Die „Amtliche Information zum Volksentscheid über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion“ liegt vor mir auf dem Schreibtisch. Gleich daneben liegt mein Exemplar des Korans, in dem ich regelmäßig lese, heute etwa die Sure 22.
In der Klasse meines Sohnes gibt es zwei Schüler christlichen Bekenntnisses, alle anderen stammen aus „moslemischen Ländern“, und ich gehe mit großer Gewissheit davon aus, dass sie Moslems sind. Zumal ja nach muslimischer Auffassung alle Menschen als Moslems geboren werden – es aber aus Sicht des Islam nur zum Teil auch wahrhaben wollen.
Ich studiere die Broschüre genau. Meinen Eindruck von der Broschüre formuliere ich in Anlehnung an Sure 22, 19: Das sind zwei Streitparteien, die miteinander über den rechten Weg zu einem guten Miteinander streiten. Beide Seiten können teils gute, teils unlogisch-windschiefe, teils verstiegen-abenteuerliche Argumente für ihre Sache ins Feld führen. Freiheit, Miteinander, Solidarität, gemeinsame Werte – beide Seiten berufen sich auf diese Begriffe. Dass aber Pro Reli behauptet, mit dem staatlichen Religionsunterricht fundamentale Freiheitsrechte zu verwirklichen – „Freiheit statt Scheuklappen“ – halte ich für eher abwegig! Denn keiner wird behaupten, dass die USA ein Hort der religiösen oder politischen Unfreiheit seien, nur weil dort jeglicher Religionsunterricht an staatlichen Schulen verboten ist.
Wie gespannt war ich zu erfahren, wie Pro Reli e.V. die Vertreter der Religion der Mehrheit in meiner Schule, nämlich die Moslems, einbeziehen würde! Am Umgang mit der muslimischen Schülermehrheit entscheidet sich für mich als Vater Sinn und Unsinn dieser Initiative. Denn die katholische und die evangelische Kirche, die jüdische Gemeinde, ja selbst der französische Staatspräsident werden bereits als Unterstützer von Pro Reli in Anspruch genommen.
Wie enttäuscht bin ich, feststellen zu müssen, dass keine einzige muslimische Stimme in der Broschüre zu Wort kommt! Kein Moslem meldet sich, weder bei den Befürwortern noch bei den Gegnern des Gesetzentwurfes. Das heißt, die entscheidende Herausforderung für unsere Stadtgesellschaft, nämlich die Einbindung der muslimischen Kindermehrheit in vielen Schulen, wird nicht angenommen. Ich weiß also nicht einmal im Ansatz, was die Schülermehrheit in der Klasse meines Sohnes unter staatlicher Aufsicht zu hören bekommen soll.
Verzeihung, mit Verlaub: Das ist mir alles zu kurz gesprungen.
Und was die gepriesene Freiheit zum Religionsunterricht angeht: Die jüdische Tora, die christliche Bibel, der Koran enthalten zahlreiche Aufrufe, in denen die Unterwerfung des Einzelnen unter ein verkündetes, göttliches Gesetz verlangt wird. Auch hierzu schweigen die Initiatoren sich aus. Wie soll man denn mit den Traditionen der Unfreiheit in den großen Religionen umgehen? Ich höre die Antwort: Schweigen!
Wie sehen uns die anderen? Schon beim Volksbegehren über den Flughafen Tempelhof hatten wir – unter dem Datum 26.04.2008 – in diesem Blog eine überregionale Presseschau angestellt und kamen zu dem Schluss: Die auswärtige Presse macht sich über uns Berliner lustig, nimmt uns einfach nicht ernst. Sobald über Berliner Landespolitik geschrieben wird, geraten die Auswärtigen in einen ironischen Tonfall, ob nun FAZ, Süddeutsche, ZEIT, Economist – so als wäre die Berliner Landespolitik nur ein leicht komischer Schaukampf um Dinge, die eigentlich nicht weltbewegend sind, bei denen man aber immerhin die wirklich drängenden Probleme der Stadt so herrlich vergessen kann.
Der britische Economist widmet der Auseinandersetzung um Pro Reli am 28. März 2009 auf S. 34 immerhin fast eine ganze Seite. Erneut verfällt er in einen leicht amüsierten Tonfall, man hört das Kopfschütteln über so viel Erbitterung in einem Kulturkampf der etwas anderen Art heraus:
The battle lines are not sharp. Stephan Frielinghaus, a Protestant pastor, supports ethics classes as a space where different traditions can learn to live together. Troubled by what he sees as Pro-Relis demagogic campaign, he has joined a pro-ethics movement. Berlins ruling coalition of Social Democrats and the Left Party is anti-Reli, but some Social Democrats are pro, including the foreign minister, Frank-Walter Steinmeier.
What everyone shares is an obsession with Muslims, who account for over half the students in parts of the city. The ethics course is partly meant to snuff out incipient violent radicalism. But it leaves many children learning the Koran from teachers who have little stake in German society. Better, says Pro-Reli, to bring it into school, where German-speaking teachers can impart Islam under the states watchful eye.
In der heutigen Süddeutschen Zeitung meldet sich auf S. 38 Hartmut von Hentig zu Wort. Er fordert, die Schulen sollten sowohl Ethik/Philosophie als auch Wissen über Religion als wesentlichen Bestandteil der Unterweisung vermitteln. Unter dem Titel „Eine Wahlfreiheit, die in die Irre führt“ fordert er: „Religionsunterricht und Philosophie und deren Teildisziplin Ethik können nicht eines für das andere eintreten. Es muss sie beide geben, weshalb für Ethik und Religion verschiedene Unterrichtszeiten vorgesehen sein müssen.“ Abschließend bezeichnet er den „seltsam eifrigen Streit über den Religionsunterricht“ als „ziemlich unnötig“.
Was ist meine Meinung? Ich glaube zutiefst, dass die Religionen ein kulturelles Phänomen allerersten Ranges sind. Nimmt man Judentum und Christentum aus dem hinweg, was Europa ausmacht, so ist Europa nicht mehr Europa. Hat man die Texte der Bibel nicht verstanden, so hat man auch nicht verstanden, wie wir Europäer denken, fühlen und handeln. So ist etwa eine Partei wie Die Linke, so ist die Glaubensgemeinschaft des Marxismus nicht denkbar ohne einen Rückgriff auf die biblischen Gebote der Solidarität mit den Schwachen und der Gleichheit. Die Partei Die Grünen/Bündnis 90 wiederum, mit ihrem durch und durch moralisch-sittlich geprägten Politikverständnis, wird erst begreifbar, wenn man die biblische Erzählung von der Welt als dem Menschen anvertraute Schöpfung kennt, wenn man den Bündnisgedanken ernst nimmt.
Umgekehrt scheint die CDU zu ihrem C im Parteinamen kein echtes Verhältnis mehr zu haben. Sie scheint das „C“ durch das „B“ ersetzt zu haben. „B“ wie Bürgerlich. Begrenzt. Wo sind die leidenschaftlichen Bemühungen um die christlichen Tugenden der Demut, der Bescheidenheit, der Armut im Geiste, der Nächstenliebe? Die christliche Bibel ist doch ein Buch, das von der ersten zur letzten Seite mit Migrationserfahrungen gespickt ist – warum entdeckt die CDU nicht diesen riesigen Schatz? Warum lässt sie ihn so achtlos links liegen? „Ehre und achte den Fremden, denn du bist selbst einer gewesen!“ So steht es schon bei Moses. Ich bin fest überzeugt: Das Christentum ist die Religion der Migranten schlechthin – beginnend von Jesus Christus, der ein jüdischer Wanderer war.
Solidarität mit den Schwachen, Gleichheit aller Bürger, Schutz der Umwelt – das alles sind Grundprinzipien der Politik, die erst durch die orientalischen Offenbarungsreligionen in die europäische Geschichte gelangt sind. Der griechisch-römischen Antike sind sie – so meine ich – vor Ankunft des Judentums und des Christentums fremd.
Darüber hinaus meine ich: Hat man den Koran nicht achtsam gelesen, wird man auch keine sinnvolle Politik in Afghanistan oder Pakistan machen können.
Mein Fazit: Es wäre wunderbar, wenn durch die Initiative Pro Reli ein echtes Gespräch über Religionen und Politik, vor allem über den deutschen Islam, über das Gemeinsame und Trennende, über Freiheit und Unfreiheit in Gang käme! Ich vermisse dieses ernsthafte Gespräch schmerzhaft bei der Auseinandersetzung um den Religionsunterricht.
Schließen wir doch unsere kleine Betrachtung mit Sure 22, Vers 19 ab – und nehmen wir diese Sure als Aufruf zum wechselseitigen Verstehen. Denn niemand – weder die Befürworter noch die Gegner der Gesetzesinitiative – will der anderen Partei Gewänder aus Feuer anlegen, niemand schüttet gern heißes Wasser über seinen Nächsten aus. Wie stehen die Muslime Berlins dazu? Fragen über Fragen!
Das sind zwei Streitparteien, die miteinander über ihren Herrn streiten. Für diejenigen, die ungläubig sind, sind Gewänder aus Feuer zugeschnitten; über ihre Köpfe wird heißes Wasser gegossen.
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