Okt 272015
 

Es gelten in Europa keine Gesetze mehr„, so klagte gestern im Fernsehen bei „Hart aber fair“ der amtierende Präsident des Bayerischen Landkreistages. Ferner: „Wir sind hier in einem völlig rechtlosen Zustand„, beschwerte sich vor wenigen Tagen in Günter Jauchs Sendung aus dem Schöneberger Gasometer ein praktizierender Rechtsanwalt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter. Ein Richter an einem Bundesgericht, mit dem ich am Rande einer privaten Feier in kleinem Kreis zu plaudern Gelegenheit hatte, vertraute mir wiederum vor geraumer Zeit bereits einmal an, dass die Bundesgerichte sich seit langem schon in einem Limbus der Rechtsungewissheit bewegten; das durch die EU gesetzte Recht sei über weite Strecken methodisch, sprachlich und vor allem begrifflich nicht kompatibel mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch seien die Obersten Bundesgerichte gehalten, die Rechtsakte der EU bei der Urteilsfindung „ständig zu berücksichtigen“. Im Grunde bewegten sich die Richter der Obersten Gerichtsbarkeit des Bundes (Art. 95 GG) im Kleinen wie im Großen ständig auf einem schmalen Grat der „Rechtsunsicherheit nach beiden Seiten hin“; man wisse als amtierender Bundesrichter schlechterdings nicht, welche der Rechtsordnungen – die der EU oder die der Bundesrepublik – Vorrang habe, so ungeheuerlich das auch erscheinen möge. Ein juristisches Niemandsland, auf das man als Bundesrichter/als Bundesrichterin in keiner Weise vorbereitet sei!

Drei zufällig eingefangene Stimmen von ganz unten und von ganz oben in der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dazu kommt noch als I-Tüpfelchen: Durch Weisung der Exekutive – also durch eine Art „Notverordnung“ – wurden in diesen Wochen die geltenden Gesetze über die Kontrolle der Staatsgrenzen Deutschlands außer Kraft gesetzt. Jeder einzelne Bundespolizist steht also in einer Art Konfliktzustand. Was soll er durchsetzen: das Gesetz oder den Willen der Bundesregierung?

Herrscht also derzeit tatsächlich „Anomie“, „Chaos“, „Rechtlosigkeit“ in der Bundesrepublik Deutschland? So weit würde ich nicht gehen.

Für den in den drei Stimmen beschriebenen Zustand schlage ich stattdessen den Begriff der „methodischen Rechtsungewissheit“ vor; in der Politikwissenschaft hat sich für eine derartige schleichende Aushöhlung der geltenden Verfassung, wie sie beispielhaft ab 1930 in der Weimarer Republik zu beobachten war, der Ausdruck „Präsidialkabinett“ eingebürgert; angesichts eines andauernden krisenhaften Zustandes wurde damals allmählich, sicherlich jedoch ab dem Kabinett Brüning I (30.03.1930), die Legislative, also der Reichstag, zunehmend entmachtet, die Exekutive regierte gestützt auf die überragende Stellung des direkt gewählten Reichspräsidenten; das Recht der Ernennung des Reichskanzlers, das Recht der Notverordnungen und die ständige Drohung mit dem Recht der Reichstagsauflösung – die alle dem Reichspräsidenten zustanden – ließen den Reichstag schleichend zu einem Akklamations- und Abnickorgan herabsinken.

Wollen wir so etwas noch einmal erleben? Nein! Ich meine deshalb, in der jetzigen Lage sollten folgende, bisher in dieser Klarheit meines Wissens nirgendwo geforderten Grundsätze gelten:

1) Bundesrecht bricht Europarecht. Das EU-Recht ist im wesentlichen nur zwischenstaatliches Vertragsrecht. Das Recht der Bundesrepublik Deutschland ist stärker; es ist hoheitlich gesetztes, durch das Grundgesetz und den repräsentativ über Organe geäußerten Volkswillen gestütztes Recht. Das Grundgesetz und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland genießen somit methodisch Vorrang vor allfällig entgegengesetzten Bestimmungen des EU-Rechts. Im Zweifelsfall bricht deutsches Recht Europarecht, so wie im Zweifelsfall Bundesrecht Landesrecht bricht (GG Art. 31).

2) Die Gesetzgebung und die Rechtssprechung gehen im Zweifelsfall der vollziehenden Gewalt vor, ebenso wie auch die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes den Gesetzen vorgehen (Art. 25 GG).

3) Die Exekutive, also die jeweilige Regierung, führt im wesentlichen nur aus, was die Legislative, also das jeweilige Parlament vorschreibt. Die Exekutive hat nicht das Recht, vom geltenden Recht abzuweichen oder Gesetze ohne rechtssicheren Grund außer Kraft zu setzen.

4) Zur Bewältigung der gegenwärtig drohenden Staats- und Verfassungskrise sind vorrangig die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu wahren. Nachrangig sind auch die vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben.

Bibliographischer Hinweis:
„Das System der Präsidialkabinette“, in: Der große Ploetz. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte, 35. Aufl., Freiburg 2008, S. 965

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