Okt 122015
 

Im Gränzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelstaat verschwinden,
Sich aufzugeben, ist Genuß!

So mag es einem wohl spielerisch in den Sinn kommen, nachdem man mit Hochgenuß die späten politisch-moralischen Gedichte Goethes durchgelesen hat.

Von „entgrenzter Demokratie“ schreibt sehr packend, sehr überzeugend der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall. Er erkennt, dass Phämomene wie „Europäisierung“ (gemeint ist jedoch nur der absolute Vorrang der EU-Rechtsakte vor den Rechtsakten der EU-Mitgliedsstaaten) und „Globalisierung“ den herkömmlichen westlichen Staatstypus zunehmend ins Abseits manövrierten und potenziell handlungsunfähig machten; in der Tat, so meine ich, Altertümlichkeiten wie etwa die Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender, ausführender und rechtssprechender Gewalt werden in modernen Zeiten zunehmend außer Kraft gesetzt; gefragt ist in unseren Zeiten der wachsenden Anomie, der Widersprüchlichkeit unvereinbarer Rechtsordnungen wie etwa derjenigen der EU einerseits und der Nationalstaaten andererseits heute rasches, kühnes Zupacken, Raffen und Schaffen, auch wenn dieses „Schaffen“ oft nur ein „Abschaffen“ oder auch ein „Sich-Aufgeben“ ist, in diesem Fall also ein Abschaffen des herkömmlichen Souveränitätsgedankens der Territorialstaaten.

Wir zitieren Stefan Marschall (Hervorhebungen durch dieses Blog):

„In der Gesamtschau spricht vieles dafür, dass die Globalisierung der Gesellschaften und staatlicher Politik einen Beitrag zur Entparlamentarisierung, zur Schwächung des Bundestages im politischen System Deutschlands leistet und damit an die Substanz der parlamentarischen Demokratie geht.“

In scharfen Tönen, die nicht frei von Polemik sind, spricht der hochangesehene ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust am 9.10.2015 von der „Kanzlerin ohne Grenzen“; der europäische Politiker Guy Verhofstadt wiederum geißelte kürzlich im EU-Parlament die derzeitige europäische Anomie als reinstes Chaos, in dem es nicht eine, sondern „mindestens zehn Unionen“ gebe.

Nun, ich meine: Die zutreffend erkannte „Entgrenzung“ oder auch Regellosigkeit der hohen Politik macht uns einfachen Bürgern zunächst einmal Angst. Wir einfachen Bürger wissen derzeit oft nicht mehr, woran wir sind – was gilt, beispielsweise in der Euro-Staatschuldenkrise, in der wirtschaftlichen Dauerkrise der Eurozone und der Massenmigration in die verschiedenen europäischen Sozialsysteme? Was hat Vorrang? EU-Recht? Deutsches Recht? Das Recht des Stärkeren? EZB-Recht? Eine Art permanentes Notfallrecht? Oder brauchen wir gar in Europa endlich wieder einmal eine starke Frau, die vernünftigen Sinnes alles lenkt und leitet, „legibus absoluta“, also oberhalb der Gesetze stehend, wie etwa Kaiserin Maria Theresia oder Zarin Katharina II.? Oder ist alles letztlich sowieso eins, im Sinne eines Goethe’schen „Eins und Alles“? Fragen über Fragen!

Hier meine ich: Wenn man manche Zuspitzung und im Eifer des Gefechts unterlaufende Übertreibung abzieht, sollte und müsste man die Bemerkungen und Einwürfe eines Johann Wolfgang Goethe, eines Stefan Marschall, eines Stefan Aust und eines Guy Verhofstadt durchaus ernst nehmen. Sind letztlich doch alles besonnene, welterfahrene Menschen!

Belege:

Stefan Marschall: „Die entgrenzte Demokratie – Europäisierung und Globalisierung“, in: Stefan Marschall: Das politische System Deutschlands. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015, S. 234-259, hier bsd. S. 247, S. 255, S. 257

Rede Guy Verhofstadts im EU-Parlament vom 07.10.2015
https://www.youtube.com/watch?v=D_VbHfgPVlg (hier besonders 4:47)

Stefan Austs Artikel vom 09.10.2015:
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article147423831/Angela-Merkel-Kanzlerin-ohne-Grenzen.html

Goethes Gedicht „Eins und Alles“ (mit einigen schweren Schreibfehlern!):
http://gutenberg.spiegel.de/buch/johann-wolfgang-goethe-gedichte-3670/243

Bild:
Lascia dir la gente
e va per la tua strada (Dante). Bild vom Havelland-Radweg, unterwegs zu dem Ribbeck von Ribbeck auf Havelland.
20151004_090713

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