In jedem Buch findet wohl auch der flüchtige Leser den einen oder anderen Satz, an dem sich sein Blick festliest: irgendetwas sperrt sich, der Fluss des ständigen Aufnehmens und Vergessens der nacheinander hintreibenden Sätze wird unterbrochen. Es ist, als verhakte sich ein Kahn in einer Wurzel am Grunde des Flusses. So erging es mir mit einem italienischen Satz. Ich fand ihn in den Lebenserinnerungen der Rossana Rossanda. Hier öffnet sie kurz den Vorhang in das Gespinst ihrer Erinnerungen hinein. Die italienische Kommunistin erzählt mit großer Wärme aus ihrer Kindheit und Jugend, berichtet von anregenden und begeisternden Erfahrungen der Zuwendung, des Zusammenhalts im Kampf gegen die Diktatur. Sie tritt der KPI bei, erreicht nach und nach höchste Ämter und wird Mitglied des Zentralkomitees. Aber je mehr sie sich in die Politik hineinbegibt, desto stärker verschwindet das Mädchen, die Frau Rossana. Nur manchmal bricht ein Bewusstsein für den Preis auf, den sie gezahlt hat, um sich ihrer Sache zu widmen. Oder war es etwas Ungeklärtes, etwas Verschwiegenes? Hier kommt nun der Satz, der mich in dem ganzen Buch am meisten berührt hat:
Andavo sui trent’anni, età decisiva e inquietante, e stavo fra pubblico e privato come una stentata mangrovia fra terra e mare.
„Ich ging auf die Dreißig zu, ein entscheidendes, verunsicherndes Alter, und stand zwischen öffentlich und privat wie eine kümmernde Mangrove zwischen Land und Meer.“
Rossana Rossanda: La ragazza del secolo scorso, Einaudi, edizione tascabile, Milano 2007, Seite 148
2 Responses to “Ein Satz Rossandas, an dem sich der Blick festliest”
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Ja, das frage ich mich auch – und eine Antwort könnte sein: Der Marxismus, oder auch der Kommunismus, eine machtvolle politische Bewegung des vergangenen Jahrhunderts, versprach so etwas wie eine brüderliche Gemeinschaft, häufig vorgelebt durch starke, charismatische Leitfiguren. Was mir noch auffällt: Rossanda entstammt, wie wohl die meisten anderen führenden Kommunisten und Marxisten weltweit, dem „Bürgertum“, nicht der „Arbeiterklasse“, und auch etliche Adlige – insbesondere in Russland – haben ganz wesentliche Beiträge zur kommunistischen Bewegung geliefert. Möglicherweise verhieß der Marxismus eben auch die Befreiung von einer als belastend empfundenen Herkunft, den Kontakt mit den „guten“, den „einfachen“ Menschen.
Da ich des Italienischen nicht mächtig bin, meine Lateinkenntnisse lassen mich höchstens italienische Zeitungen entziffern, habe ich die deutsche Übersetzung gelesen. Es ist ein schönes, stellenweise anrührendes Buch der großen alten Frau der italienischen Linken.
Immer wenn ich Menschen wie Rossana Rossanda in irgendeiner Form begegne, frage ich mich wie Intellektuelle jemals zu der Überzeugung gelangen konnten, daß der Marxisums mehr sein könne als eine philosophische Theorie.