Jul 252011
 

Noch vor wenigen Tagen schloss ich auf dem Campingplatz eine locker-flapsige 3-Tages-Bekanntschaft mit zwei Norwegern. Mit den Norwegern geht es mir ähnlich wie mit den Italienern, den Türken, den Arabern, den Japanern, den Muslimen, den Badensern und den Mecklenburgern: Nach wenigen Worten im Gespräch schon entdecken wir erste Gemeinsamkeiten. Hier also: unsere Liebe zum naturnahen Mischwald! „Eure Wälder in Deutschland entwickeln sich prachtvoll – weg von der Monokultur, die bei uns in Norwegen leider noch vorherrscht, hin zum Mischwald! Ihr Deutschen seid uns Norwegern voraus!“

„Ja“, erwiderte ich, „schaut euch doch mal den Rostocker Stadtwald an – vorbildlich: mehr naturwüchsige Buche, Eiche, Birke, weniger Fichte – dahin muss es laufen!“

Ich kramte im Scherz mein „Taler du Norsk?“ hervor, sie lachten und antworteten mir – auf Englisch. O je!

Um so schlimmer trifft mich das verheerende Verbrechen, das das ganze Land, ganz Europa heimgesucht hat!

Die Trauer über so viele vernichtete Menschenleben erfasst mich.

Was mich allerdings in meiner Trauer, meinem Mitgefühl  stört, ist, dass in Deutschland sofort wieder das Verbrechen bis zum Gehtnichtmehr politisiert wird. Man kann keinen Augenblick innehalten! Das hat mich und meine japanischen Freunde  schon bei dem Tsunami-Unglück gestört: es wurde nicht mit den Zehntausenden Opfern gefühlt, die in wenigen Augenblicken durch die verheerende Springflut ihre Angehörigen und ihr Hab und Gut verloren hatten, sondern sofort wurde gefragt: Was will uns Deutschen das japanische Atom-Unglück für die deutsche Innenpolitik mit auf den Weg geben? Die deutsche Atomdebatte stand bei der Berichterstattung in Deutschland von Anfang eindeutig im Vordergrund, nicht das Leiden des japanischen Volkes.

Eine ähnliche Gefahr sehe ich erneut in den deutschen Medien heraufkommen: Statt des Leidens der Opfer und ihrer Angehörigen gewahr zu werden, brechen die Medien sofort ohne jede Pause des Innehaltens eine Rechtspopulismus-Debatte vom Zaun. Fehlt es uns Deutschen so sehr an der Fähigkeit, mit anderen Menschen zu leiden?

Der Attentäter, wie der Attentäter von Oklahoma, Timothy McVeigh, ein eigenbrötlerischer, offenbar an Wahnvorstellungen leidender Einzelgänger, steht bei den deutschen Medien im Fokus. „Was will uns das Ganze für unsere innenpolitische Debatte sagen?“ Siehe beispielsweise Süddeutsche Zeitung, S. 3 heute. Sie widmet ihm gleich eine ganze Seite mit Riesenfoto: „Ihm gefällt die Vorstellung, wie er als Ein-Mann-Armee alle seine Feinde niedermäht.“  Die taz orakelt auf S. 1: „Der Attentäter kam aus der Mitte der Gesellschaft.“

Ich meine: Diese Überlegungen kommen alle zu früh. Jetzt ist es Zeit zu trauern, Zeit zusammenzustehen, sich auf Gemeinsamkeit, auf die Werte des Mitgefühls und der tätigen Hilfe zu besinnen.

Soll man jetzt Schlussfolgerungen ziehen aus der Tatsache, dass der Täter als Scheidungskind ohne Vater aufwuchs, dass er weder Frau noch Kind hat, bei der Oma lebte, dass er sich in rechtsradikalen Foren herumtrieb, dass er sich eine menschenverachtende, rassistische Ideologie zusammengesponnen hatte, dass er einen Bio-Bauernhof betrieb?  Nein. Jetzt nicht.

Die Handlungen und Worte der Norweger, angefangen vom Ministerpräsidenten Stoltenberg bis zu den Menschen auf der Straße, erzeugen in mir Trauer, aber auch größtes Mitgefühl und sogar Bewunderung.

Der Rostocker Mischwald in allen Ehren. Was gesellschaftlichen Zusammenhalt, Empathie und Taktgefühl angeht, seid ihr Norweger uns Deutschen offenbar voraus.

Bild: der Rostocker Stadtwald, mit dem Rad erfahren am 13.07.2011

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