Mrz 222020
 
„Reiß mich, ein Feuermeer mir im schäumenden Aug, in der Hölle nächtliches Tor“. Am Alten St.-Matthäus-Kirchhof, Monumentenstraße, Berlin-Schöneberg

Am 22. März 1832 starb Goethe, also heute vor 188 Jahren. Anlass, sich seine Vorstellung des eigenen Sterbens vor Augen zu führen, wie er es im Alter von 25 Jahren in seinem Gedicht „An Schwager Kronos“ zu Papier brachte. Dort heißt es am Ende:

Ab denn frischer hinab
Sieh die Sonne sinkt!
Eh sie sinkt, eh mich faßt
Greisen im Moore Nebelduft,
Entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlockernde Gebein.

Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug,
Mich geblendeten Taumelnden
In der Hölle nächtliches Tor.

Töne Schwager dein Horn,
Raßle den schallenden Trab
Daß der Orkus vernehme: ein Fürst kommt,
Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.

Mir kamen die Verse gestern – ich summte sie in Schuberts unsterblicher Liedvertonung – in den Sinn, als mich mein stählernes Rösslein durch die Monumentenstraße führte, hart an dem Kirchhof vorbei, in dem die Gebrüder Grimm ruhen. Die Sonne versank, ein glühender Feuerball, über der Langenscheidtbrücke, der Tag stand gestern und steht auch heute und morgen im Zeichen und im Bann des königlichen Sensenmannes, der, mit einer neuartigen Corona geschmückt, erbarmungslos seine Opfer weltweit dahinmäht. Die Welt erzittert, die Welt erbebt, die Welt sieht sich einer – wie sie glaubt – nie dagewesenen Herausforderung gegenüber: dem unvermutet hereinbrechenden massenhaften Sterben ohne Sinn, ohne Rettung, ohne Trost.

Demgegenüber speist sich Goethes Umgang mit dem eigenen Sterben als äußerst tatkräftig, selbstbewusst, kühn, trotzig. Dem Tod wohnt in diesen Versen nichts Schreckliches inne! So unausweichlich er sein mag – denn die Reise geht ja abwärts, immer abwärts – das Ich wird sich, vorlaufend zum Tode, seiner Gestaltungsmacht bewusst, und in diesem Bewusstsein setzt es sich den Göttern gleich, die es dort in der Unterwelt als ihresgleichen ehrend empfangen sollen. Der Tod wird nicht erlitten, er wird erlebt, gestaltet, begrüßt und schließlich entthront!

Goethe scheint zu fragen: „Krankheit, Seuche, Tod, Hölle – wo ist euer Schrecken? Ihr seid nur Bilder, ihr seid — “

Schubert hat diese Depotenzierung der Sterblichkeit durch seine Musik noch in vollem Feuerglanz verstärkt und überhöht.

Anmerkung: Die Wiedergabe des Gedichtschlusses erfolgt hier buchstaben-, zeilen- und zeichengetreu in der Fassung der “Ersten Weimarer Gedichtsammlung”, welche Goethe eigenhändig im Jahr 1778 schrieb (Handschrift H2).

Zitiert nach:
Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos. In der Postchaise d 10 Oktbr 1774. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 201-203

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