Mrz 202008
 

Mit einer russischen Altistin, die sich um Hilfe an mich gewandt hat, gehe ich Silbe um Silbe einiger Arien aus der Matthäuspassion von Bach durch. Diese Genauigkeit der Aussprache, dieses Hinarbeiten an einzelnen Wörtern, bis jeder Buchstabe verschmilzt mit dem gesungenen Ton, das Ganze zu belebter Klangrede wird – es ist mir eine tiefe Freude, und Bachs Musik rührt mich immer wieder zu Tränen.

„… dass die Tropfen deiner Zähren … „ Wie oft habe ich diese Arien schon gehört – 50 Mal, hundert Mal? Jedesmal ergreifen sie mich anders.
Wer gibt sich heute in unseren elektronischen Massenmedien noch echte Mühe mit dem guten gepflegten Wort, abseits der vorgestanzten Formeln? Am Abend ruft mich ein Marktforschungsinstitut an. Thema: Berliner private Rundfunksender. Ob ich lieber alte oder neue Musik höre? Ich ziehe vom Leder, sage: „Die alte Musik, also die Musik bis etwa zum 15. Jahrhundert, kommt nicht an die innovative Ausdrucksfülle der neuen Musik eines J.S. Bach heran.“ „Für Hörer wie Sie haben ich keine Felder zum Ausfüllen“, klagt Frau Köhler, „meine Zeitschema geht nicht hinter 1970 zurück.“ Na, dann quälen wir uns noch weiter mit allerlei Fragen zu beliebten und unbeliebten Frühstücksmoderatoren, die mir alle unbekannt sind. I couldn’t care less about your breakfast moderators, Frau Köhler, Ihre Fragen gehen an meiner Bandbreite vorbei.

Irgendwann antworte ich nur noch: Radio Fritz. Damit bin ich wieder im Spiel, denn dieser Sender steht auch auf ihrem Zettel. Hurra! Aber ich bringe sie auch in Verlegenheit durch die Nennung einiger Berliner UKW-Sender, von denen sie noch nie gehört hat. Etwa Radio France International (106,00 FM) oder National Public Radio aus den USA (104,1 FM), ganz zu schweigen von Radio Russkij Berlin (97,2 FM).

Wir beenden das 20-minütige Interview im besten Einvernehmen: Wir haben beide Zeit verschwendet und gestehen dies einander ganz offen ein. Schön, dass es diese Ehrlichkeit gibt, Frau Köhler.

 Posted by at 23:20

  4 Responses to “Ätherische Klarheit und Radiosalat”

  1. Hallo Ja – Ja, ich bin für die Beibehaltung von Radio multikulti und drücke die Daumen, dass es klappt! Bitte auch mal ein paar Sendungen zu den deutschen Dialekten bringen, z.B. Schwäbisch, zum Friesischen, und zu den beiden sorbischen Dialekten. Bestes, J.H.

  2. Holger, normalerweise sehe ich das ebenso wie Du. Aber weil mir das Radio als Medium am Herzen liegt, dachte ich mir: Ich will etwas für dieses Medium tun, damit auch meine Hörerbedürfnisse stärker berücksichtigt werden. Eine echte Schwäche, dass ich glaube, durch meine Meinung etwas zum besseren zu bewegen! Immerhin konnte ich der Fragerin in diesem Falle entlocken: „Wahrscheinlich haben Sie ja recht, aber ich muss mich an den Fragebogen halten.“

  3. War Frau Köhlers Stimme so sympathisch, dass Du 20 Minuten sinnarm am Telefon verbrachtest? Ich bin da viel radikaler. Ich höre mir zunächst an, was der Anrufer von mir will. Ist es Werbung, so lege ich mit den Worten „Sie verschwenden meine Zeit“ auf. Ist es eine Umfrage, so sage ich, dass ich kein Interesse habe und wünsche einen guten Tag. Die Frage „Warum nicht?“ kann der Anrufer schon nicht mehr stellen, weil ich bereits aufgelegt habe. Ich finde Telefonwerbung und -umfragen sind eine Seuche, die bekämpft werden muß.

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