„Das wachsende Bewusstsein unserer kollektiven Unverantwortlichkeit in Umweltfragen wird Projektionsmechanismen verstärken, dank deren man die Schuld bei anderen sucht, um sich nicht selbst schämen zu müssen. Keine schönen Aussichten.
Was Hoffnung macht, ist eine Figur wie Greta Thunberg, die in der allgemeinen Verlogenheit die Wahrheit sagt. Und man darf hoffen, dass die moralischen Kräfte wachsen werden, wenn der Ernst der Krise ins allgemeine Bewusstsein gerückt sein wird.“
So schreibt es Vittorio Hösle, Professor für deutsche Literatur, Philosophie und Politikwissenschaft an der University of Notre Dame in Indiana (USA), in seinem 2019 in zweiter Auflage erschienenen Buch „Globale Fliehkräfte“. In diesem Buch, und insbesondere in Sätzen wie den eben zitierten fällt mir die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach Wahrheit auf, die Sehnsucht nach dem Menschen, „der in der Wahrheit steht“, nach dem Menschen, der aus der Wahrheit lebt und die Wahrheit, in der er steht, auch unverhüllt ausspricht. O diese unwiderstehliche Anziehungskraft der Wahrheit, welche sich den Fliehkräften der Lüge entgegenstellt und welche beispielhaft in einzelnen, nach Wahrhaftigkeit strebenden Menschen wie etwa Greta Thunberg aufleuchtet!
Dieses aufrüttelnde Bekenntnis Vittorio Hösles zur Wahrhaftigkeit setzt darüber hinaus die Welt der Lüge – oder besser die Lügenhaftigkeit der Welt – in scharfem Hell-Dunkel-Kontrast der Wahrhaftigkeit der einzelnen Lichtgestalt gegenüber. Er erklärt sich also mit Greta Thunbergs Weltsicht einverstanden, die ja ebenfalls „der Welt“, also den Mächtigen dieser Erde, eine abgrundtiefe Verlogenheit vorwirft – und zwar in Bausch und Bogen -, ohne irgendwelche Unterschiede zwischen den Parteien und Staaten zu machen; hierfür nur zwei beliebige Beispiele aus ihrem ebenfalls 2019 erschienenen Buch „No one is too small to make a difference“:
“And yet, wherever I go I seem to be surrounded by fairytales. Business leaders, elected officials all across the political spectrum spending their time telling bedtime stories that soothe us, that make us go back to sleep… It’s time to face the reality, the facts, the science“ (Seite 86, Rede vor dem United States Congress vom 18.09.2019).
“If the emissions have to stop, then we must stop the emissions. To me that is black or white. There are no grey areas when it comes to survival. Either we go on as a civilization or we don’t“ (S. 6, Rede auf dem Parliament Square zur Extinction Rebellion, London, vom 31.10.2018).
Nun aber: Kann ein vorbildlicher Mensch, der die Wahrheit sagt, sich auch einmal irren? Kann die Welt, die in „allgemeiner Verlogenheit“ lebt, auch einmal der Wahrheit teilhaftig werden? Ich meine in beiden Fällen lautet die Antwort „Ja“. Das Reden von Wahrheit und Lüge setzt ja geradezu voraus, dass jedes Urteil auch nachprüfbar sein muss – und dass die ausgesprochene Wahrheit auch für andere Menschen erkennbar ist.
Der hier Schreibende erklärt hiermit – bei aller Sympathie für Menschen wie Greta Thunberg und Vittorio Hösle, die Sehnsucht nach der Wahrheit haben und aus der Wahrheit leben wollen – dass seiner Meinung nach die einmal erkannte Wahrheit stets von neuem befragt, bezweifelt und geprüft werden sollte. Es könnten ja neue Erkenntnisse auftauchen, die die schroffe Unterscheidung in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse in anderem Licht erscheinen lassen.
Roger Bacon hat die Einsicht in die Fehlbarkeit noch des vorbildlichsten Menschen in folgende Wendung gefasst: „Amicus est Socrates magister meus sed magis est amica veritas“ (Opus majus, pars I, cap. VII).
Quellenangaben:
Vittorio Hösle: Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Horst Köhler. 2. Aufl. Verlag Karl Alber, Freiburg 2019, S. 17-18
Greta Thunberg: No one is too small to make a difference. Penguin, London 2019
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