Jun 262023
 

Vor wenigen Stunden schlenderte ich ruhigen Gemütes, eine freundliche Vision von Richard Strauss summend, durch die heimatliche Akazienstraße, ganz in Gedanken, vielmehr in ein gedankenreiches Gespräch über die Frage „Was ist authentisch?“ versunken. Keine leichte Frage, wie ich innehaltend bemerkte. Vor mir lockte eine Bar, oder vielmehr eine Coffee Lounge, oder vielmehr ein Restaurant zum Niederlassen und Verweilen. Eine Buddha-Figur bezeugte gewissermaßen die Würde, die Echtheit, die Aufenthaltsqualität dieses Ortes.

Und ganz folgerichtig durfte die ausgespannte Markise den Anspruch erheben, dies alles, dieser Ort hier sei „authentisch“. Authentisch, also echt, würdig, wahrhaftig, redlich, wirklich? An dieser Bar bzw. diesem Restaurant bzw. dieser Coffee Lounge dürfte klar werden, dass Authentizität keineswegs eine Eigenschaft ist, die einem Ding an sich, einer Aussage als solcher, einem Gefühl als solchem zukommt.

Was ist ‚authentisch‘?

Mir fiel jener Aufsatz des Kunsthistorikers Hans Ulrich Reck ein, den ich am Vormittag in einem neu erschienenen, sehr ergiebigen Band über „Authentizität nach Pasolini“ gelesen hatte. Authentisch ist kein „Ausweis von selbstbezogener Einzigartigkeit“, wie es Reck nennt; Authentizität entsteht vielmehr in einem Zuschreibungsgeschehen aus der Position „kundiger Zeugenschaft“. Hier ist es also ein kundiger Buddha, der die Glaubwürdigkeit dieses Anspruchs auf Authentizität bezeugt.

Bei der Beglaubigung der Authentizität einer Dürer-Zeichnung wiederum mag nur das kundige, mehrfach überprüfte Urteil mehrerer Kunsthistoriker als Beglaubigung taugen. Eine mathematische Gewissheit darüber kann es nicht geben.

Aber müssen wir dem stummen Hinweis des Buddhas folgen, ihm vertrauen, ihm glauben? Nein! Nichts zwingt uns dazu. Authentizität ist nichts unabweisbar Logisches. Ich könnte, in tiefem Zweifel befangen, auch sagen: ein Ding, das teils Coffee Lounge, teils Restaurant, teils Bar ist, verfehlt schon allein durch diese Dreiheit, dass es eines und nur eins ist. Ich würde ihm Authentizität nicht zuschreiben.

Der Begriff der Authentizität ist also scharf abzuheben vom Begriff der Echtheit, der Wahrheit, der Einzigartigkeit.

Mit diesen vorläufigen Einsichten setzte ich meinen Gang durch die Akazienstraße fort, entschlossen, dem Problem der Authentizität nach Pasolini weiter auf den Grund zu gehen. Der eben erschienene, frisch vor mir aufgeschlagene Band mit Beiträgen namhafter Pasoliniani wird mir dabei eine große Hilfe sein.

Hans Ulrich Reck: Italien als Dystopie, eine letzte Reise – Pasolinis 12 DICEMBRE, in: Cora Rok (Hg.): Authentizität nach Pasolini, Paderborn: Brill Fink 2023, S. 113-122, hier S. 114

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