Sep 092012
 

Altersarmut – ein großes Thema, das derzeit wieder die Gemüter in Wallung bringt! Werden die Renten reichen?  Die Alten sollen doch in 30 Jahren ihr eigenes Einkommen haben, es kann doch nicht sein, dass sie dann zum Sozialamt gehen oder – schlimmer noch –  von ihren Kindern Unterhalt erbetteln müssen!

Erstaunlich, dass niemand darüber nachdenkt, wie es die Menschheit bisher, also jenseits und vor der Einführung der staatlichen Rentenversicherung  geschafft hat, die Alten, nicht Arbeitsfähigen zu pflegen und ihnen einen würdigen Lebensabend zu verschaffen. In den alten Büchern wird das Thema jedoch immer wieder besprochen.

Kindesdank und Undank  – eine wunderbare Erzählung Johann Peter Hebels fällt mir dazu ein. Ich las sie kürzlich im Sommerurlaub in Berchtesgaden, im Heimatort meiner alten und gebrechlichen Mutter. So beginnt sie:

Man findet gar oft, wenn man ein wenig aufmerksam ist, dass Menschen im Alter von ihren Kindern wieder ebenso behandelt werden, wie sie einst ihre alten und kraftlosen Eltern behandelt haben. Es geht auch begreiflich zu. Die Kinder lernen’s von den Eltern; sie sehen’s und hören’s nicht anders und folgen dem Beispiel. So wird es auf die natürlichsten und sichersten Wege wahr, was gesagt wird und geschrieben ist, dass der Eltern Segen und Fluch auf den Kindern ruhe und sie nicht verfehle.

Man hat darüber unter andern zwei Erzählungen, von denen die erste Nachahmung und die zweite grosse Beherzigung verdient.

Ein Fürst traf auf einem Spazierritt einen fleissigen und frohen Landmann an dem Ackergeschäft an und liess sich mit ihm in ein Gespräch ein. Nach einigen Fragen erfuhr er, dass der Acker nicht sein Eigentum sei, sondern dass er als Tagelöhner täglich um 15 Kreuzer arbeite …

Daneben stellen wir das Märchen der Gebrüder Grimm Der alte Großvater und der Enkel, welches also anhebt:

Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch und die Augen wurden ihm naß …

Die Abhängigkeit der Alten von der mittleren, der arbeitenden Generation ist uraltes kulturelles Erbe, die Sorge der leiblichen Kinder für ihre Eltern im Alter ist ein sittliches Grundgebot, das beispielsweise die jüdische, die christliche und die muslimische Religion nahezu wortgleich verkünden: siehe etwa 5. Buch Mose 5,15; Markusevangelium 10,19; Koran Sure 17, 23.

Sie kommen überein: Du sollst nicht Pfui sagen, wenn deine Eltern alt und gebrechlich sind! Ehre Vater und Mutter!

Auch in unserer Rechtsordnung besteht – noch – die Unterhaltspflicht der Kinder „in aufsteigender Linie“ gegenüber den Eltern.

Dass zuerst und zuletzt der Staat, also die Politik, das Wohlergehen der Alten besorgen müsse, ist eine ganz neue Erscheinung. Aufstockerrente, Zuschussrente, private Zusatzrentenversicherungspflicht und und und. Die ganze Debatte um die Altersarmut kreist derzeit ausschließlich um die Menschen, als wären sie später einmal alle vereinsamte, hoffnungslos alleinstehende, kinderlose Alte.

Der Sozialstaat wappnet sich, damit jeder Mensch auch im Alter einen individuell durchsetzbaren direkten Anspruch auf Schutz vor Altersarmut hat. Als schlimmstes Übel wird die Abhängigkeit der Eltern von ihren Kindern als Schreckgespenst an die Wand gemalt.

Keiner denkt auch nur im entferntesten daran, dass jahrtausendelang Kinder und wieder Kinder und Enkelkinder die beste soziale Sicherheit gegen Armut und Einsamkeit im Alter darstellten, dass die Kinder ihre Eltern irgendwann mittragen und mitziehen und miternähren müssen.

Ich meine aber, auch die deutsche Gesellschaft wird sich auf diese uralte Einsicht zurückbesinnen müssen.

Erst seit etwa 20 oder 30 Jahren denkt offenbar die Mehrheit der Menschen in Deutschland, dass der Lebensstandard der Alten im wesentlichen durch die Sozialversicherung und durch den Staat gesichert werden müsse.

Weder in Schule noch in der Gesellschaft wird den Kindern die Pflege und Fürsorge für die eigenen Eltern gelehrt. Die Familie als primärer Träger der sozialen Sicherheit wird systematisch in Politik und Gesellschaft ausgeblendet.

Ich finde dies bedenklich. Hier droht etwas zutiefst Menschliches verlorenzugehen: die Einsicht in das fundamentale Abhängigsein des Menschen in Fleisch und Blut von anderen Menschen in Fleisch und Blut in jeder Lebensphase, vor allem in Kindheit und Alter, nämlich:

Am Ende hängen wir doch ab
Von denen die wir machten.

Nur Hatice Akyün hat – mit einem ironischen Erschauern – die Vorstellung beschrieben, sie müsse noch mehr Kinder haben, um im Alter glücklich zu sein. Doch dann wird die Vorstellung sogleich wieder verworfen. Sie schreibt:

Aber von dem Modell sind wir weit entfernt. Da bleibt mir als Alternative wohl nur die türkische Variante. Es müssen dringend ein paar neue Kinder her, die mich im Alter versorgen. Oder wie mein Vater sagen würde: „Testi kirilsa da kulpu elde kalir“ – Wenn der Tonkrug zerbricht, bleibt einem immer noch der Griff in der Hand.

Fazit: Dass die Eltern sich auf ihre Kinder verlassen müssen, ist eine Vorstellung, die nicht mehr in unsere Zeit passt. Der Staat soll alle Bürger gegen alle denkbaren existenziellen Risiken lückenlos absichern, jetzt und auch noch in drei Jahrzehnten.

Ich finde dies höchst bedenklich.

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Mit dem Dolch im Gewande: Jugend rezitiert

 Berchtesgaden, Deutschstunde, Europäisches Lesebuch, Friedrich Schiller, Goethe, Heimat, Leitkulturen  Kommentare deaktiviert für Mit dem Dolch im Gewande: Jugend rezitiert
Apr 062010
 

06042010.jpg Immer wieder entdecke ich im Internet, dass Ideen, die ich ausbrüte und die mir zunächst ungewöhnlich und unbekannt scheinen, bereits verwirklicht sind. So schlug ich gestern – inspiriert durch die 8. Türkisch-Olympiade im heimatlichen Kreuzberger Tempodrom – einer lernfähigen Volkspartei einen „Landeswettbewerb Jugend rezitiert“ vor, ähnlich dem äußerst erfolgreichen „Jugend musiziert“.

Dabei dachte ich an den Vortrag einiger Pflichtstücke von Goethe und Schiller, daneben Pflichtstücke aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert sowie auch eine Eigendichtung jedes Teilnehmers. Goethe und Schiller, das waren zwei großartige Männer, echte Europäer, aufsässig, oftmals widerborstig, kaum zu bändigen als junge Männer, draufgängerisch-machohaft, aber später doch recht verantwortungsbewusst. Wer Goethe und Schiller akzent- und fehlerfrei rezitieren kann, der spricht besser Deutsch als 80% unserer Bevölkerung. Das wäre doch was für unsre Ghetto-Kids!

Ich z.B. musste als 7-Jähriger bereits die erste Hälfte von Schillers Bürgschaft auswendig vortragen, und meine Oma freute sich an ihrem Geburtstag herzlich darüber. Wir fuhren zu dem Zwecke eigens nach Berchtesgaden an den Fuß des gletscherbedeckten Watzmann! Die zweite Hälfte rezitierte mein älterer Bruder. Es hat uns nicht geschadet aufzusagen:

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“

Es war merkwürdig: Dass  jemand seinen Willen einfach mit einem Dolch durchsetzen wollte, erschien mir sehr sehr fernliegend. Heute ist es aber für einige unserer Neuköllner Jugendlichen Normalität geworden, dass unsere jungen Männer mit Macheten aufeinander losgehen.  Das heißt: Schillers Erfahrungsraum ist der Lebenswelt der Neuköllner Jugendlichen, die vor Richterin Kirsten Heisig als ihre Stammkundschaft erscheinen, weit näher als uns Buben aus dem behütet-bildungsnahen Bürgertum! Was für eine Chance böten die Frühwerke Schillers für den Landeswettbewerb „Jugend rezitiert“!

Finstere Wüteriche – bereitet euch vor! Zeigt es den behüteten Bürgersöhnen!

Und genau diese Idee – Integration, sprachlich-sittliche Höherbildung unserer jungen verwöhnten Machos durch klassische Bildung – haben sie in Weimar selbst auch schon ausgeheckt und umgesetzt. Chapeau!

Jugendprojekt: Götterfunken für harte Neuköllner – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – SchulSPIEGEL
„Wir wollen die Akzeptanz bei Jugendlichen für jahrhundertealtes Kulturgut schaffen“, sagt Projektleiter Peer Wiechmann. In Neukölln oder Marzahn, wo die 16 Teilnehmer herkommen, bekämen die wenigsten einen Bezug dazu. Das Ziel ist ambitioniert. Wiechmann sieht in dem Projekt einen Weg, die Jugendlichen kulturell an der Gesellschaft teilhaben zu lassen.

Zitatnachweis: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Erster Band. Gedichte. Dramen I. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 8., durchgesehene Auflage, 1987, S. 352

Das Bild zeigt einen abschmelzenden Gletscher am Fuße des heimischen Kreuzbergs, aufgenommen vor 2 Stunden. Eine Folge des Klimawandels? Wohl kaum. Eher vermute ich: Es wird Frühling.

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Aug 252009
 

Vor  70 Jahren, am 24. August 1939 (offiziell: 23. August) wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet – von den Außenministern Ribbentrop und Molotow, aber zutreffend nennt man ihn Hitler-Stalin-Pakt. Er war eine Voraussetzung dafür, dass Hitlerdeutschland wenige Tage später Polen überfallen und dass im Einklang damit die Sowjetunion die drei baltischen Staaten und Ostpolen überfallen und annektieren konnte. Eins der ersten Massaker in diesem an Massennmorden reichen Krieg war das Massaker von Katyn an den 8.000 polnischen Offizieren, zuerst den Nazis in die Schuhe geschoben, begangen aber von den Sowjets bei ihrem Überfall auf Polen.

„Euer NS-Regime war aber recht menschenfreundlich im Vergleich zum Stalinismus“, erzählten mir (ironisch?) vor kurzem einige Russen, als ich ihnen berichtete, dass Karl Seiberl, mein Großvater mütterlicherseits, im Jahr 1933 der Bürgermeister von Berchtesgaden, für zwei Wochen in „Schutzhaft“ genommen wurde, weil er sich weigerte, die Hakenkreuzflagge an seinem Haus zu hissen. Danach wurde er abgesetzt. Weitere Widerstandsaktionen sind nicht überliefert. Mein Großvater fiel als Soldat in den ersten Monaten des Russlandfeldzugs. „Bei uns wurde man damals unter Stalin wegen geringerer Anlässe für ein oder zwei Jahre ins Gefängnis gesteckt. Viele wurden abgeholt, verschwanden für immer. Manche endeten elend im Arbeitslager. Andere wurden wegen kleinerer Vergehen als des Nicht-Hissens der Flagge oder wegen komplett eingebildeter und erfundener Vergehen hingerichtet. Und das ging über mehr als zwei Jahrzehnte so.“

Das dürfen wir nicht vergessen: es waren die zwei Waffenbrüder Hitler und Stalin, es waren das nationalsozialistische Deutschland und das bolschewistische Russland, die 1939 Europa mit einem geheimen Zusatzprotokoll unter sich aufteilten. Mit verheerenden Folgen für ganz Europa, ja die ganze Welt.

Soeben las ich noch einmal die Verse Mandelstams, die ihn selbst ins Verhängnis brachten. Das sind sie:

Мандельштам, Осип.
Мы живем, под собою не чуя страны,
Наши речи за десять шагов не слышны,
А где хватит на полразговорца,
Там припомнят кремлёвского горца.
Его толстые пальцы, как черви, жирны,
А слова, как пудовые гири, верны,
Тараканьи смеются усища,
И сияют его голенища.

А вокруг него сброд тонкошеих вождей,
Он играет услугами полулюдей.
Кто свистит, кто мяучит, кто хнычет,
Он один лишь бабачит и тычет,
Как подкову, кует за указом указ:

Кому в пах, кому в лоб, кому в бровь, кому в глаз.
Что ни казнь у него – то малина
И широкая грудь осетина.

Ноябрь 1933

Строфы века. Антология русской поэзии.
Сост. Е.Евтушенко.
Минск, Москва: Полифакт, 1995.

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