Apr 032009
 

  „Here, towards the end, the three players suddenly turn against the cellist. They condemn him, chasing him as a scapegoat. Haven’t you seen and heard that? Here, music is transformed into an archaic ritual. It is no longer a set-piece convention. It is utterly exciting, it goes right into your bone-marrow.“ Solcherlei Reden schwang ich am vergangenen Montag, als mich einige Mithörer ratlos befragten. Wir hörten ein weiteres Konzert des Artemis Quartetts. Rechts neben mir saß ein Österreicher, der drei Freunde aus Mauritius in den Kammermusiksaal der Philharmonie eingeladen hatte. Neben mir saß – eine Russin wie so oft.

„Na, mit dem Quartettsatz c-moll D 703 und dem Streichqartett a-moll Rosamunde sind Sie doch gut bedient und wie zuhause obendrein als Österreicher“, schmeichelte ich mich ein. „Freilich“, erwiderte mein netter Nachbar, „aber ich bin West-Österreicher. Mit dem ganzen Osten haben wir immer Schwierigkeiten gehabt. Das Völkergemisch ab Wien war für uns der Vorläufer des Balkans. Und der Schubert Franzl ist einer von denen.“ „Ja, was denn, habt auch ihr Österreicher die Ost-West-Spaltung noch nicht überwunden?“, frug ich listig zurück.

Wie auch immer: Alles war bestens vorbereitet. Das 4. Streichquartett und das 3. Streichquartett von Jörg Widmann überraschten die Zuhörer dann aber doch.

Das 4. Quartett beginnt mit Atemgeräuschen, die Bögen streichen über die Zargen, fahle Nicht-Musik gerinnt zu Klang, wird Musik. Großartig! Das Verfeinertste bricht sich selbst unvermittelt im Grob-Stofflichen. „Klang ohne Bezug auf anderes, etwa der bloße Ton einer Violin“, schreibt Kant in seiner Kritik der Urteilskraft, „darf nicht eigentlich schön geheißen werden, da ihm das hinzutretende Empfinden von Maß und Ordnung fehlt, welches ein Geschmacksurteil allererst möglich macht.“ So erinnere ich mich bei ihm gelesen zu haben.

Der bloße Ton einer Violin, einer Viola, eines Violoncells, eines Atems, eines Schreis, das ist es, woraus Jörg Widmann die üppig sprießenden Blumen seiner Kunst erwachsen lässt. Ich war hingerissen, die Männer aus Mauritius waren befremdet, die Russin neben mir war entzückt, der Österreicher enthielt sich salomonisch des Urteils und sagte: „Das ist Musik für Kenner“.

Widmann schafft es, in die Ausreiß-Versuche aus den letzten drei Jahrhunderten Musik den Ton des Neuen, des Uralten einzuflechten. Beim Zuhören musste ich an die Felsmalereien in Lascaux denken, steinzeitliche Jäger haben dort ihre Rituale des Versammelns, Hetzens, Stoßens und Tötens eingeritzt. So ist auch Widmanns 3. Streichquartett eine Art Einritzung in die Gehörnerven. Der Komponist sagt:

„Beim Betrachten der Partitur des 4. Streichquartetts ergibt sich der Eindruck eines dicht gedrängten Stückes. Die Informationsdichte einer jeden Stimme ist extrem hoch, da verschiedene Spieltechniken links und rechts gleichzeitig ausgeführt werden müssen und jeder Spieler zugleich noch eine ‚Atem-Partitur‘ auszuführen hat.“

Das bedeutet doch wohl: Der letzte Sinn der Musik erschließt sich erst beim Betrachten der Partitur und beim Betrachten der Musiker, wie sie das Ganze in Szene setzen. Es ist Musik auch für die Augen, wie es etwa im 16. Jahrhundert einige Madrigalkomponisten bezweckten. Widmann bettet die reiche Tradition des Streichquartetts in den Ursprung zurück: in Spiel, magisches Ritual, in den körperlich-geistlichen Vollzug.

Natalia Prishepenko und Gregor Sigl an der Violin, Friedemann Weigle an der Viola, Eckart Runge am Violoncell – sie boten uns erneut einen beeindruckenden Abend, wie schon am 28.01.2009,  worüber wir in diesem Blog berichteten.

Es hat sich ein Publikum um dieses Artemis Quartett gebildet, welches jeden Atemzug der vier neugierig, staunend, hingerissen aufsaugt. Die Reihe muss fortgesetzt werden. Die Jagd geht weiter!

 Posted by at 23:55

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