aus Caesars De bello gallico, die Amalekiter aus dem ersten Buch Samuel, die vollständig vernichteten, die im 20. Jahrhundert ausgelöschten Kulaken der Ukraine dürfen wir vergessen und haben sie vergessen. Sie kommen schon nicht mehr vor in der europäischen Leitkultur. Die Schülerinnen und Schüler in Berlin erfahren nichts davon. Angelika Kaufmann, Fanny Hensel, Hannah Arendt – kw! Können wegfallen. Immanuel Kant – wird in Deutschland nicht mehr gelesen. kw, auch.
Aber diese 12 Orte des Schreckens und nur diese 12 Orte, die bleiben uns wenigstens erhalten, die dürfen wir NIE vergessen. NIE, keinen Augenblick lang! Sie, diese 12 Orte, sind offenbar der unvergängliche Kristallisationskern der deutschen Geschichte, das jederzeit wiederbelebte, jederzeit als Gegenwart vor Augen geführte Alpha und Omega der deutschen Erinnerungskultur. Sie sind die deutsche Leitkultur, an der Zweifel nicht zugelassen werden.
Während es in Goethes Faust noch heißt:
„Und rings ist alles vom Feuer umronnen;
So herrsche denn Eros, der alles begonnen!“
könnte man über die heute herrschende deutsche Gedächtniskultur schreiben:
So herrsche denn Thanatos, der alles verschlungen!
Da fällt mir mit Schrecken ein: Wo liegt eigentlich Trostenez. Was geschah in Trostenez? Wir alle müssen dies wissen! Wir dürfen es niemals, keinen Augenblick vergessen.
Belege:
Kritik am Humboldt-Forum wird schärfer. Deutsche Welle, 13.08.2017:
http://www.dw.com/de/kritik-am-humboldt-forum-wird-sch%C3%A4rfer/a-40054767
http://www.jugendmuseum.de/Kolonialgeschichte.html
David Olusoga und Casper W. Erichsen: The Kaiser’s Holocaust – Germany’s forgotten Genocide. Faber & Faber, London 2010