Okt 032011
 

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Den Tag der deutschen Einheit beging ich würdig durch eine ausgedehnte Radtour von der Lutherstadt Wittenberg die Elbe entlang, dann einbiegend auf den Elbe-Seyda-Radweg und schließlich ausrollend auf einem Teilstück des Fläming-Skate bis zum Endpunkt Blönsdorf.

Noch vor 22 Jahren, als ich erstmals längere Touren durch die die damals noch bestehende DDR unternahm, kam es nicht vor, dass Unbekannte mich unterwegs grüßten. Es herrschte große Unbekanntschaft und auch eine gewisse Furchtsamkeit: Wie stark durften wir uns dem entfremdeten Teil unseres Landes öffnen?

Wie anders heute! Heute lachte die Sonne, und sehr viele Menschen grüßten uns von sich aus, wie auch wir wiederum von uns aus oft kleinere Gespräche mit anderen Ausflüglern begannen.

Das Hin- und Herdenken, das Hin- und Herfühlen zwischen Ost- und West-Europa, Ost-und West-Deutschland ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Es bedarf keiner Anstrengung mehr. Insofern scheint mir das Bild der antriebslos zwischen den beiden Ufern pendelnden Gierfähre ein denkbares Bild der gelungenen deutschen und der noch anzustrebenden europäischen Einigung: die Gierseilfähre lässt sich von der Strömung hin und her schwingen, sie erzwingt nichts, sondern folgt dem Wink der beiden Seil-Enden, die wechselweise verkürzt werden und das Gefährt so von Ufer zu Ufer bewegen.

Dass Städte wie Wittenberg, Schwerin, Halle oder Jena jetzt jederzeit ansteuerbar sind, erfüllt mich mit großer Freude. Und meine deutschen Volkslieder? Gehören uns ebenfalls allen. „Das sind doch alles Lieder, die wir in der DDR auch gesungen haben“, sagte mir kürzlich eine Bekannte.

Und sonstige Gemeinsamkeiten? Vor zwei Tagen sah ich den großartigen, tief bewegenden  Film Der Mann mit dem Fagott. „Ich habe Udo Jürgens sehr unterschätzt, wahrscheinlich, weil er ein Deutscher ist und auf Deutsch singt„, gestand ich kürzlich im kleinen Kreis. „Genau das hat ein Freund aus Sachsen auch gesagt!“, bekam ich zur Antwort.

Die Geringschätzung des Beliebten, des Volkstümlichen, des Eigen-tümlichen ist etwas typisch Deutsches, ein Grundübel vieler deutscher Intellektueller in Ost wie West, ein Übel, von dem ich selbst auch nicht frei bin. Wie oft ernte ich seltsame Blicke, wenn ich gestehe, dass ich die BILD ebenso wie die TAZ lese!

Udo Jürgens ist jedenfalls ein hervorragender, sehr gut ausgebildeter Musiker, und jedes der Worte, das er singt, „sitzt“ strahlend klar. Er ist ein Meister der deutlichen, der sinn-tragenden und doch locker sitzenden Artikulation. Udo Jürgens ist ein Vorbild an Humanität, an Heiterkeit und freundlicher Leidenschaft. Und er ist einer, der auf der Gierfähre der Geschichte steht und nicht wankt dabei, sondern lächelt und tröstet.

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Bild oben: die Gierfähre über die Elbe bei Elster
Bidl oben: das Amtshaus in Seyda, erbaut 1605

 Posted by at 22:10

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