Immer wieder besuche ich Gemäldegalerien und lasse mir die ausgestellten Kunstwerke erklären. „Achten Sie auf die Augen! Was sagen Ihnen die Blicke? Wie ist das Bild aufgebaut? Welche Blickrichtung nimmt das Auge des Betrachters? Welche Beziehung herrscht zwischen den dargestellten Personen? Welche Fläche nehmen sie auf den Bild ein? Wer ist wichtig? Was sagen die Hände?“ Dieses und ähnliches erläutern mir die geschulten Kustoden.
Genau dieses Wissen wende ich auch bei der Analyse der Wahlplakate an. Meist blicken einen die Kandidaten direkt an, versuchen Aufmerksamkeit für die 2,5 Sekunden zu erheischen, die der Passant das Plakat wahrnimmt.
Anders das neue Plakat von Vera Lengsfeld! Erstens sind zwei Frauen darauf zu sehen. Politik spielt sich ja zwischen Menschen ab, ist keine Einbahnstraße. Das erste mir bekannte Wahlplakat mit zwei gleichrangig dargestellten Menschen – gut! Demokratie ist ein Geben und Nehmen. Eine allein schafft es nicht. Man muss mehr bieten als nur eine Spitzenkandidatin. Erst in dem Zwischen der Politik, von dem Hannah Arendt immer wieder spricht, entfaltet sich echte Politik – im Gegensatz zu den Anordnungen und Befehlen autoritärer Herrschaft.
Beide Frauen werden mit großem Selbstbewusstein dargestellt. Die linke Hauptgestalt wendet ihr Gesicht zur rechten Dame, die Sprache ihrer Hände drückt eine raumgreifende Frage- und Vorschlagshaltung aus. Die rechte Frau nimmt die Position der Angesprochenen ein, sie wendet sich jedoch in freiem Ermessen dem Betrachtenden zu. Ein geheimes Einverständnis scheint zwischen den beiden Damen zu herrschen, denn sie haben sich in ähnlicher Weise festlich angezogen. Der feine Perlenschmuck der linken Dame gemahnt an Darstellungen von Herrscherinnen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, so etwa Porträts von Zarin Katharina II. Erinnert sei insbesondere an das Porträt Fedor Rokotovs aus dem Jahr 1763. Dieses Blog widmete ihm am 6.1.2009 eine kunstgeschichtliche Betrachtung.
Zum festen Inventar weiblicher Herrscherporträts gehört ein dezentes Unterstreichen der selbstbewussten, auch körperlich dargestellten Weiblichkeit. Dies kann durch Schmuck geschehen, durch ein Décolleté oder andere Attribute der Weiblichkeit wie etwa Fächer, Spiegel oder Pelz.
Lengsfeld hat sich über die Jahre hin immer wieder für eine stärkere Betonung der individuellen Freiheitsrechte ausgeprochen. Unsere politische Landschaft sieht sie im Griff der übermächtigen Parteien. In einem sehr bemerkenswerten Aufsatz im aktuellen Heft des Cicero hat sie genau diese Einsicht mit treffenden Analysen untermauert.
Vera Lengsfeld mahnt mit ihrem Plakat genau die politischen Freiräume an, die im Tagesgeschehen allzuleicht aus den Augen verloren gehen. Sie tritt mit der Bildersprache ihres Plakates für ein starkes, selbstbewusstes Parlament ein, dem die hier mit abgebildete weibliche Herrscherin zuhören soll. Dem obwaltenden Übergewicht der Exekutive setzt sie gewollt eine Aufwertung der Legislative entgegen. „Wir, die Kandidatinnen des Parlaments, sind genauso wichtig wie die Regierungsmitglieder.“ Das ist die Botschaft der Raumaufteilung.
Legislative und Exekutive speisen dabei ihr beziehungsreich-kraftvolles Mit- und Gegeneinander nicht aus der Zugehörigkeit zu einem Hofstaat, Parteiungen oder Klüngeln, sondern aus dem in sich ruhenden, nach außen geöffneten Zusammenspiel von freien, entscheidungsfähigen Menschen.
Das Plakat verströmt diese Kraft der Freiheit. Als wollte es sagen: „Es gibt zwei von uns. Wir sind wie gegensätzliche Schwestern.“ Es setzt auf den mündigen, all seiner Sinne mächtigen Betrachter, der die Gesamtkomposition im Auge hat und sich nicht in einigen wenigen Details verliert.
Sinnfällig wird dieser ikonographische Gehalt – ähnlich dem Sinnspruch allegorischer Darstellungen aus dem Barock – durch die Zeile „Wir haben mehr zu bieten“ untermauert. Das „Mehr“ unterstreicht den Wettbewerbscharakter moderner Demokratie – ohne doch die Betrachter auf eine Eindeutigkeit festlegen zu wollen, wie sie das zeitgenössische Anspruchsdenken einfordert. Es werden keine Versprechungen gemacht, keine Forderungen erhoben.
Das Ganze ist durchwebt von einem raffiniert-ironischen Spiel mit hergebrachten Bildern des Weiblichen, das den mündig-aufgeklärten Betrachter voraussetzt, der die zunächst einfach scheinende, aber doch vielfach gebündelte Bildsprache des Plakats zu entschlüsseln vermag.
Es wird spannend sein zu sehen, wie die moderne Kommunikationswissenschaft auf die Herausforderung dieses herausragenden Plakates reagiert, das am heutigen Tage völlig zu recht auf die Titelseiten einiger deutscher Tageszeitungen gesetzt wurde. Kunstgeschichtlich gesehen ist es ein Sonderfall einer produktiven Umformung traditioneller Mal- und Bildgestaltungstechniken, die zu widersprüchlichen Reaktionen ermutigt.
2 Responses to “„Wir haben mehr zu bieten“ – Ikonographische Betrachtungen zu Vera Lengsfelds neuem Plakat”
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Die Mädchenmannschaft versagt bei der Diskussion zum Thema leider völlig, weil sie Kommentare und ihre Antworten darauf aus dem Blog löschen. Betroffen sind:
http://maedchenmannschaft.net/wir-haben-mehr-zu-bieten/#comment-17123
http://maedchenmannschaft.net/wir-haben-mehr-zu-bieten/#comment-17124
und
http://maedchenmannschaft.net/wir-haben-mehr-zu-bieten/#comment-17127
sowie die Antwort von Susanne darauf zumn Thema „Meinungsressort in der taz“.
Ich habe mit eben dort beschwert mit Kommentar 17185 beschwert. Mal sehen, ob sie so sportlich sind und den zulassen.