Jan 182009
 

„Die Täter sind unter uns.“ Immer wieder höre ich diesen Satz von denen, die den verschiedenen Diktaturen Europas entronnen sind. Und noch unverblümter legt Helmut Schmidt den Finger in diese Wunde. Er schreibt auf S. 80 seines Buches „Außer Dienst“:

Sieht man von wenigen rühmlichen Ausnahmen ab – ich nenne an erster Stelle Kurt Schumacher, Konrad Adenauer und Theodor Heuss -, bestand die erste Generation der deutschen Nachkriegspolitiker zu einem großen Teil aus ehemaligen Nazis und ehemaligen Mitläufern.

(Helmut Schmidt: Außer Dienst. München 2008)

Das darf doch nicht wahr sein – fast alle die Mörder und Henker kommen ungeschoren davon! So dachte ich als Jugendlicher und stritt herum mit denen, die anderer Meinung waren. Ältere erwiderten mir: „Es war nicht möglich, die gesamte Funktionselite auszutauschen. Verwaltung, Polizei, Justiz und Politik wären völlig zusammengebrochen, wenn man alle aktiv an schwersten Verbrechen Beteiligten aus dem Dienst entfernt hätte.“ Und so galt in beiden deutschen Staaten und in Österreich: Die Mörder sind unter uns.

Heute muss ich ernüchtert zur Kenntnis nehmen: Wenn ganze Staaten durch verbrecherische Regierungen gekapert werden, dann kann die juristische Aufarbeitung all der mit staatlicher Deckung begangenen Verbrechen nie zur Gänze gelingen. Sie erfasst sogar immer nur einen verschwindendenTeil der Verbrechen – die meisten Täter kommen ungeschoren davon, ja, da sie ein meist gut integrierter Teil des herrschenden Systems waren, werden sie üblicherweise sogar materiell besser dastehen als die meisten ihrer überlebenden Opfer. Das finde ich empörend, in mir sträubt sich alles gegen diesen Befund … aber ich muss ihn zur Kenntnis nehmen. Soll denn alles unter einem großen Stein begraben werden – ähnlich dem Felsblock vor der Lubianka in Moskau „Den Opfern des Stalinismus“? Nein – wir haben die Erinnerung, wir haben die politische und historische Aufarbeitung. An dieser gilt es weiterzuarbeiten. Und man kann mit denen sprechen, die noch einmal davongekommen sind, die Zeugnis ablegen können.

Aber die juristische Aufarbeitung wird kaum mehr als ein Tropfen in den Ozean des Leidens sein.

Auch der tschechische Außenminister Schwarzenberg äußert sich im Tagesspiegel ähnlich. Er entwirft – endlich!  – eine Vision von der EU, die alle im engeren Sinne europäischen Nationen umfassen soll – vor allem die Länder des Balkans. Darüber hinaus mahnt er, den vernachlässigten Dialog mit Russland noch bewusster zu pflegen. Ich stimme ihm in beiden Forderungen unbedingt zu und zitiere:

„Mein Traum: Russland als Partner Europas“
Sind Sie sicher, dass die anderen Europäer, genauer die Westeuropäer dafür Verständnis aufbringen? Einerseits gibt es die Furcht vor der Überdehnung der EU durch weitere Mitglieder. Und andererseits gibt es Empfindlichkeiten. Die Niederlande machen zum Beispiel Fortschritte gegenüber Serbien von der Auslieferung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Ratko Mladic abhängig.

Ich glaube, die jetzige serbische Regierung bemüht sich ehrlich um Lösungen. Und wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, wie Netzwerke alter Kollegen jahrelang ihre Kumpane geschützt haben. Keine Nation kann behaupten, dass sie sich nicht mit Verbrechen befleckt hat. Und jetzt, bitte sehr, wie viele von unseren eigenen Tätern, mein eigenes Land nicht ausgeschlossen, ist es gelungen, zu bestrafen? Eine relativ minimale Zahl. Der Umgang mit diesem Problem scheint mir bis zu einem gewissen Grad eine Ausrede, weil man den Balkan nicht reinnehmen will. Man muss die Sache auch mal beim Namen nennen.

Dieses Europa, dessen Präsidentschaft Sie jetzt wahrnehmen, ist zum guten Teil das Ergebnis des großen Umbruches von 89/90, der ja auch Sie selber in die Politik gespült hat. Gehen wir mit dieser Zeit richtig um? Wir werden ja in diesem Jahr die zwanzigste Wiederkehr dieser Epochen- Zäsur mächtig feiern.

Wir haben sehr viel Gutes geleistet. Die Erweiterung Europas oder die langsame Aufnahme ganz Europas in die Gemeinschaft war eine Großtat. Aber wir haben auch große Fehler gemacht. Einer davon war, dass wir vor allem in den 90er Jahren nicht mehr mit Russland gesprochen und es vernachlässigt haben.

Und in Bezug auf das neue Europa selbst? Wir haben heute in Polen und in Ungarn wie auch in Ihrem Land eine sehr angespannte Lage, zum Teil mit populistischen Tendenzen, die besorgniserregend sind.

Das bestreite ich gar nicht. Aber vergleichen Sie die Situation nach 1989 in diesen Ländern mit der nach 1945 in Westeuropa. Wer weiß noch, wie instabil die Verhältnisse in Italien waren? Und in Frankreich – bis de Gaulle kam? In Spanien und Portugal gab es Diktaturen Also, tun wir nicht so, als ob die Westeuropäer damals so viel besser waren. Nein, bis zu einem gewissen Grad ist das eine sehr ähnliche Entwicklung. Und was die Fortdauer kommunistischer Netzwerke betrifft, so kann ich mich gut daran erinnern, wie in Österreich – wir haben damals dort gelebt – noch lange Zeit nach dem Krieg das Netzwerk der ehemaligen NSDAP tadellos funktioniert hat.

 Posted by at 20:45

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