Am vergangenen Samstag wurde in der Staatsbibliothek zu Berlin für einen Tag lang ein originaler Erstdruck der berühmten 95 Thesen Martin Luthers ausgestellt. Ich eilte hin, las, staunte, sah und schreibe nun diese nachfolgenden Betrachtungen 7 Tage danach nieder. Das Foto habe ich mit Erlaubnis der Saalaufsicht vor einer Woche aufgenommen.
Das Bewusstsein ewiger, unverzeihlicher, unauslöschlicher Schuld, an dem so viele Menschen leiden, führt unweigerlich zum odium sui, zum Selbsthass, wie das Martin Luther 1517 an prominenter Stelle genannt hat. In der vierten seiner Wittenberger Thesen schreibt er:
„Manet itaque pena, donec manet odium sui (id est penitentia Vera intus), scilicet usque ad introitum regni celorum.“
„Die Strafe bleibt also, solange der Selbsthass bleibt (d.h. die wahre Buße im Innern), nämlich bis zum Eintritt des Himmelreiches.“
Ewige Strafe, ewige Pein, ewige Schuld wird in deutschen Landen weitergereicht von Vätern auf Söhne, auf Enkel, auf Urenkel – usque ad introitum regni celorum.
Dieser Selbsthass ist in deutschen Landen bis zum heutigen Tage ein guter, ein geförderter Zustand. „In mir ist nichts Gutes.“ Da man nicht an die verzeihende, versöhnende Kraft des Wortes glaubt, vergräbt man sich in einen Kerker aus Schuldbewusstsein, Schwermut und Selbsthass.
Ein Beleg für den typisch deutschen Selbsthass? Hier kommt er, stellvertretend für viele:
„Und dann gibt es noch die unauslöschliche Großschuld, die Deutschland von 1914 bis 1945 auf sich geladen hat. Die Schuld an zwei Kriegen, die Schuld an Millionen Toten auf Schlachtfeldern und in Konzentrationslagern. Das ist eine Schuld, die nicht vergehen wird, an der es nichts zu rütteln gibt, von der die Zeit nichts abschleift.“
So schreibt es Christoph Schwennicke, Chefredakteur der Zeitschrift Cicero, am 3. März 2015.
Zu Hunderten findet man Derartiges in den meinungsbildenden Reden, Schriften und Kommentaren: diese Berufung auf die deutsche Großschuld, die alles andere überragende, in alle Ewigkeiten fortdauernde, alleinige Schuldigkeit Deutschlands für die beiden Weltkriege und die Massenmorde an Zivilisten in den Jahren 1914-1945.
Alle Völker Europas, insbesondere die Deutschen selbst, bekennen sich stolz und voller Sündengewissheit zu den deutschen Verbrechen, an denen sie allein, die Deutschen, bis in alle Ewigkeiten tragen werden, – du, ich, wir Deutschen alle. Diese deutsche Ur-, Erb- und Großschuld ist gewissermaßen das alles andere überschreibende Erbgut, durch das alles andere – auch alles Gute – überlagert wird.
Mit einem wahren furor teutonicus spürten und spüren deutsche Schriftsteller, deutsche Großintellektuelle diesen verbrecherischen Grundcharakter eines ganzen Volkes wieder und wieder auf, ergötzen sich daran, weiden sich daran.
Schon das kleinste Abweichen von dieser dauernden Selbstzerknischung wird als nationalistisches Gehabe rabiat unterdrückt. Wer erinnert sich nicht daran, wie der damalige CDU-Generalsekretär Herrmann Gröhe am Abend des Wahlsieges ein Fähnchen der Bundesrepublik Deutschland schwenkte und sofort von seiner Herrin sanft, aber nachdrücklich abgestraft wurde?
In der Tat: Das Schwenken eines kleinen Fähnchens der Bundesrepublik Deutschland gilt bereits als unschicklich, als frevelhafter Verstoß gegen die guten Sitten! Und die Franzosen versinken derzeit im nationalen Fahnenmeer so sehr, dass an den Kiosken kaum mehr Trikoloren zu kaufen sind! Russen, US-Amerikaner, Türken, Polen, Dänen, Schweden, Finnen und und und lassen stolz und fröhlich ihre Fahnen flattern, ohne doch zu leugnen, dass ihre leiblichen Vorfahren auch einiges auf dem Kerbholz haben. Das symbolische Bekenntnis zum eigenen Staat, zum eigenen Staatsvolk gilt dort nicht als Sünde.
Das in Deutschland immer noch anzutreffende, im Kern reinrassig völkische Denken, wonach Völker, hier also die Deutschen, zeitenüberdauernd an allem schuldig sind und schuldig bleiben, was ihre biologischen Vorfahren und Urahnen in vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten getan haben, feiert in unseren Jahren fröhliche Urständ. „Nie mehr Deutschland, nie mehr Krieg!“ – mit dieser teutonisch-furiosen Losung sprengten junge Deutsche eine Veranstaltung des Verteidigungsministers de Maizière an der Humboldt-Universität.
Davon ganz abgesehen, dass dieses biologistisch-völkische Denken, wonach die Nachfahren die Schuld der leiblichen Vorfahren erben, kaum von allen Menschen geteilt wird, bestehen aus der Sicht historischer Forschung erhebliche Zweifel an der immer wieder von historischen Laien vorgetragenen Behauptung, Deutschland und nur Deutschland trage die Alleinschuld an den beiden Weltkriegen und an allen Genoziden in den Jahren 1914-1945. Vermutlich ist diese Behauptung sogar falsch.
Schuld, die nicht vergehen kann! Es ist, als hörte man das deutsche Gewissen pochen und klagen: „In mir (in mir, dem deutschen Volk) ist nichts Gutes, das neben der deutschen Großschuld Bestand hätte.“ Oder auch: „Meine Sünde ist grösser / denn das sie mir vergeben werden müge.“ So übersetzte Luther die Selbstbezichtigung Kains im 1. Buch Mose (4,13).
Und was wir heute mehr denn je in Deutschland erleben, ist eine fortwährende Selbstbezichtigung Deutschlands als des Kainsvolkes unter den Völkern Europas.
Not tut jetzt eine Art Rückbesinnung auf den personalen Begriff der Schuld, wie ihn beispielsweise das Strafrecht lehrt: Jeder Mensch trägt nur für eigene Vergehen, für eigene Verbrechen Schuld. Es gibt keine generationenübergreifende Sippenhaftung oder gar so etwas wie Volksschuld.
http://www.rp-online.de/politik/deutschland/kolumnen/berliner-republik/deutschland-ist-nicht-an-allem-schuld-aid-1.4916046
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