Brauchen wir in der Europäischen Union eine straff und zentral von oben herab geführte, eine koordinierte Wirtschaft, wie der Lissaboner Vertrag ausdrücklich verlangt (§§119-144 AEUV)? Blickt man auf die amtlichen Zielvorgaben der EU-Kommission, der deutschen Bundesregierung oder etwa auch die berühmten 29 Seiten der vorerst letzten großen Einigung der Gläubiger mit Griechenland, so möchte man dies annehmen! Fast überall – von der Währungs- über die Energie- bis zur Gleichstellungspolitik – werden heutzutage Entwicklungsziele gesetzt, solidarische Hilfe wird mit strengen Auflagen verknüpft, es wird bis ins kleinste Detail hinein geplant und vorgeschrieben, was bis dann und dann zu geschehen hat. Die gemeinsame Forderung Italiens und Frankreichs nach einer Wirtschaftsregierung, die mittels Planvorgaben, Investitionsprogrammen, über monetaristische Steuerung der Wirtschaft und über Vetorechte in die Souveränität der Einzelstaaten eingreift, ja letztlich sogar an die Stelle der staatlichen Souveränität tritt und somit auch den Euro als das erklärte summum bonum rettet, ist das vorläufige Sahnehäubchen auf dieser immer stärker werdenden zentralistischen Wirtschaftspolitik.
Ausgesprochen unzeitgemäß muss es da klingen, was der EU-Ratspräsident Donald Tusk angesichts dieser heute vorherrschenden zentralistischen Sicht auf die Volkswirtschaften kürzlich im Interview mit der FAZ gesagt hat (17.08.2015): „Ich halte es lieber mit der ordoliberalen Schule in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Erhard, Eucken und Röpke. Ich halte es ganz mit Wilhelm Röpke: Europa braucht weniger Rousseau und Voltaire, sondern mehr Montesquieu.“
Verblüffend! Dass ein führender europäischer Politiker Ludwig Erhard, Walter Eucken und Wilhelm Röpke, diese Wegbereiter der ordoliberalen sozialen Marktwirtschaft kennt, beherzigt, namentlich nennt und sich hinter sie stellt, ja sogar noch von Ordoliberalismus spricht, berechtigt mich zu schönsten Hoffnungen. Von deutschen Spitzenpolitikern bin ich mir’s schon lange nicht mehr vermutend.
Weniger Thomas Hobbes, weniger Rousseau, mehr John Locke, mehr Montesquieu! Das heißt klare Gewaltentrennung, Einhaltung von Regeln statt zentraler Planvorgaben, Verständlichkeit statt unrealistischer Ideale, Vertrauen in die Vernunft und Einsichtigkeit jedes Menschen, Absage an den Begriff der volonté générale, dem alle sich absolut zu unterwerfen haben.
Wir sollten nie vergessen: Das ordoliberale Modell, in der Bundesrepublik Deutschland konsequent befolgt ab 1949 etwa bis zur Einführung des Euro 1999/2002, ist eines der erfolgreichsten wirtschaftspolitischen Modelle des 20. Jahrhunderts gewesen. Es ist sehr schade, dass der Ordoliberalismus in der Bundesrepublik Deutschland Zug um Zug abgebaut wird und fast schon in Vergessenheit gerät. Der Ordoliberalismus bietet sich auch heute noch gegenüber dem bevormundenden, planenden Zentralstaat (demokratisches Vorbild: Frankreich) und dem unbeschränkten Finanzliberalismus (demokratische Vorbilder: USA und UK) an. Der italienische Politologe Bolaffi nannte die wirtschaftspolitische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gar ausdrücklich für die Europäische Union „l’unico modello che abbia dato buona prova di sé“.
Ich meine: Der Pole Donald Tusk und der Italiener Angelo Bolaffi haben beide recht. Wir Deutschen sollten diesen Europäern darin folgen und unsere Ohren auch nicht weiterhin vor Montesquieu, Ludwig Erhard und John Locke verstopfen.
Quellen:
http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/eu-ratspraesident-donald-tusk-im-interview-ueber-griechenland-13706500-p2.html
Angelo Bolaffi: Cuore tedesco. Il modello Germania, l’Italia e la crisi europea. Donzelli Editore, Roma 2013, hier bsd. S. 41, S. 235-237, S. 253-254
Sorry, the comment form is closed at this time.