Mai 212012
 

Betrachte dieses Bild! Du siehst einen jungen Baum, der zum Schutz vor Ungeziefer mit einer Kalklösung bestrichen ist und durch drei Pflöcke in seinem Wachstum gestützt wird. Ich sah ihn heute vor dem Frühstück, als ich mit meiner Familie durch den Kreuzberger Park am Gleisdreieck joggte. Der Baum wurzelt in der Erde, sie ist sein Wurzelgrund und Fundament. Zum besseren Wachstum ist er gehegt, geschützt und gestützt durch die drei Pflöcke. Die Pflöcke sind sozusagen stützende Säulen, aber nicht tragende Säulen. Der Baum könnte wahrscheinlich auch ohne die stützenden Säulen überleben. Ohne ausreichenden Wurzelgrund aber könnte er nicht überleben.

Worauf wurzelt Europa? Was sind die tragenden Fundamente der Europäischen Union? Herr Steinbrück gab gestern bei Günter Jauch in einer Euro- oder Euro(pa)-Talkshow eine gute Antwort: „Unabhängige Gerichte, Sozialstaat, Trennung von Staat und Kirche, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Aufklärung – das ist Europa, …“, und ich ergänze, Herr Steinbrück: soziale Marktwirtschaft statt staatlicher Zwangsbewirtschaftung  …  Richtig so, Herr Steinbrück, so steht es ja auch in den Lissabonverträgen – und genau DAS könnte man auch ohne den Euro haben. Und das hattten wir auch schon ohne den Euro. Völlig verkehrt ist es also, den Euro zum „Fundament der weiteren  europäischen Integration“ zu erklären, wie das die Staats- und Regierungschefs der EU am 09.12.2011 hochoffiziell taten.

Ich meine: Der Euro ist „eine Säule“, eine wichtige, zu bewahrende Säule, ein stützender Pflock, aber eben keine „tragende“ Säule der europäischen Integration. Denn das würde ja bedeuten, dass die EU-Länder, die den Euro noch nicht haben oder haben wollen, schlechtere Europäer wären. Es ist falsch, den Euro (das GELD) zur entscheidenden Klammer Europas zu erklären. So war es 1955 auch irrig zu glauben, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG (das SCHWERT) müsse das entscheidende Fundament der Europäischen Integration werden. Ein Irrtum, den selbst Konrad Adenauer, der ihm auch erlag, im Nachhinein zugeben musste.

Ansonsten war’s gestern beim Jauch eine gute Debatte zwischen den beiden innigen Parteifreunden, in der der leibhaftig anwesende Unnennbare nur selten und nur ganz wenig beleidigt wurde (Steinbrück: „Bullshit, was Sie da sagen“ usw.) Das ist ja schon mal etwas.

Merke: Eine minimale Dosis Sarrazin-Bashing ist fürs politische Überleben heutigentags unabdingbar. Anders gewendet: Sarrazin-Bashing ist eine tragende Säule des Überlebenskampfes in der öffentlichen Arena. Selbst Joachim Gauck hat dieser neuen, allerdings unverzichtbaren Disziplin pflichtgemäß seinen Tribut gezollt. Erst danach konnte er zum Bundespräsidenten gewählt werden. Wir müssen Herrn Sarrazin dankbar sein, denn der Widerspruch gegen ihn stiftet Einigkeit aller mannhaften Demokraten.

Und sonst? Wohin führt das Gleichnis?

Der Euro, der 80.000 (oder mehr?) Seiten starke acquis communautaire, die GAP, der EFRE, die Strukturfonds und wie sie alle heißen, sie sind gärtnerische oder stützend-pflegende Maßnahmen, die nötig oder sinnvoll, wichtig oder tauglich sind. Aber sie sind stets offen zu halten für veränderte Bedingungen. Sie sind nie in Stein gemeißelt.

Unbedingte Achtung der Menschenwürde, Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte, Pressefreiheit, Gewaltentrennung, Sozialstaat, freie Marktwirtschaft, Ablehnung der staatlichen Zwangsbewirtschaftung, parlamentarische Demokratie, das Prinzip der Subsidiarität und der Solidarität – all das gehört zum unverzichtbaren Wurzelgrund der Europäischen Union. Die vorher genannten stützend-gärtnerischen Maßnahmen hingegen müssen dem Baum das Gedeihen und das Wachstum ermöglichen. Sie haben dienende, stützende, nicht fundierende Aufgaben.

 Posted by at 10:11

Sorry, the comment form is closed at this time.