Mrz 132009
 

Mehrfach hatten wir in diesem Blog auf Bismarck als einen wesentlichen Schöpfer unseres heutigen Sozialstaates hingewiesen, so etwa am 20. und 21.02.2009.  Und am 09.03.2009 zitierten wir einen unglücklichen Bordellbetreiber, der dem guten deutschen Sozialstaat die Schuld an seiner kriminellen Karriere gab: „Wenn es den Sozialstaat nicht gäbe, wären wir nicht hier.“ Ist der Sozialstaat an allem schuld?

Ist also Bismarck für alles in Haft zu nehmen? Der Bericht im aktuellen SPIEGEL, Nr. 11/2009 „Geschlossene Gesellschaft“ ist da recht unerbittlich. Michael Sauga analysiert das Auseinanderfallen von „ganz arm“ und „ganz reich“. Es ist eine unleugbare Tatsache, dass das reale Nettoeinkommen bei den reichsten 10% der Bevölkerung seit 1992 um 31 Prozent zugenommen, bei den ärmsten 10% dagegen um 10% abgenommen hat. Die Oberschicht reproduziert sich weitgehend selbst, unabhängig von Leistung und Verdienst. An keiner Stelle wurde versucht, die bismarckschen Grundpflöcke des obrigkeitlich verordneten Sozialstaates zu versetzen. Es hat seit 1888 nie mehr eine durchgreifende Sozialreform in Deutschland gegeben! Sauka schreibt:

„Doch wann immer im Nachkriegsdeutschland eine wichtige sozialpolitische Weichenstellung anstand, setzten sich die Bismarck-Jünger durch. Von der Rente bis zur Pflege wurden die wichtigsten Zweige des Wohlfahrtsstaates als Versicherungskasse organisiert, zum Nutzen der bessergestellten Stände und nicht zuletzt der politischen Klasse. Sie merkte bald, welch geeignetes Instrument ihnen das deutsche Sozialstaatsmodell in die Hände gab, sich als Wohltäter des kleinen Mannes zu inszenieren.“

Der Spiegel 11/2009, S. 64

Damit trifft er den Nagel auf Kopf. Kaum irgendwo wird das deutlicher als im Bundesland Berlin, wo die Parteien, allen voran die SPD und die CDU, über Jahrzehnte hinweg ein sattes Klienteldenken gepflegt und gehätschelt haben. Durch großzügig ausgereichte Wohltaten sicherten sich die Mehrheitsparteien die Zustimmung beim gemeinen Volk. Wer besser und glaubwürdiger versprach, der gewann die Wahlen.

Das ging gut, solange die Wirtschaft insgesamt sowohl nominal als auch real wuchs. Und jetzt geht es eben nicht mehr gut. Wir haben es nicht nur mit schrumpfenden Städten, sondern auch mit schrumpfenden Wirtschaften zu tun. Die eherne Voraussetzung, auf die Ludwig Erhard sein Modell der sozialen Marktwirtschaft gegründet hatte, nämlich das beständig steigende Einkommen in allen Schichten des Volkes, bricht unter den Füßen weg.

Das Umdenken fällt sehr, sehr schwer! Finanzsenator Sarrazin, ein aufrechter Einzelkämpfer, konnte sich zeit seines Amtes nicht an die Berliner Denke anpassen und machte seinem Ingrimm durch allerlei spöttisch-kantige Sprüche Luft. Er wusste sich keinen anderen Ausweg mehr. Doch Berlin hat ihn nicht so recht verstanden. Sarrazin erkaufte sich keine breite Zustimmung durch die Massen, er wurde zum Risiko für seine Partei und deren Regierungsmacht.

Dabei böte die Krise die Chance zu echten Reformen. Allerdings müsste der Staat sich dazu auf seine Kernaufgaben besinnen: Herstellung der Chancengleichheit für alle, Verhinderung von ungehemmter Ausbeutung der Machtpositionen durch die „Geschlossene Gesellschaft“ der Mächtigen, Schutz aller vor Hunger, Obdachlosigkeit und schwerer Verelendung, Durchsetzung des Gewaltmonopols, Durchsetzung des Rechtsstaates. Von der Vorstellung, dass jeder und jede möglichst viel vom großen Kuchen heraushacken soll, gilt es sich zu verabschieden.

Dieses Ausbeutungsdenken gegenüber dem von vielen erwirtschafteten Reichtum zeigt sich erneut in den üppig ausgezahlten Boni und Abfindungen der Banken und Versicherungen: Trotz Verlusten in Rekordhöhe zahlen Banken und Versicherungen ihren Führungskräften Boni in Millionenhöhe aus. Ein Beispiel von vielen, das die Berliner Zeitung heute berichtet:

Die Gesamtbezüge der Allianz-Vorstände gaben im Jahresvergleich um fast ein Drittel auf 26,3 Millionen Euro nach. Top-Verdiener war Allianz-Chef Michael Diekmann, der allerdings mit 3,8 Millionen Euro rund 27 Prozent weniger erhielt als vor einem Jahr. Der Anfang des Jahres aus dem Vorstand ausgeschiedene frühere Dresdner-Bank-Chef Herbert Walter blieb 2008 mit 1,06 Millionen Euro und fast um zwei Drittel unter dem Vorjahresbezügen. Er erhält allerdings – wie bereits bekannt – zudem für die vorzeitige Auflösung seines Arbeitsvertrags eine Abfindung von knapp 3,6 Millionen Euro. Die Dresdner Bank war tief in den Strudel der Finanzkrise geraten und hatte ihre einstige Konzernmutter Allianz im vergangenen Jahr mit einem Minus von 6,4 Milliarden Euro schwer belastet.

Die athenische Demokratie, häufig genug als Modell der Demokratie schlechthin gepriesen, hatte ein sehr ausgeprägtes System der Verhinderung von Übermacht: wer zu reich oder zu mächtig wurde, dessen Einfluss wurde per Volksentscheid eingedämmt, bis hin zur Verbannung. Ein drastisches Mittel, das heute mit dem Rechtsstaaat kollidieren würde!  Aber Machtbegrenzungsmechanismen braucht jede funktionierende Demokratie. Die unsrigen sind nicht zielgenau genug. Das ganze System lädt zur fröhlichen Selbstbedienung auf Kosten des Gemeinwohls ein, und zwar quer durch alle Einkommensklassen.

Nachdenken tut not. Der Fall Opel zeigt uns noch einmal eine hypertrophe Blüte des obrigkeitlichen Denkens: der Staat soll Retter spielen, er soll sich das Wohlwollen der Untertanen erkaufen, indem er ihnen den Arbeitsplatz rettet.  Die Dankbarkeit der Untertanen gegenüber dem Retter wird grenzenlos sein – mindestens bis zur nächsten Bundestagswahl.

Und Bismarck? Der kann doch nichts dafür! Er tat das, was er damals für das Richtige hielt. Dass seine Nachfahren so mutlos sein würden, konnte er nicht ahnen. Dafür ist ihm kein Vorwurf zu machen.

 Posted by at 20:34

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