Jul 262012
 

„Ich kann dich ja nicht leiden,
vergiß das nicht so leicht!“

In Siegfrieds schroffer, lachend gesungenen Rüge an seinen mütterlichen Vater, seine väterliche Mutter Mime steckt das ganze Bündel an Idiosynkrasie, an unbegründbaren Überempfindlichkeiten, welche periodisch aus dem Werk Richard Wagners – Fafners Schwefeldämpfen gleich – hervorzubrechen scheinen. Ich las heute vormittag die 1. Szene des 1. Aufzugs aus seinem Siegfried – was für eine großartige Studie über das Vorrecht des Sohnes, die ganze Elterngeneration ins Unrecht zu setzen!

Und genau dieses schroffe Sich-Absetzen der Söhne von den ungreifbaren, konturlosen Eltern sehe ich wieder und wieder bei Jugendlichen und jungen Männern, die der DDR und der Sowjetunion entschlüpft sind. Sie sind für einige Jahre wie Richard Wagners Jung-Siegfried: gewaltgeneigt bis zur Verrohung, selbstherrlich, undankbar, leidend an der tiefen Wunde der Elterngeneration, die durch den Zusammenbruch der kommunistischen Regime eine tiefe Legitimitätskrise erfahren hat.

In diesem Wagnerschen Lichte ist auch der Skandal um den russischen Bassbariton Evgenij Nikitin zu sehen.  Man könnte ihn auch eine künstliche Aufgeregtheit nennen.

Warum? Das Anbringen von Nazi-Symbolen war bei den Jugendlichen in der Sowjetunion und in der Ex-Sowjetunion ein Akt äußersten, rebellischen Ungehorsams gegenüber dem Sozialismus, wie er in der UdSSR und in vielen anderen europäischen Ländern herrschte – jener angebliche internationale, in Wahrheit nationale Sozialismus, der in der UdSSR ab 1917 bis mindestens 1953 nicht minder verlogen und verbrecherisch war als der Nationalsozialismus ab 1933 in Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern.
Nirgendwo gab es vermutlich außerhalb Deutschlands so viele Nazis oder „Hitleristen“ wie in der kommunistischen Sowjetunion und in der Ex-Sowjetunion, dem Bollwerk der „Stalinisten“. Dies ist ein heute weithin verleugneter oder vergessener Tatbestand.

Man sollte dem reumütigen Nikitin heute aus seinen Jung-Siegfried-Streichen keinen Strick drehen, sondern ihn singen lassen, zumal das  Bass-Bariton-Fach in Westeuropa abzusaufen droht. Es gibt darin zu wenig Nachwuchs. Den westeuropäischen Jung-Siegfrieden werden die Flügel, die Flausen und Bosheiten gestutzt und gestochen. Alles, was Sänger werden will, wird auf Höhe getrimmt.Das Böse, das Abgründige, das Bärenhetzerische wird eingehaust und glattgebürstet. Ein Sänger wie Nikitin wird da dringend gebraucht.

Also: Politiker will Nikitin nicht werden, lasst ihn singen.

Ihr müsst ihn ja nicht leiden können, vergesst das nicht so leicht!

Zitat:

Richard Wagner: Siegfried. Klavierauszug mit Text von Felix Mottl. C.F.Peters, Frankfurt a.M., o.J., S. 32

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