Apr 152009
 

13042009.jpg Erneut zitieren wir heute aus dem Koran. Heute aus Sure 22, Vers 11. An diesen Vers musste ich gestern nacht denken. Ich fuhr auf dem Rad die Stresemannstraße nachhause. Es war ein herrlicher lauer Sommerabend, ein letztes Spätlicht hielt sich noch in den Straßen. Plötzlich zuckte ich zusammen – mein Lenker schlug aus, ich zitterte. Dann erst merkte ich: Aus einem knapp an mir vorbeifahrenden Auto hatte mich ein Mann angebrüllt: HU! Sehr laut, völlig unvorbereitet, so plötzlich, dass ich erst erschrak und zusammenzuckte, fast stürzte, und dann erst bemerkte: aus dem offenen Fenster eines vorbeifahrenden Kleinwagens heraus lehnte ein junger Mann, lachte über mein Erschrecken.

Ich fing mich, stürzte nicht. Dann erwachte in mir stechend, heiß und unbeugsam der Wunsch nach Vergeltung. „Na, dich knöpf ich mir vor!“ Mein Wunsch nach Vergeltung verlieh mir Kraft, an der nächsten Ampel, vor der SPD-Parteizentrale hatte ich das Auto eingeholt.  Ich klingelte laut, rief zornig: „Hey, ihr da! Was sollte das da sein!“ Der Beifahrer kurbelte das Seitenfenster herunter: „Bitte, wie können wir Ihnen helfen?“ „Was hast du mich eben angebrüllt, ich wäre fast umgefallen!“, rief ich.

„Das war ich nicht!“, sagte der junge Mann und wandte sein Gesicht in die andere Richtung. „Aber ich erkenne dich, ich erkenne euer Auto wieder“, erwiderte ich. „Warum habt ihr das gemacht? Ich möchte wissen, was in euch vorgeht!“ „Wir waren das nicht, Sie müssen sich täuschen!“, erhielt ich als Antwort.

Und schon begannen in mir die Zweifel aufzusteigen. Hatte ich mich getäuscht? Vielleicht waren sie es doch nicht? Ich fasste einen Plan: „So, dann fahren Sie mal rechts ran – Papiere bitte, Fahrzeugschein und Führerschein!“ Und die List wirkte.

„Natürlich, wir waren es“, sagte jetzt der Fahrer. Er schaltete die Warnblinkanlage an und stieg aus: „Hey, mein Kumpel hat Stoff genommen, der ist high, der weiß nicht, was er sagt. Klar, er war es. Ich entschuldige mich für meinen Freund. Ich lebe schon seit 28 Jahren hier in Berlin, ich bin Deutschtürke. Ich bin mit einer Deutschen verheiratet. Ich will keinen Ärger mit der Polizei.“

Der Typ war mir sympathisch. Mein Zorn war schon verraucht. Ich verzieh ihm, wir verabschiedeten uns – als Freunde, wir gaben uns die Hand, und ich bin sicher, wir würden uns bei einem Wiedersehen gut verstehen. Dass er sich im Namen seines Freundes, der gerade auf auf Rauschgift war, entschuldigte, hat mich beeindruckt. Allerdings wird der Brüller, der mich fast zum Stürzen gebracht hätte, dadurch in seinem Handeln eher bestärkt werden. Denn er weiß: Es findet sich immer einer, der die Haftung übernimmt. Man kommt immer davon.

Was sage ich im Nachhinein dazu?

Ich habe immer wieder mit jungen Männern gesprochen, die was ausgefressen haben, mit den Steineschmeißern, mit Rauschgiftsüchtigen, mit den Jungs, die etwa ins Prinzenbad über den Zaun einsteigen. Was mir immer wieder auffällt: Sie wenden das Gesicht ab, sobald man sie anspricht, wie es im Koran so schön heißt. Wenn man sie fragt: „Warum machst du das? Mach das nicht!“, dann kommen immer Antworten wie: „Ich war das nicht“, oder: „Wir müssen das machen, wir haben kein Geld“. Jede persönliche Verantwortung wird abgeleugnet, es wird irgendeine Lüge aufgetischt, der Blick wandert in andere Richtungen. Sie verweigern letztlich die Antwort. Als Einzelpersonen kriegt man die Jungs so kaum zu fassen. Sie verweigern jede persönliche Verantwortlichkeit, verstecken sich im Wir. Sie werden nie sagen: „Ja, das habe ich gemacht.“

Ich halte diese Grundhaltung für verheerend. So werden diese jungen Leute nie lernen, zu sich zu stehen. Ein gesundes Selbstbewusstsein kann so nicht entstehen.

Was hören diese jungen Männer in der Schule, in den Familien? Etwa, dass sie arme Migrantenkinder sind, denen die böse, hartherzige Mehrheitsgesellschaft keine Chancen einräumt?

Sind sie arm? Nein, solange man mit einem Auto ziellos durch die Gegend kurvt, harmlose Radfahrer erschreckt und Rauschgift konsumiert, ist man nicht arm. Sind sie Migranten? Nein, sie sind hier in Berlin geboren und aufgewachsen, es sind unsere Kinder, es ist unsere nächste Generation. Sie sprechen einwandfreies Kreuzberger Türkdeutsch als Erstsprache.

Ist die deutsche Mehrheitsgesellschaft böse? Nein, denn diese Kinder aus türkischen und arabischen Familien sind bereits die Mehrheit in unseren Kreuzberger Regelschulen. Diese Jugendlichen sind nicht böse. Sie sind nur vollkommen verwöhnt und verhätschelt, orientierungslos, alleingelassen. Die deutschen Familien wenden ebenfalls das Gesicht ab, ziehen weg.

Die jungen Türken und Araber der dritten und vierten Generation  sind das Gegenstück zu einer anderen Gruppe deutscher Jugendlicher, die derzeit wieder verstärkt Autos anzünden, Läden einschmeißen, Steine schmeißen, Polizisten angreifen, Menschen zu vertreiben suchen. Die deutschen sogenannten autonomen Jugendlichen einerseits und die türkisch-arabischen sogenannten muslimischen Jugendlichen andererseits halten sich streng voneinander getrennt, sie haben nichts miteinander zu tun. Sie leben die Spaltung, auf die die deutsche Gesellschaft zuschreitet, bereits vor. Aber sie verbindet doch eine gemeinsame Grunderfahrung: „Mach, was du willst, hier in Berlin kannst du dir alles erlauben – aber lass dich nicht erwischen.

Und wenn sie dich erwischen, leugne alles ab.“

Über diese Haltung sagt der Koran in Sure 22, Vers 11:

Und unter den Menschen gibt es manch einen, der Gott nur beiläufig dient. Wenn ihn etwas Gutes trifft, fühlt er sich wohl dabei. Und wenn ihn eine Versuchung trifft, macht er kehrt auf seinem Gesicht. Er verliert das Diesseits und das Jenseits. Das ist der offenkundige Verlust.

 Posted by at 23:20

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