Sep 152014
 

Zu den beeindruckendsten und liebenswertesten Menschen, mit denen ich immer wieder sprechen durfte und sprechen darf, zählt die 1920 geborene Moskauer Augenärztin Lidia Ivanovna Sacharowa. Sie erlebte und überlebte als junge Sanitäterin die berüchtigten 1000 Tage der Blockade Leningrads. Darüber sprach sie auch im vergangenen Jahr im russischen Fernsehen:

Захарова Лидия Ивановна — Всероссийский проект „Наша общая Победа“.

„Wir waren alle Atheisten“, antwortet sie auf die Frage, ob sie in der grimmigen Todespein der Blockade nicht auch gebetet hätten.

Heute, nach 70 Jahren der ununterbrochenen Herrschaft des wissenschaftlichen Atheismus, ist die Gottesfrage in Russland wieder lebendiger denn je, wie einst zu Zeiten Belinskijs, Gogols und Dostojewskijs.

„Das russische Volk ist zutiefst atheistisch“ schrieb Belinskij in seinem berühmten Brief, den Dostojewskij laut rezitierend im Jahr 1847 im Petraschewskij-Zirkel vortrug.

„Nous serons avec le Christ“, zitierte demgegenüber Dostojewskij in französischer Sprache wenige Minuten vor seiner Hinrichtung am 22.12.1849 aus einem Werk von Victor Hugo. Pietro Citati erzählt diese Szenen sehr bewegend heute auf S. 21 in der italienischen Zeitung Corriere della sera.

Wir trafen unsere Lidia in diesem Jahr auf einem Begräbnis, dabei schenkte sie uns einen bunten, sehr reichhaltigen  Bildband über den russischen Gelehrten Michael Wassiljewitsch Lomonossow, der einige prägende Jahre in Deutschland verbrachte, als erster eine russische Grammatik verfasste und sich stets größter Hochschätzung erfreute. Von der Blockade Leningrads reden wir übrigens kaum. Uns eint das Gemeinsame, das Gute, das Schöne, die Musik, die gemeinsame Sorge für einige Menschen, die Liebe zu einigen Kindern, gemeinsame Trauer, der Glaube an eine Zukunft, die in unseren Händen und den Händen der Kinder liegt.

Nach Lomonossow ist auch ein Krater auf dem Mond benannt, den wir allerdings nicht gesehen haben, denn er liegt auf der erdabgewandten Rückseite des Mondes. Gibt es ihn? Glauben wir an ihn, diesen Lomonossow-Krater, auch wenn wir ihn nicht sehen? Ein paar Verse von Mathias Claudius kommen mir in den Sinn:

Du kannst ihn nicht ganz sehn;
doch ist er rund und schön,

So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost verlachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.

So legt euch denn ihr Brüder
In Gottes Namen nieder,
Kalt ist der Abendhauch,
Behüt Euch Gott vor Strafen
Und lass uns ruhig schlafen,
Und unsern kranken Nachbar auch.

Pietro Citati: I dolori del giovane Dostoevskij. Morte e resurrezione di un genio. Corriere della sera, 15 settembre 2014, Seite 20-21

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