Jan 082009
 

istoria_2.jpg Vorweg ein Bekenntnis: Ich bin ein „Revisionist“. Ich meine damit, dass unsere Geschichte – also die Gesamtheit an Erzählungen, Haltungen und Überzeugungen, mit denen wir Vergangenheit deuten und weitergeben – von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag weitererzählt und umerzählt werden soll. Ein gutes Beispiel dafür ist die Bewertung von Regierungsformen. Ich selbst bin von Kindheit an als überzeugter Anhänger der parlamentarischen Demokratie erzogen worden. Diese Bundesrepublik Deutschland, in der wir leben, habe ich immer für einen Staat gehalten, der den persönlichen Einsatz aller Bürger verdient. Ich habe deshalb beispielsweise auch ohne zu zögern den Wehrdienst in der Bundeswehr angetreten. Mit dieser Hochschätzung der demokratisch-freiheitlichen Verfassungen ging für mich immer einher eine Abwehr und Geringschätzung alles monarchischen Denkens. Ich empfand oft, dass der vielfach gebeutelte Kontinent Europa mit seinen gekrönten Häuptern – salopp gesagt – viel Unglück erlebt hat, vor allem im 19. Jahrhundert. Es gibt ja auch, statistisch gesehen, kaum eine Weltgegend, in der mit so wenigen Unterbrechungen Herrschaftsverbände und Staaten kriegerisch übereinander hergefallen sind, wie eben unser ach so gepriesenes Europa unter der Herrschaft seiner Fürsten – von dem immerwährend Kriege anzettelnden Karl dem Großen bis zu den Zeiten eines Kaiser Wilhelm II. und eines Zar Nikolaus II. Die vielgerühmten Menschenrechte sind erstmals durch die republikanischen Staaten anerkannt und durchgesetzt worden.

Aber auch hier gilt es, Licht und Schatten genauer zu verteilen! Grob vereinfacht muss man sagen: Nicht alles, was die Könige, Zaren und Fürsten ins Werk gesetzt haben, war schlecht. Eine rein moralische Sichtweise hilft beim Verständnis nicht immer weiter. Dieser Schluss drängt sich einem auch auf, wenn man aktuelle Schulbücher der Geschichte, wie sie heute in Russland verwendet werden, durchsieht. So wird sich zwar wohl kaum etwas Günstiges über die dreifache Teilung Polens in den Jahren 1772-1795 sagen lassen. Sogar die Teilungsgewinnlerin Maria Theresia klagte bereits 1772: „Treu und Glauben sind auf alle Zeiten verloren!“

Aber die an diesen Teilungen beteiligte Zarin Jekaterina II. wird in den neuesten Schulbüchern der Geschichte, die ich mir aus Russland nachhause mitgebracht habe, überwiegend als kraftvolle Reformerin gesehen – ja geradezu als eine Art Vorbild für entschlossenes Regierungshandeln hingestellt. Russland sollte nach dem Willen Jekaterinas ein moderner Rechtsstaat mit einer effizienten Verwaltung werden. Dieses Vorhaben findet zumindest in den von mir eingesehenen Büchern die erkennbare Zustimmung der Schulbuchverfasser. Das Titelblatt ihrer „Instruction für die zur Verfertigung des Entwurfs zu dem neuen Gesetz-Buche verordnete Commißion“ ist in dem neuesten, 2009 erschienenen Lehrbuch der Weltgeschichte von G.B. Poliak und A.N. Markova sogar zweisprachig abgebildet – und zwar in einer deutsch-französischen Ausgabe.

Auch hier ist die Botschaft dieses Bildes klar: Russland suchte damals unter Führung der Zarin den Anschluss an die gesamteuropäische Staatenwelt des aufgeklärten Absolutismus. In dieser Absicht konnte sich die Zarin aber nur bedingt durchsetzen. Auch sie war, nicht unähnlich einem demokratisch gewählten Regierungschef, auf Zustimmung angewiesen – Zustimmung vor allem des Adels, den sie nur durch freigebige Privilegien, etwa durch Landgewinne, stillstellen konnte. Diesem Zwecke mochte auch die Einverleibung der polnischen Ländereien dienen.

Nationale Erwägungen spielten damals im Kalkül der Herrscher noch keine wesentliche Rolle. Jekaterina, die Bewundrerin Voltaires,  sah sich ebensowenig als „Russin“ oder „Deutsche“ wie sich Friedrich II. als einen „Deutschen“ betrachtete. Man dachte und handelte in Begriffen der dynastischen Macht und der rationalen Steuerung von Herrschaftsverbänden.

In den Begriffen einer vorwiegend moralischen Politikauffassung wird man der Verurteilung der polnischen Teilungen, wie sie die Zeitgenossin Maria Theresia und natürlich die Polen selbst ausgesprochen  haben, unbedingt zustimmen! In pragmatischer Hinsicht wird man aber versuchen müssen, das Machtkalkül, das dahinter steckt, zu verstehen. Und man wird der Zarin den Willen zur „Modernisierung“ eines riesigen Reiches nicht absprechen können.

Genau unter diesem Blickwinkel – Modernisierung, Schaffung eines Rechtsstaates, Durchsetzung einer effizienten, nicht korruptionsanfälligen Staatsverwaltung durch konsequente Reformen – genießt die „Deutsche auf dem Zarenthron“ heute offenkundig in der an den russischen Schulen gelehrten Geschichte hohes Ansehen.

Hier sind zwei Seiten aus dem genannten Schulbuch mit dem Abdruck der Instruction:

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