Apr 192009
 

Der Kongress 30 Jahre taz hat meine Erwartungen weit übertroffen. Ich habe gestern 5 Stunden lang des Programm verfolgt, heute noch einmal 4 Stunden. Wo auch immer ich hineinschneite: Es tat sich was. Alle Lesungen, Gespräche und Plaudereien haben mich bereichert. Dies galt auch für das Gespäch zwischen Wolfgang Schäuble und Jürgen Trittin: „Wer hat Angst vor Schwarz-Grün?“ Weit entfernt von billiger Effekthascherei, gelang es vor allem Wolfgang Schäuble, die grundlegenden Funktionsmechansimen von Koalitionsregierungen zu erklären. Trittin musste ihm in allen wesentlichen Punkten zustimmen. Koalitionen sind keine Liebesheiraten, sondern „Zweckbündnisse zwischen Gegnern, die sich davon Vorteile versprechen“ (Trittin). „Große Koalitionen sind gewissermaßen Kartelle zwischen den Hauptteilnehmern des Wettbewerbs. Sie laufen der Wettbewerbsdemokratie zuwider, da sie das Wesen der Demokratie, nämlich das streitige Aushandeln der besten möglichen Lösungen, unterlaufen“ (so sinngemäß Schäuble). Eingeleitet durch einen kabarettistisch gewürzten, aber im Sachlichen brillanten Analyseversuch des Parteienforschers Franz Walter, entspann sich eine dialogdemokratische Sternstunde. Kernaussagen: Die Grünen sind heute die Partei der Akademiker, der Besserverdienenden, der Jüngeren. Die Union ist um so stärker, je niedriger der Bildungsabschluss und je höher das Alter liegen. (Dies hat übrigens auch die letzte Umfrage gerade für das Bundesland Berlin ergeben.) Die Unionsparteien sind heute gewissermaßen die Partei der bildungsfernen Schichten geworden. Insofern passen die beiden Parteien komplementär zusammen, zumal bei den Anhängern sich in Einzelfragen erstaunliche Übereinstimmungen ergeben.

Keine Ellenbogenschläge, kein Gezänk, sondern respektvolle, mitunter humorvolle Anerkennung des Anderen – das zeichnete sowohl Schäuble als auch Trittin aus. Ich habe selten einen aktiven Politiker so unverstellt über Funktionsmechanismen der Macht und über die Wirkweisen der öffentlichen Kommunikation reden hören wie Wolfgang Schäuble heute im Haus der Kulturen der Welt.

In der Aussprache meldete ich mich zu Wort: „Wäre es nicht an der Zeit, dass die Partei der Töchter und Söhne, also die Grünen, sich mit der Partei der alten Väter, also der CDU, aussöhnte?“ Ich glaubte damit zu provozieren, denn wenn man meine Behauptung so hinnähme, hätte man zugegeben, dass ein im Grunde psychologisches Motiv wie der Generationenkonflikt letztlich die Auseinandersetzung zwischen den „Altparteien“ und den Grünen wesentlich bestimmte. Ich bin übrigens tatsächlich dieser Auffassung: Die Grünen sind eine Partei, die sich im wesentlichen als Partei der Töchter und Söhne sieht. Und deshalb erwartete ich Widerspruch. Doch weit gefehlt! Jürgen Trittin stimmte mir ausdrücklich zu und führte aus: „Wir haben dieses Muster geradezu klassisch bei der bayerischen Sozialministerin Stamm und ihrer Tochter, die für die Grünen im Landtag sitzt. – Politisch bleibt es dabei:  Wir Grünen bleiben widerborstig – ich wäre vorsichtig mit der Versöhnung“ (Zitat sinngemäß).

Der Trialog zwischen Franz Walter, Wolfgang Schäuble und Jürgen Trittin ist das beste, was ich seit sehr langer Zeit an politischer Rede und Gegenrede erlebt habe! Sensationell gut!  Sollte die Veranstaltung  als Mitschnitt im Netz verfügbar sein, so empfehle ich mit Nachdruck das genaue Studium.

Übrigens habe ich selbst eine Art persönliches Fazit des taz-Kongresses öffentlich gemacht und in die Form der oben wiedergegebenen Frage gekleidet.

Die taz ist 30 Jahre alt geworden, also erwachsen. Ich hörte keinen anderen Leitbegriff so oft, wie diesen: Verantwortung. Es ging nie um Protest, nie um mehr Freiheit, sondern um Verantwortung, um neue Gemeinsamkeiten, Chancengerechtigkeit und ähnliche Grundworte der klassischen Ethik. „We must hold everybody accountable for what they do.“ So Richard Sennett gestern vor einem hingerissen lauschenden Publikum.

Ich dachte oft und oft:

„Mann, taz, wie haste dir verändert!“

Die Auswertung und Nachbereitung dieses taz-Kongresses wird sich in diesem Blog noch einige Tage hinziehen – zu viel Grundlegendes konnte ich an Einsichten gewinnen.

 Posted by at 22:16

  3 Responses to “„Wir bleiben widerborstig“”

  1. Danke für das positive Feedback und die schöne Zusammenfassung der Schwarz-Grün-Veranstaltung.

  2. „Die Grünen seien die eigentliche Partei der Besserverdienenden und ihre Wähler forderten stärker als die Wähler aller anderen Parteien einen Abbau staatlicher sozialer Sicherungen.“ sagte Walter völlig korrekt!

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