In der geltenden türkischen Verfassung ist der Vorrang des ewigen unteilbaren türkischen Staates vor den Rechten der Einzelnen deutlich festgeschrieben. Die Rechte des einzelnen Staatsbürgers sind dem Ewigkeitsrang des namentlich in der Verfassung erwähnten unsterblichen Staatsgründers Kemal Atatürk nachgeordnet. Hieraus ergeben sich für die Bürger eine ganze Reihe von Verpflichtungen, die ausdrücklich auch eine Einschränkung der Grundrechte ermöglichen.
Erst kürzlich las ich im Artikel 4 der italienischen Verfassung: „Jeder Bürger hat die Pflicht, gemäß eigenem Vermögen und eigener Entscheidung eine Tätigkeit oder ein Amt auszuüben, das zum materiellen und geistigen Fortschritt der Gesellschaft beiträgt.“ Die italienische Verfassung enthält also neben dem Recht auf Arbeit auch eine Pflicht zur „gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit“.
Das deutsche Grundgesetz kennt demgegenüber weder eine Leistungspflicht des einzelnen gegenüber der Gesellschaft noch eine Arbeitspflicht, wie sie etwa Rosa Luxemburg forderte und die sozialistischen Staaten auch umgesetzt haben. Die deutsche Verfassung schützt vornehmlich die Rechte des einzelnen, und sie regelt zweitens das Verhältnis der staatlichen Organe untereinander. Der Staat hat aber gegenüber den einzelnen fast keine unmittelbar durchsetzbaren verfassungsrechtlichen Ansprüche. Der Staat ist also laut Grundgesetz im Wesentlichen Wahrer und Hüter der Grundrechte des einzelnen, und in diesem Sinne ist er auch „Anspruchsgegner“ des einzelnen. Er ist aber kein „Anspruchsteller“ für den einzelnen. Die Ansprüche des Staates an den einzelnen Bürger ergeben sich nur vermittels einzelner Gesetze, die keinen Verfassungsrang haben!
Die sozialistischen Staaten hatten – soweit ich weiß: alle – die Arbeitspflicht in ihren Verfassungen.
Wenn Guido Westerwelle also unserer Hartz-IV-Debatte sozialistische Züge bescheinigt, so dürfte er fehlgehen. Gerade die sozialistischen Staaten haben es nicht geduldet, dass Bürger sich den Ansprüchen und den Zwängen des diktatorisch geführten Staates entzogen. Dass ganze Familien sich über Generationen hinweg auf die Alimentierung des Staates verlassen, das war meines Wissens im Sozialismus kaum denkbar.
Zwar gab es auch im Sozialismus Nichtstuer, die sich auf ihrer Stellung ausruhten, aber diese fanden sich kaum in den „unteren“ Schichten des Volkes.
Ich meine eher, dass unsere Diskussion sich in Richtung auf den Staat als eine wohlwollende Versorgungseinrichtung hinbewegt. Noch keine Versorgungsdiktatur wie in vielen anderen außereuropäischen Ländern üblich. Allerdings besteht die Gefahr der Diktatur, sobald die Verteilungskämpfe an Heftigkeit zunehmen. Genau das hat sich wiederholt in der Türkei ereignet! Das Militär übernahm in der Türkei wiederholt die Macht, weil die Verteilungskämpfe anders nicht zu regeln waren.
Woher kommen denn die 751 Milliarden Euro, die der deutsche Staat als Bund, Länder und Gemeinden in 2009 als Sozialleistungen ausgereicht hat – diese 31% der wirtschaftlichen Gesamtleistung? Genau das fragt Westerwelle. Diese Frage ist zulässig!
Der Staat wird zunehmend als Hüter und Garant des individuellen Wohlstands angesehen. Gerade die Debatte um die Opel-Rettung lieferte vortreffliche Beispiele.
Neueste Beispiele liefert die Eisschicht-Debatte in Berlin. Wie von uns in diesem Blog scherzhaft vorgeschlagen, ist jetzt eine Art paramilitärische Rapid Ice Hacking Reaction Force eingerichtet worden. Freunde, ich meinte das als Witz! Aber es gibt sie jetzt. Sie hat sogar – wie vorgeschlagen – einen englischen Namen. Das klingt einfach soo gut! Sie heißt Task Force. Das berichtete gestern der Tagesspiegel:
Die Justizverwaltung will zudem verstärkt Häftlinge zum Eisklopfen einsetzen, vor landeseigenen Gebäuden soll künftig eine Task Force aus Pförtnern und Hausmeistern ackern.
Also – der Staat wird zunehmend als eine Art Eishack- und Watteschicht gegen alle Fährnisse des Daseins in Anspruch genommen. Man denke nur an das beheizte Schwimmbadwasser im Kreuzberger Prinzenbad. Das gab es in meiner armen Kindheit einfach nicht. Aber in Berlin ist es Standard. Ist Berlin eine so reiche Stadt? Offenkundig ja!
Ich halte das für schlecht. Denn diese Watteschicht ist teuer, und sie lähmt auf Dauer die Kräfte des einzelnen. In einem Watteanzug kann man schlecht laufen, schlecht arbeiten, schlecht ackern.
Der Staat soll alle Kümmernisse von den Bürgern fernhalten. Als das schlimmste wird weithin eine Minderung des kollektiven Wohlstands, des individuellen Reichtums gesehen. Niemand traut sich den Bürgern zu sagen: „Wählt mich, dann müsst ihr mehr für euer Glück tun. Ihr müsst mehr arbeiten.“
Der Staat ist der Anspruchsgegner, der Kümmereronkel, der zahlen soll und Erfolg für den einzelnen verbürgen muss. Das ist weder Sozialismus noch Kapitalismus. Das ist – der dritte Weg! Hurra!
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