Geschätzte 31,9 Prozent der gesamten Wirtschaftsleitung unserer Volkswirtschaft, also 754 Milliarden Euro, sind 2009 laut heutigem Berliner Tagesspiegel, S. 2, als staatliche Sozialleistungen erbracht worden. Im Bundesdurchschnitt leben 8 Prozent der Menschen von Hartz IV, in Berlin sind es 17 Prozent. In meiner Wohngegend sind es noch wesentlich mehr. „Wieso soll ich wegziehen? Ich habe hier doch alles!“ So hörte ich es mit eigenen Ohren von einem Kreuzberger Arbeitslosen, dem eine Arbeit in seinem erlernten Beruf im Saarland angeboten worden war. Wir lernen: Niemand muss heute in Deutschland der Arbeit hinterherziehen.
Die 80 oder 100 Euro, die eine gute Arbeitshose kostet, nehmen sich demgegenüber bescheiden aus. Und doch schlagen sich die deutschen Sozialgerichte Tag um Tag mit derartigen Fragen herum wie der folgenden: Darf ein gelernter Konstruktionsmechaniker eine angebotene Arbeit im Garten- und Landschaftsbau mit der Begründung ablehnen, er habe nur zwei Hosen und die dritte Hose müsse ihm deshalb vom Staat gestellt werden, und da ihm der Staat keine dritte Hose stelle, brauche er auch nicht die Arbeit anzunehmen? Jeder Sozialrichter kann eine bunte Fülle solcher Fälle erzählen! Alle wissen: Die Fälle schwimmen nicht davon, nur weil das Bundesverfassungsgericht das ganze Hartz-IV-System für verfassungswidrig erklärt hat! Im Gegenteil! Lustige, ja bühnenreife Beispiele dafür finden sich heute unter diesem Titel in der FAZ auf S. 3.
Ich meine: Da das Gericht eine noch stärkere Einzelfallprüfung angeordnet hat, statt einigermaßen großzügig berechnete Pauschalierungen zu unterstützen, wird die Klagenflut sogar noch zunehmen! Die Arbeits- und Sozialrechtsanwälte können sich schon mal ins Fäustchen lachen – sie bekommen zusätzliche Arbeit in Hülle und Fülle. Ihnen droht weit über ihr Erwerbslebensende hinaus keine Arbeitslosigkeit. Sie können lachen und klagen, immer nur klagen und lachen – und zwar auf Kosten des Staates. Denn die Verfahrenskosten vor dem Sozialgericht tragen WIR.
Was mir hier missfällt, ist der Einwegbetrieb: Der Staat wird nur noch als Anspruchsgegner wahrgenommen. Dass der demokratische Staat letztlich nur vom Willen und vom Leisten der Bürger zusammengehalten wird, mag fast niemand wahrhaben.
Fast niemand fragt: Was kann im Gegenzug für das soziale Netz die Gemeinschaft von den einzelnen verlangen? Ich sage: Fast niemand, denn es gibt durchaus noch Menschen, mutige Bürgerinnen und Bürger unseres Staates, wie etwa die Neuköllner Richterin Kirsten Heisig, die als Privatperson direkt auf die Hartz-IV-Familien zutritt und sagt: „Ihr müsst mehr für eure Kinder tun. Der Staat, die Gerichte können es nicht schaffen. Schickt eure Kinder mindestens in die Schule! Gebt ihnen was zu essen.“
Der fürsorgliche Sozialstaat soll seine Untertanen, seine Mündel beglücken. Was für ein überholtes Staatsverständnis! Diese Melodie höre ich allzu oft. Für das antiquierte, vordemokratische Verständnis vom Staat, wonach der Staat in Gestalt des Monarchen „Anspruchsgegner“ oder Klageempfänger ist, der die Untertanen beglücken soll, sei hier der Anfang aus Lessings Emilia Galotti zitiert:
Der Prinz(an einem Arbeitstische voller Briefschaften und Papiere, deren einige er durchläuft). Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! – Die traurigen Geschäfte; und man beneidet uns noch! – Das glaub ich; wenn wir allen helfen könnten: dann wären wir zu beneiden.
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