Jan 052013
 

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„Wir sind alle Mischlinge“ / hepimiz meleziz / diesen klugen Wahlspruch entnehme ich meinem gegenwärtigen Lesestoff, nämlich dem großartig-fesselnden Buch „Muslim Nationalism and the New Turks“ von Jenny White. Demonstranten hielten ihn 2008 hoch, um damit auszudrücken, dass auch Armenier, auch Kurden, auch Christen, auch Juden zur türkischen Nation gehören möchten und sich doch allzuoft zurückgewiesen fühlen, solange Nation nur durch die blutmäßige Abstammung oder durch die staatsprägende Religion definiert wird.

In der Tat, das Sich-Absperren gegenüber dem andersartigen Fremden, gegenüber dem Wandel führt allzu leicht in Erstarrung und Feindseligkeit. Angesichts der Ablehnung von unerwünschten Zuzüglern wie uns Schwaben dürfen wir schon daran erinnern: Auch wir Schwaben gehören zur deutschen Nation, wir Schwaben wollen ein Bestandteil der Berliner Stadtgesellschaft werden, durch Schaffen und Handeln wollen wir beweisen, dass wir es gut mit Berlin und den Berlinern meinen. Wir wollen nicht zu Unerwünschten erklärt werden.

Als 2- oder 3-jähriger Bub verlor Wolfgang Thierse, verlor seine Familie die Heimat. Das hinterlässt in der Seele jedes Menschen tiefe Verletzungen. Ein heimatvertriebener Schlesier wie Wolfgang Thierse könnte sich vor Augen halten, dass 1945 auch er und seine gesamte Familie wie Millionen andere Deutsche zu unerwünschten Menschen erklärt und aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie waren plötzlich fehl am Platze.  Ihre Leiden, die tiefen Traumata, die jeder Vertriebene lebenslang mit sich herumtragen muss, interessieren heute kaum mehr jemanden. Das haben mir jüdische, russische, polnische, deutsche, armenische Heimatvertriebene immer wieder erzählt. Das Thema der gewaltsamen Vertreibungen gilt in Deutschland, Polen und Tschechien als unerwünschtes Thema.  „Hier gehen wir jetzt nicht mehr fort“, „das ist aber jetzt endgültig unsere Heimat, die lassen wir uns nicht mehr nehmen“, „hier tragt ihr mich nur noch mit den Füßen voran hinaus“, „ich bin hier der letzte Heimatverbliebene“ … das sind ganz typische Sätze, wie ich sie von Heimatvertriebenen immer wieder gehört habe. Oft sprach ich mit deutschen Heimatvertriebenen aus Kasachstan, denen es besonders schmerzhaft war, wenn sie hier in Deutschland als Russen abgewiesen wurden – nachdem sie in den 30-er Jahren als Verräter abgestempelt und deportiert worden waren. Auch bei den Tscherkessen in der Türkei kann man diese Haltung des „Das ist jetzt unsere Heimat, hier gehen wir nicht mehr fort“ immer wieder finden.

Insofern bitte ich auch herzlich um ein wenig Verständnis für Wolfgang Thierse, der offenkundig mit persönlichen Überfremdungsängsten nicht zurande kommt. Er hat sich gehen lassen, er hat aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Und dafür, für dieses offene Eingeständnis eigener tiefsitzender Ängste sollten wir ihm dankbar sein. Die Überfremdungsängste und das Festklammern an der reinen, unverfälschten Prenzlauer-Berg-Heimat  kann ich mir nur mit dem unbewältigten frühkindlichen Verlust der schlesischen Heimat erklären. Aber Überfremdungsängste sind nichts Böses, Angst als solche ist nichts Böses! Doch sollten wir ihrer Herr werden. Ich selbst habe selbstverständlich auch schon mal Überfremdungsängste gespürt – und zwar als ich bei Versammlungen in der Schule feststellte, dass ich der einzige deutschsprachige Vater war, während rings um mich herum munter Arabisch, Kurdisch und Türkisch geschwätzt wurde. „Ich bin hier an dieser Kreuzberger Grundschule offenbar der letzte verbleibende Vater mit deutscher Muttersprache, die kurdischen und türkischen Mütter sollen nach so vielen Jahrzehnten in Berlin endlich mal Deutsch lernen, wir sind schließlich hier in Deutschland“ — schoss es mir durch den Kopf. Ich tat den kurdischen, türkischen und arabischen Müttern in Gedanken Unrecht, wie sich später auf schrecklichste Weise bewahrheiten sollte.

Reinheit, unverfälscht-unschuldige Natur, unbeschmutzte jungfräuliche Heimat gibt es nicht! Sie ist ein Traumgespinst, dem linke und rechte Romantiker, Ökofundis, Nationalisten jeder Couleur, die Pankower Gentrifizierungsgegner und die Kreuzberger Heimatschützer vergeblich nachjagen. Wir Schwaben sind nach Berlin gekommen, um hier zu arbeiten, Steuern zu zahlen, zu leiden und zu freuen uns – so wie alle anderen Menschen auch. Dafür erwarten wir keine Nächstenliebe, aber doch Toleranz, Duldung und Nachsicht bei den alteingesessenen Pankowern, Kreuzbergern, Charlottenburgern. Öffnung des Herzens, Öffnung der Ohren für das Fremde ist gefragt.

„Effata – apriti – öffne dich!“ diesen von Taubheit des Herzens heilenden, 2 Jahrtausende alten aramäischen Spruch möchte man all jenen entgegenrufen, die sich vergeblich an Reinheitsmythen festhalten und dem Fremden den Weg zum Brot oder Brötchen versperren.

Quellen:

Jenny White: Muslim Nationalism and the New Turks. Princeton University Press, Princeton 2013, Figure 5.1, Kindle-Ausgabe, Pos. 2651
Il Vangelo secondo Marco 7,34
Bild: Brötchenangebot in Kreuzberg, NP, am heutigen Tage: „Gouda Royalbrötchen 0,49“

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